Henry Lunn – Der Skipionier, der nie Ski fuhr

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Ein Gastartikel von Michael Lütscher

Ein methodistischer Missionar kommt in die Schweizer Berge, um die evangelischen Kirchen zu vereinigen. Folge: Er wird als Reiseagent zum wichtigsten Entwicklungshelfer des Skisports.

Der Engländer Henry Lunn studierte Medizin und Theologie und bildete sich zum methodistischen Pfarrer aus. Missionar hiess sein Berufswunsch. Er ging nach Indien – und kehrte schon nach einem Jahr zurück nach Grossbritannien, krank und unzufrieden mit seiner Kirche. Er sah sich nach einer anderen Kirche um, dann nach einer weiteren, aber nirgends fühlte er sich aufgehoben.[1] Da entdeckte er eine neue Mission: die Vereinigung der evangelischen, ja der christlichen Kirchen. Am besten, so fand er, liesse sich diese Frage in der Abgeschiedenheit einer Winterlandschaft  diskutieren.

Lunn wollte mit seinen Kirchenkollegen nach Norwegen reisen. Doch das Schiff, mit dem die Gesellschaft von England aus hätte in den weissen Norden reisen sollen, sank. Und dann ging auch das Ersatzschiff unter. Kein gutes Omen. Und so entschied sich Lunn, in die Schweiz zu fahren.[2] Im Januar 1892 versammelte er in Grindelwald im Berner Oberland 26 Kirchenleute.[3] Zur Vereinigung der verschiedenen Kirchen kam es nicht, obwohl er den Anlass mehrere Jahre wiederholte.

Dafür fand er etwas, wonach er nicht gesucht hatte. Auf einem Spaziergang durch die verschneite Landschaft kam ihm bei einem Gespräch eine Idee: Reisen «als Mittel, um Rassenkonflikte abzubauen». Henry Lunn gründete eine Organisation, die Educational Travel Movement hiess – Erziehung durch Reisen.[4] Erste Erfahrungen mit dem Organisieren von Gruppenreisen hatte er mit dem Grindelwaldner Anlass gerade gesammelt. Die ersten Reiseziele des Educational Travel Movement hiessen Rom und Jerusalem.

Henry Lunn setzte auf grosse Gruppen und bot all-inclusive Reisen zu tiefen Preisen an.[5] Wenn es ihm und seinen Kirchenkollegen in den verschneiten Bergen so gut gefiel – wieso nicht auch anderen Leuten, solchen, die das Abenteuer suchten? Ein «Paradies auf Erden, beschwingender als der beste Champagner»: So habe sein Vater den Hochwinter in den Bergen empfunden, schrieb später sein Sohn Arnold.[6]

Im Dezember 1898 brachte Lunn eine Gruppe von englischen Skifahrern nach Chamonix in den Savoyer Alpen – die erste Ski-Pauschalreise. Allerdings gab es ein Problem: Sport trieben jene Engländer, die Geld hatten. Und die hatten ein Standesbewusstsein. Eine Pauschalreise mit dem Plebs war nicht das, was sich solche Menschen unter Ferien vorstellten.[7]

Henry Lunn ging 1902 zum Rektor von Harrow, einer der «Public School» genannten privaten Mittelschulen Englands. Dieser propagierte bei seinen Schülern Winterferien in der Schweiz. Ende 1902 reisten 400 Engländer nach Adelboden, wo Lunn Unterkunft und Aktivitäten organisiert hatte.[8] Auch lud er zwei anglikanische Bischöfe ein.[9] Das konnte dem Image der Veranstaltung nicht schaden, ausserdem hatte er ja noch immer eine religiöse Mission.

Bei diesem ersten Adelboden-Aufenthalt vertrieben sich die meisten Gäste mit Schlitteln oder Schlittschuhlaufen die Zeit.

Nur ganz wenige wagten sich mit Ski in die weissen Hänge.[10] Das änderte sich, als Lunn ein Jahr später den mit einer Schottin verheirateten deutschen Skilehrer Willi Rickmers verpflichtete. Dieser brachte viele Frauen und Männer dazu, das Skifahren zu erlernen. «Zehn Mal so viele» wie im Vorjahr wagten sich auf Ski, erinnerte sich der damals 15-jährige Arnold Lunn.[11]

Adelboden, das bislang nur Sommerkurort war, wurde durch Lunns Pauschalreise zur Winterdestination. Und aus der Reisegruppe wurde 1903 der Public School Alpine Sports Club: Klubreisen mit garantierter Exklusivität. Als Präsidenten des Klubs gewann Lunn den Rektor von Eton, der renommiertesten der Public Schools, als Vizepräsidenten den in den Adelsstand erhobenen Feldmarschall Roberts – den Earl of Kandahar, der seinen Namen der afghanischen Stadt entlehnte, die er als Heerführer erobert hatte.[12]

Um die Exklusivität auch vor Ort zu garantieren und eine allzu nahe Begegnung mit anderen Gästen zu vermeiden, mietete Lunn ganze Hotels. Naturgemäss war dies nur in noch wenig entwickelten Orten möglich. Lunn machte Mürren (wo er das «Palace» gleich kaufte) und Wengen im Berner Oberland zu Wintersportplätzen.

Bald schickte er jeden Winter Tausende von Briten in die Schweiz zum Skifahren – auch nach Kandersteg im Berner Oberland, Champfèr, Klosters und Lenzerheide in Graubünden, Morgins und Montana im Wallis. Auch Grimmialp im Diemtigtal, Goldiwil über dem Thunersee sowie Ballaigues und St. Imier im Jura, die heute als Wintersportorte fast vergessen sind, gehörten zu Lunns Zielen.[13] Für den Winter 1913/14 hatte seine Firma Alpine Sports Ltd. nicht weniger als 32 Hotels in der Schweiz gemietet.[14]

Ironie der Geschichte: Henry Lunn selbst stand nie auf Ski. Oder wie es sein Sohn Arnold festhielt: «Wenige Skifahrer hatten mehr Einfluss auf die Verbreitung des Skifahrens als mein Vater, der nie Ski fuhr».[15] Dass er sich überhaupt für diesen Sport interessiert habe, hätte zwei Gründe gehabt: «Profit und «sein ältester Sohn». Arnold, dieser Sohn, war ein fanatischer Skifahrer, der später zu einem Pionier des alpinen Skirennsports werden sollte.[16] Als Arnold Lunn 1911 in Montana im Wallis sein erstes Skirennen organisierte, fragte der Vater Earl Roberts of Kandahar, den Vizepräsidenten seines Public School Alpine Sports Club, ob er dem Rennen seinen Namen leihe. Jawohl, fand dieser, womit «Kandahar» zu einem wichtigen Begriff im Skirennsport wurde. Denn Arnold Lunn gründete in den 1920er Jahren zuerst in Mürren in der Schweiz den Kandahar Ski Club und später in St. Anton in Tirol mit Hannes Schneider die Arlberg-Kandahar-Rennen.

Die einzigen Dinge, so erinnerte sich Arnold Lunn, die seinen Vater «wirklich interessierten», waren: «die deutsch-englische Freundschaft, die kirchliche Wiedervereinigung und der Völkerbund».[17] Wegen seines Einsatzes vorab für die deutsch-englische Verständigung, aber auch für seine Verdienste als Unternehmer, wurde Henry Lunn 1910 geadelt.[18]

Sir Henry Lunn starb 1939, 80-jährig, ein halbes Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Der Völkerbund hatte versagt, die Kirchen waren so gespalten wie einst, obwohl Lunn seine Vereinigungstagungen in den 1920er-Jahren wieder hatte aufleben lassen. Und den Orden des Roten Adlers, den ihm der deutsche Kaiser Wilhelm II. einst für seine Bemühungen um die Völkerverständigung verliehen hatte, hatte er schon nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs zurückgegeben.

Mit seinen Engagements und grosszügigen Spenden erreichte Henry Lunn, wie sein Sohn Arnold versicherte, ein letztes Ziel: Nicht als reicher Mann, sondern als guter Methodist ohne Vermögen zu sterben.[19]

[1] Stella Wood, Sir Henry Simpson Lunn, ODNB.

[2] Arnold Lunn, Mountain Jubilee, Eyre & Spottiswoode, London1943, S. 10/11.

[3] Susan Barton, Healthy Living in the Alps: The Origins of Winter Tourism in Switzerland, 1860-1914, Manchester UP 2008, S. 107

[4] Henry Simpson Lunn, How to Visit Switzerland: A Guide-book to the Chief Scenes of Interest in Switzerland, London: H. Marshall and Son, London 1896, S. 6.

[5] Roland Huntford, Two Planks and a Passion, S. 332.

[6] Arnold Lunn, Mountain Jubilee, Eyre & Spottiswoode, London 1943, S. 10/11.

[7] Roland Huntford, Two Planks and a Passion, Continuum, London 2008, S. 332.

[8] Ebenda.

[9] Englischer Wintersport in der Schweiz, in: Neue Zürcher Zeitung, 14.2.1909.

[10] Arnold Lunn, A History of Skiing, Oxford University Press, London 1927, S. 142

[11] Ebenda.

[12] Englischer Wintersport in der Schweiz, in: Neue Zürcher Zeitung, 14.2.1909.

[13] Arnold Lunn, The Story of Ski-ing, S. 37; Inserat in: Vivian Caufeild, How To Ski.

[14] Inserat in: Vivian Caulfeild, How To Ski. J. Nisbet & Co., London 1913.

[15] Arnold Lunn, Mountain Jubilee, Eyre & Spottiswoode, London 1943, S. 10..

[16] Arnold Lunn, The Story of Ski-ing, S. 37.

[17] Ebenda.

[18] Arnold Lunn, The Story of Ski-ing, Eyre & Spottiswoode, London 1952, S. 38

[19] Ebenda; Obituary: Sir Henry Lunn, in: The Times, 20.3.1939

Über Michael Lütscher

 

Der Autor und ich haben eins gemeinsam – wir lieben beide den Winter! Für Michael Lütscher eine wichtige Motivation für sein Buch „Schnee, Sonne und Stars“, welches 2014 erschien und in dem er den Ursprüngen des Wintertourismus nachgeht. Der Gastartikel ist ein Auszug daraus.

Geboren wurde Michael Lütscher 1962, lebt und arbeitet in Zürich und ist nach eigener Aussage  „lebenslanger Journalist“. Als solcher hat er sich schon mit vielen Themen beschäftigt, ob als Experte für Popmusik oder als Redakteur für Reportagen und Analysen.  Deshalb nennt er sich auch einen „Allgemeinpraktiker in Gegenwartsfragen“. Seit zehn Jahren befasst er sich als Sachbuchautor vorrangig mit historischen Themen.

Als weitere Passion nennt Michael Lütscher „Essen“ – sehr sympathisch (da haben wir sogar zwei Dinge gemeinsam ?).

Kandersteg ist eine weitere Destination, die zu dieser Zeit in der Schweiz als Wintersportort entstand. In diesem Artikel erzähle ich von seiner touristischen Entwicklung und meiner persönlichen Erfahrung, als ich im Januar die „Belle Epoque“-Woche dort besucht habe.

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Zeige 2 Kommentare
  • Annette Evans
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    Das ist ein wirklich interessanter Artikel, viele Dank liebe Grete! Ich habe noch nie von Sir Henry Lunn gehört – „europäische Völkerverständigung im Schnee“ um die Jahrhundertwende – eine fortschrittliche Idee – dank solcher Artikel wird dies wieder bekannter – wichtig, gerade in Zeiten des Brexit!!

    • Grete Otto
      Antworten

      Danke für Dein Feedback, da hast Du vollkommen recht (Brexit…)! Es ist immer wieder interessant, über Persönlichkeiten der Zeitgeschichte und ihre Motivationen zu lesen und ich bin Michael Lütscher für seine Geschichte zu Sir Henry Lunn sehr dankbar!

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