Die Prinzregentenmorde (Petra Aicher)

 In Historischer Krimi

Inhalt:

München 1913: Die junge Anna vom Lande hat eine große Chance – nach ihrer Schwesternausbildung eine Stelle als Assistentin in der Gerichtsmedizin zu bekommen. Die sie übrigens nutzt! Gleich ihre erste Obduktion ist eine bekannte Leiche – oder sollte man sagen ehemals? Denn die Schauspielerin Adele Röckl hatte ihre besten Tage bereits hinter sich. Nun wurde sie tot aus der Isar gefischt. Mord oder Selbstmord ist hier die Frage? Kurz danach lernt Anna einen Herrn kennen, den sie einige Fakten aus der Obduktion anvertraut. Bald darauf findet sie besagte Fakten in einem Artikel des „Münchner Generalanzeiger“, den wohl wer geschrieben hat? Jener besagter Herr, der zum einen Klatschreporter, zum anderen (Klatsch-)zeitungsverleger und eigentlich ein reicher unglücklich verheirateter Adeliger ist. Titel heiratete Geld halt. Im Verlauf der Handlung kommt man sich näher und findet dabei überraschende Fakten über Adele Röckl, ihren Familienstand und ihre Geschäfte heraus. In weiteren Rollen tauchen auf: Ein unehelicher Sohn und ein intriganter und erfolgloser Ehemann.
Nebenbei erfährt man einiges über das adelige unglückliche Familieneben von Weynand/ Nachtwey und die arme aber durchweg gute und anständige Familie von Anna, welche überhaupt ganz unfehlbar ist. Am Ende, kurz vor Ausbruch des 1. Weltkrieges klärt sich alles auf – wie, das lest am besten selbst nach! Kleiner Tipp – das Klischee lässt auch hier grüßen.

PS: Den Titel „Die Prinzregentenmorde“ habe ich schlichtweg nicht verstanden. Vielleicht weil der Prinzregent während der Handlung stirbt (allerdings eines natürlichen Todes)? Oder weil er spannungsverheißend klingt und gut auf dem Cover aussieht…

Textauszug (S.31-39):

»Sind Sie wirklich sicher, dass Sie sich das zutrauen?«, erkundigte sich Doktor Gernhuber. Seit er und Anna sich die weißen Kittel angezogen und sich in den Autopsiesaal begeben hatten, hatte sein Tonfall sich merklich verändert, von ärgerlich zu besorgt. Seine Blicke glitten zwischen Anna und dem marmornen Tisch, auf dem die Leiche unter ihrem weißen Tuch lag, hin und her. »Wenn Sie mir jetzt umkippen, muss ich womöglich erst Sie verarzten, bevor ich die arme Adele Röckl aufschneiden kann.«
Womit er vermutlich die Leiche unter dem Tuch meinte.
Anna blickte sich in dem Raum um. Was für ein Unterschied zu dem engen, dunklen Kämmerchen, in dem die Schwestern im Rotkreuzklinikum den Verstorbenen den letzten Dienst erwiesen, sie gewaschen und für die Aufbahrung hergerichtet hatten. Hier flutete das Licht ungehindert durch die fast wandhohen Bogenfenster, die medizinischen Instrumente glänzten sauber, an den Wänden standen die Behälter für die inneren Organe, und lange Reihen von Aktenmappen dokumentierten die Arbeit früherer Untersuchungen. Boden und Wände waren weiß gefliest, alles wirkte neu und ordentlich.

Der Gedanke, einen Menschen aufzuschneiden, erschien ihr in diesem Raum weniger beängstigend. Er wirkte wie ein Operationssaal, nicht wie ein Ort für Leichen. So, als würde man die Menschen hier behandeln, nicht auseinandernehmen. So, als wären sie noch am Leben und als wollte man sie, indem man ihnen Wunden zufügte, von einem größeren Leiden heilen.
»Selbstverständlich möchte ich meine Arbeit bei Ihnen beginnen«, sagte Anna. Etwas fester und entschlossener, als sie sich fühlte, aber aufrichtig. Die Skepsis des Arztes machte sie eher trotzig, statt sie zu verunsichern. Er hatte ihre Fähigkeiten in Zweifel gezogen, er würde sich noch wundern!

»Na schön.« Doktor Gernhuber deutete auf den Autopsietisch. »Versuchen wir es. Ohne Ihre Assistenz wüsste ich nicht, wie ich die Obduktion überhaupt durchführen sollte. Und ich werde Sie nicht schonen. Also los, enthüllen Sie unsere heutige Arbeit.«
Anna trat an den Tisch und schlug das Leichentuch zurück.
Der Anblick war weniger erschreckend, als sie befürchtet hatte. Vielleicht hatte die Haut eine etwas andere Färbung als bei den Leichen, die sie im Krankenhaus gesehen hatte, vielleicht war das Gesicht der Toten ein wenig aufgedunsen. Alles in allem sah diese Wasserleiche aber gar nicht so schlimm aus. Keine Entstellungen, keine Zerstörung durch Tiere, keine Algen in den Haaren oder Ähnliches, womit Anna heimlich gerechnet hatte.
Einfach eine tote Frau. Vielleicht vierzig Jahre alt, schlank, mit schweren Brüsten und vollen Schenkeln, aber sehr schmalen Fesseln und zierlichen Händen und Füßen.

Leichenflecken waren auf der Oberseite keine zu sehen. Der Geruch überraschte sie als Krankenschwester nicht.
»Wir haben Glück«, sagte Doktor Gernhuber prompt. »Die Leiche war nicht lange im Wasser.« Er schaute auf Anna. »Ihnen geht es gut?«
»Ja, Herr Doktor. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich eine Tote sehe. Nur die erste Wasserleiche. Ich hatte es mir viel schlimmer vorgestellt.« Anna musterte das Gesicht der Frau. Im Tod erschlafften die Muskeln, hatte man ihr in der Lehrzeit beigebracht, darum war kein Gesicht fähig, den Ausdruck beizubehalten, den es in seinen letzten Minuten gezeigt hatte. Alle Gefühle, Leid, Hass, Angst, Verzweiflung, endeten mit dem Tod. Alle Toten sahen friedlich aus.
Sogar Selbstmörder. Anna dachte an Tante Sophie.
»Glauben Sie, dass sie sich ertränkt hat, Herr Doktor?«, erkundigte sie sich unwillkürlich. Gernhuber lächelte unmerklich, bevor er mit der Zunge schnalzte.
»Wir sind nicht zum Glauben hier, Fräulein Zech.« »Selbstverständlich nicht.« Anna wurde ein wenig rot. »Wir hier wollen herausfinden, woran sie gestorben ist.
Das ist unsere Aufgabe. Denken Sie immer daran, dass wir bei null beginnen müssen. Nur weil die Tote aus dem Wasser gezogen worden ist, muss sie nicht dort gestorben sein. Jemand könnte sie erstochen und danach ins Wasser geworfen haben. Sie hatte vielleicht einen Herzinfarkt und ist ohnmächtig in die Isar gefallen. Das Wichtigste bei unserer Arbeit ist, unvoreingenommen an die Dinge heranzugehen, selbst wenn ein Fall uns klar erscheint.«
»Natürlich, Herr Doktor.«
Hinter Gernhuber schepperte etwas. Ärgerlich fuhr der Arzt herum. »Lobinger, sind Sie das?«
Ein Mann tauchte in der Tür zum Nebenzimmer auf. Er war fast schäbig gekleidet und mochte nur wenig jünger sein als Doktor Gernhuber. Als er zögernd näher trat, brachte er eine Wolke aus Alkoholgeruch mit sich.
»Zu Diensten, Herr Doktor.« Er lallte leicht.
Doktor Gernhuber verdrehte die Augen zur Saaldecke. »Das möchte ich sehen, dass Sie einmal wirklich dienstbereit sind. Sie riechen wie eine Schnapsfabrik. Fräulein Zech, das ist Josef Lobinger. Unser hiesiges Faktotum. In Wirklichkeit freilich eher ein Facnullum. Wo sind Sie gewesen, Lobinger? Warum haben Sie mich nicht früher verständigt? Wo steckt Dr. Schmidt?«
»Wenn ich’s nur wüsst, Herr Doktor.« Lobinger fuhr sich über den Mund, er schabte dabei hörbar über die Bartstoppeln auf den unrasierten Wangen. »Müssen S’ schon entschuldigen, Sie waren ned da, und der Schmidt is’ ned da, und überhaupt keiner war da, und allein mit der Leich’ wollt ich halt auch ned bleiben. Also bin ich zum Frühstücken hinüber ins Café. Gell?«
»Hoffnungslos ist es mit Ihnen.« Gernhuber winkte ab. »Ihr Frühstück würde ich Ihnen ja vergönnen, wenn es aus etwas anderem als Obstbrand bestehen würde.«
»Is’ halt das Einzige, was drinbleibt, Herr Doktor, wenn ich Ihnen assistieren soll.«
»Hoffentlich erweisen Sie sich für mich als eine größere Hilfe als dieser Kerl, Fräulein Zech.« Doktor Gernhuber holte von einem der Wandregale Block und Bleistift. »Hören Sie, denken Sie, Sie können nebenher auch ein wenig Protokoll führen? Normalerweise würde das der zweite Obduzent machen, aber Herr Doktor Schmidt … Irgendwie werden wir es schon hinbekommen. Länger warten können wir nicht mehr. Wir werden hin und wieder unterbrechen, damit ich Ihnen diktieren kann. Schreiben Sie einfach mit, was ich sage, und beobachten Sie, was ich mache. Zwischendurch werden Sie mir assistieren müssen, denn mit dem da«, er warf einen bitterbösen Blick auf Lobinger, »ist nicht zu rechnen. Der macht sich in die Hosen, sobald er in der Nähe einer Leiche ist.«
»Ich werde tun, was ich kann, Herr Doktor«, sagte Anna.
»Schön, schön.« Gernhubers Benehmen hatte sich völlig gewandelt. Als ob er im Autopsiesaal ein anderer Mensch war. »Sie sind ein mutiges Mädchen, das sehe ich schon.« So arrogant und ärgerlich er sich in der Eingangshalle benommen hatte, so bedächtig und umgänglich schien er jetzt. »Wie ich sehe, haben Sie sich wenigstens aufraffen können, die Leiche zu entkleiden, Lobinger. Brav, brav.«

»Will ich meinen, Herr Doktor.« Lobinger hatte offenbar beschlossen, die Ironie im Tonfall des Arztes völlig zu überhören. »Mein Frühstück hab ich mir damit sauer genug verdient.«
Doktor Gernhuber setzte seine Brille auf und trat neben den Obduktionstisch. »Ihr Mittagessen werden Sie sich später damit verdienen, mir dabei zu helfen, die Leiche umzudrehen«, ergänzte er trocken. »Dafür hat unser Fräulein Zech noch nicht genug Erfahrung. Aber vorher halten wir den ersten Eindruck fest.« Er schaute Anna an. »Normalerweise müsste man uns sofort hinzuziehen, sobald die Leiche aufgefunden wird, denn auch die Fundumstände können viel verraten. Natürlich passiert das so gut wie nie, weil jeder sofort die Nerven verliert und nur daran denkt, den Toten von seinem Grundstück zu bekommen. Wir sehen also viel zu häufig die Toten erst, nachdem wichtige Indizien bereits zerstört wurden. Aber das können wir nicht mehr ändern. Nehmen Sie jetzt den Block, Fräulein Zech. Beginnen wir mit einer Bestandsaufnahme der äußerlichen Verletzungen. – Lobinger, wagen Sie es nicht, den Raum zu verlassen! – Ich sehe Abschürfungen an den Unterarmen und Händen. Dem Anschein nach postmortal, vielleicht schleifte der Körper über den Grund. Keinerlei Hypostasen. Können Sie sich denken, was uns das sagt, Fräulein Zech?«

Diese Frage war einfach. »Leichenflecken entstehen, wenn das Blut noch flüssig ist und sich allmählich an der Unterseite des Körpers sammelt. Unsere Tote liegt auf dem Rücken, also sammelt das Blut sich im Moment dort.«
»Richtig. Das Blut gerinnt nach und nach im Verlauf von vierundzwanzig bis dreißig Stunden. Im Moment scheint es noch sehr flüssig zu sein. Die obere Partie der Leiche ist beinahe blutleer. Wir können also daraus schließen, dass unsere arme Frau Röckl noch nicht allzu lange tot ist.«

Er beugte sich über den Seziertisch und rückte seine Brille zurecht. »Diese Verletzungen werden wir uns noch genauer ansehen. Die meisten sind vermutlich entstanden, als die Leiche in der Isar trieb. Darunter scheinen mir allerdings ältere, bereits vernarbte Kratzer zu sein, Druckstellen und Hämatome, das könnten Abwehrverletzungen sein.«
Anna schrieb und achtete gleichzeitig darauf, wovon der Arzt sprach. Doktor Gernhuber schien nach einem bestimmten Schema vorzugehen; er hob den Arm der Leiche und probierte, inwieweit die Glieder sich noch bewegen ließen. »Rigor mortis noch im Anfangsstadium. Deckt sich mit dem Blutgerinnungszustand. Man sieht übrigens noch Spuren von Wimperntusche und Rouge auf den Wangen.« Er machte einen Schritt zurück und musterte das Gesicht der Toten beinahe zärtlich. »Arme Adele. Wo bist du gewesen, hm? Warst du heute Nacht womöglich noch tanzen?«

»Wer ist die Frau denn, Herr Doktor?«, fragte Anna und verbesserte sich: »Ich meine, wer war sie?«
»Benutzen Sie ruhig das Präsens«, sagte Gernhuber. »Ich finde es passend. Für uns, die wir ihre letzten Stunden rekonstruieren wollen, sind die Toten noch nicht Vergangenheit. Der Name unserer Patientin wird Ihnen nichts sagen, Fräulein Zech, Sie sind dafür viel zu jung. Aber die meisten Männer in meinem Alter werden sie kennen. Das ist Adele Röckl, sie war einmal eine große Diva auf Münchens Theaterbühnen. Ich habe sie als Salome gesehen; sie war hinreißend. Waren Sie mal im Theater, Lobinger?«
»Mein Lebtag lang nicht, Herr Doktor. Aber eine Postkarte von der Röckl hatte ich über meinem Bett hängen. Auf dem Bild hatte sie auch nicht viel mehr an als jetzt.«

»Lobinger!« Doktor Gernhuber machte eine entschuldigende Geste in Annas Richtung, dann eine zweite, ganz ähnliche in Richtung der Toten, ehe er die Untersuchung wieder aufnahm. »Hm. Das ist … hässlich.« Er warf einen unruhigen Blick auf Anna. »Multiple Hämatome an den Oberschenkeln. Fräulein Zech …«
Anna konnte nicht verhindern, dass sie ein wenig rot wurde. »Ist schon gut, Herr Doktor. Im Krankenhaus sieht man manchmal auch sehr hässliche Dinge. Ist sie … hat man sie …«

»Wir werden den Vaginalbereich später genau untersuchen. Aber es sieht zumindest nach äußerst heftigem Geschlechtsverkehr aus. Möglicherweise erzwungenem. Bestimmt nichts, womit ich Sie gleich an Ihrem ersten Arbeitstag konfrontieren wollte. Eigentlich hätte ich Sie noch nicht einmal mit einer Obduktion konfrontieren wollen. Oh. Das ist ja wirklich interessant. Kommen Sie her, Fräulein Zech. Sehen Sie die Narbe hier, oberhalb des Schambereichs? Wissen Sie, was das ist?«
»Eine Kaiserschnittnarbe, nicht wahr?«
»In der Tat. Lobinger, haben Sie gewusst, dass die Röckl ein Kind hatte?«
»Da hat nie einer was g’sagt davon.«

»Mir ist es auch neu. Aber freilich, bei ihrem Gewerbe wundert es einen nicht. Machen Sie eine Notiz, Fräulein Anna. Das könnte die Kollegen von der Polizei interessieren, wenn es darum geht, die Familie der Frau zu ermitteln. Und dann lassen Sie mal sehen, was Sie notiert haben, bevor wir weitermachen … Gut, gut, das wird’s tun für unsere Zwecke. Schöne Schrift haben Sie. Lobinger, kommen Sie her, helfen Sie mir, die Leiche umzudrehen, damit wir nach Verletzungen am Rücken schauen können. Und dann wird es ernst für Sie, Fräulein Anna, dann müssen wir richtig anfangen. Legen Sie schon einmal die Skalpelle bereit, sind Sie so gut? Und sagen Sie um Gottes willen, wenn es Ihnen zu viel wird. Mir sind schon Studenten weggekippt, als sie zum ersten Mal einen T-Schnitt gesehen haben.«

Das zumindest, da war Anna sicher, würde ihr nicht passieren. Wenn sie bedachte, mit welchem Widerwillen sie heute hierher gekommen war, wunderte sie sich fast über sich selbst. Die Arbeit schien ihr nicht nur interessant, sie schien ihr wichtig. Und richtig.

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***

Gretes Fazit

(für alle, die…mögen) :

+ humoriger Münchner Lokalkolorit

+ Krimihandlung eher Nebensache

+ klischeehafte Darstellung armer (gut) und reicher (böse) Verhältnisse

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Über die Autorin:

Petra Aicher, geboren 1972, ist Münchnerin mit ganzem Herzen und recherchiert die Geschichte und Geschichten ihrer Stadt, wenn ihre Zeit es zulässt.

Der Kriminalroman ist 2023 im Ullstein Verlag erschienen (Ullstein Taschenbuch, 432 Seiten, ISBN 978-3-548-06400-0).

In diesem Überblick findet Ihr alle bisher vorgestellten historischen Krimis – die Handlungen sind u.a. in Wien, Berlin und Norddeutschland angesiedelt.

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