Zukunftsfantasien um 1900

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ein Gastbeitrag von Nils Martin Müller

Zukunftsvisionen haben die Menschen schon immer fasziniert und beschäftigt. Ob es nun der Flug zu anderen Planeten, neue Verkehrsmittel, Nahrungsmittel, Wohnmodelle oder die Erschaffung von Maschinenmenschen oder Roboter, wie wir heute sagen, sind.

Die Ausstellung „Reaching Out for the Future“ des Berliner Bröhan Museum geht der Frage nach, welche Zukunftsfantasien es ab 1900 gab. Nils Müller, der Kurator der Ausstellung, von dem der folgende Artikel stammt, hat mich durch die Ausstellung geführt und viele interessante Fakten zu den damaligen Zukunftsvorstellungen erzählt, die er in diesem Artikel noch einmal für die Leser von Bürgerleben zusammenfasst. Vielen Dank dafür!

Der größte Traum der Menschheit war es seit jeher, von der Erde in den Weltraum und zum Mond zu fliegen. Bevor dieser Traum Realität wurde, fand der erste Raketenstart auf der Kinoleinwand in Georges Méliès „Le Voyage dans la Lune“ (1902) statt. Expeditionen zum Mond, Besiedlung anderer Planeten, Unterwasserwelten und vollautomatisierte Städte – an der Schwelle zum 20. Jahrhundert schien die Welt voller Verheißungen. Das moderne Maschinenzeitalter hatte begonnen und hielt scheinbar unerschöpfliche Möglichkeiten bereit. Die Ausstellung „Reaching Out for the Future. Zukunftsfantasien um 1900“ (noch bis zum 27. Oktober 2019) im Berliner Bröhan-Museum wirft in seiner siebten „Blackbox“-Ausstellung einen Blick auf Zukunftsvisionen in der Kunst und populären Grafik um 1900. Retrofuturistische Bilder, Filme, Bücher, Kostümentwürfe und Filmplakate zeugen von dem unaufhaltsamen Optimismus und dem romantischen Wunsch nach fantastischen Welten.

Mit der Weltausstellung in Paris 1900 waren die aktuellen Entwicklungen in Technik, Industrie und Gesellschaft nicht mehr aufzuhalten. Die Anwendung von Elektrizität, die Erfindung des Automobils und der Luftschifffahrt bestärkten den Fortschrittsglauben und eröffneten neue Dimensionen. Die erste Boomphase der Zukunftsträumerei war die Zeit der Hochindustrialisierung. Zu diesem Zeitpunkt waren Zukunftsvisionen fast ausschließlich von Romanautoren verfasst worden. Die Abenteuerromane „20.000 Meilen unter dem Meer“ (1869) und „Reise um den Mond“ (1870) des französischen Schriftstellers Jules Verne spiegeln die Sehnsucht nach unerforschten Welten und den Kindheitstraum nach den Sternen zu greifen wider. Die literarische Auseinandersetzung mit technischen Utopien traf auf ein breites Publikumsinteresse. Einige dieser Romane wurden zur Vorlage und Inspirationsquelle für Zeitgenossen und nachfolgende Generationen. Neben Verne gilt der deutsche Schriftsteller Kurd Laßwitz zu den Begründern der modernen Wissenschaftsdichtung. Reisen ins Erdinnere, zum Mond oder durch das Sonnensystem, diese Zukunftswelten wurden dem Leser nicht nur mit Worten, sondern insbesondere durch Illustrationen vor Augen geführt.

Beflügelt von literarischen Zukunftsvisionen schufen Illustratoren und Karikaturisten kühne Prophezeiungen und fantastische Zukunftsbilder. Ihre futuristischen Zeichnungen waren beliebte Sammelbilder, die als Papierkarten in Zigaretten- oder Schokoladenpackungen in Umlauf gebracht wurden. Die Idee, Bilder zur Verkaufsförderung von Ware einzusetzen, geht auf den Kölner Unternehmer Franz Stollwerck zurück. Namenhafte Künstler wie Otto Eckmann, Hans Baluschek, Walter Leistikow, Max Liebermann, Franz Skarbina und Heinrich Vogeler entwarfen im Auftrag des Kölner Schokoladenproduzenten Sammelbilder für Stollwerck-Sammelalben. Der „Verkehr im Jahre 2000“ oder die Zukunftsvisionen aus dem Jahr 1912 in der Serie „Wie unsere zukünftigen Enkel im Jahre 2012 leben“ der Firma Chocolat Lombart sollten den Kunden den Schokoladengenuss schmackhaft machen.

40 Jahre bevor Neil Armstrong am 21. Juli 1969 als erster Mensch den Mond betrat, schickte Fritz Lang die österreichische Schauspielerin Gerda Maurus in der Hauptrolle „Frau im Mond“ zu dem Trabanten. Fritz Lang gilt als einer der größten Regisseure der Filmgeschichte. Seine Filme aus den 1920er Jahren waren in ihrer Ästhetik, der Aufnahme- und Tricktechnik sowie in ihrer Erzählweise bahnbrechend. Sie prägen das Kino bis heute.

Fritz Lang war aber auch ein Perfektionist. In seinen Filmen musste alles stimmen. „Frau im Mond“ gilt als erster wissenschaftlicher SF-Film der Welt, da das Thema „Reise zum Mond mittels Rakete“ mit wissenschaftlichen Beratern entstand, die darauf achteten die Verfilmung nach damaligem Wissensstand möglichst realistisch aussehen zu lassen. Für „Frau im Mond“ engagierte Lang deshalb einen der Pioniere der deutschen Raketenforschung als technischen Berater – Hermann Oberth, der auch als „Vater“ der Weltraumfahrt bezeichnet wurde. Die Faszination für wissenschaftliche Erkenntnisse und die Visualisierung des technischen Fortschritts wird eindrucksvoll vor Augen geführt. Für diese frühe Utopie erfand Fritz Lang den Countdown, der später von der NASA übernommen wurde. Eindrucksvoll ist aber auch das großformatige Filmplakat.

Für den frühen Science-Fiction-Film gestaltete der Gebrauchsgrafiker Alfred Herrmann das Plakat. Herrmann, der für die UFA (Universum Film AG) Werbebroschüren, Anzeigen und Filmplakate gestaltete, entwarf die aufsteigende Rakete. Formal reduziert, elegant im Stil des Art Deco entwarf Herrmann, der in den 20er Jahren zu den meist beschäftigten deutschen Filmplakat-Grafikern gehörte, die stromlinienförmig rasende Mondrakete. „Frau im Mond“, nach der gleichnamigen Romanvorlage von Thea von Harbou, ist einer der letzten deutschen Stummfilme.

Auch wenn der Mond die Fantasie vieler Menschen beflügelte, richtete sich der Blick doch immer wieder auf die Erde und deren Zukunft. Die wachsenden Städte Ende des 19. Jahrhunderts verdeutlichten den Menschen die Geschwindigkeit des Wandels. Der Verkehr in der Zukunft war ein beliebtes Postkartenmotiv, welches intensiv und variantenreich behandelt wurde. Um Verkehrsprobleme zu lösen, verlegte man den Verkehr in unterschiedliche Ebenen. Ballone, Schwebebahnen, Luftschiffe und Flugapparate erfüllen den Luftraum, während auf den Straßen detailfreudiges Durcheinander herrscht. Bildpostkarten mit derart fantastischen Stadtbildern erschienen 1908 nahezu in jeder Stadt und zählten zu den gefragtesten Souvenirs.

Die Bildpostkarte erlebte damals den Höhepunkt an allgemeiner Beliebtheit, Umfang der Produktion und ästhetischem Aufwand, der seitdem wohl kaum wieder übertroffen wurde. Rasant wie das Lebenstempo der Metropole, wie die Flut technischer Erfindungen, breitete sich die Postkarte als neue Kommunikationsform aus.

Allein im Postbezirk Berlin wurden 1890 ungefähr 19 Millionen Karten verschickt. Zehn Jahre später waren es bereits etwa 72 Millionen. Die Fotomontage war ein beliebtes Verfahren bei der bildhaften Umsetzung utopischer Fantasien. Dabei wurden Versatzstücke verschiedener Fotografien und grafische Elemente wie Farbe und Schrift zu einem neuen Ganzen zusammengestellt. Auf humoristische Weise zeigen einige der Ansichtskarten überflutete Städte wie „Wenn Paris am Meer wäre“ oder „Berlin als Seestadt“.

Der Fotokünstler Georg Busse verwandelt die kaiserliche Reichshauptstadt in eine Seestadt, in der die mondäne Gesellschaft an Kanälen flaniert. Titel der Karten: „Der neue Hafen am kaiserlichen Schloss“, „Der neue Hafen am Brandenburger Tor“ und „Venetianische Gondeln vermitteln den Verkehr an der Seufzerecke“. Diese Fotomontagen wurden zum 1. April als Scherz-Aufnahmen in der Zeitung abgedruckt. Hier sind keine Überschwemmungen oder Flutkatastrophen dargestellt, sondern eine planvolle Umgestaltung des Stadtbildes.

Vieles, was die Menschen von der Zukunft erwarteten, ist bis heute nicht eingetreten. Zu große Hoffnungen setzte man etwa um 1910 in die Prophezeiung von Stickstoffdüngern. Turmhohe Kohlköpfe und tonnenschwere Kartoffeln würden den Jahresbedarf einer vielköpfigen Familie decken, so glaubte man damals.

Als technisches Wunderwerk der gastronomischen Zukunft eroberten Automaten-Restaurants Anfang des 20. Jahrhunderts die Großstädte. Das weltweit erste Selbstbedienungsrestaurant eröffnete 1896 in der Leipziger Straße in Berlin. Die luxuriöse und opulent verzierte Einrichtung des neuartigen Gastronomiebetriebs stand im Widerspruch zum fehlenden Servicepersonal. Dies mag ein Grund gewesen sein, weshalb sich das Restaurantkonzept nicht dauerhaft gehalten hat.

Auch im frühen Film wurden Zukunftsfantasien intensiv und variantenreich behandelt. Im Stil des Expressionismus entwirft Regisseur Fritz Lang sein monumentales Science-Fiction-Melodram Metropolis als zweigeteilte Großstadt der Moderne. Zu den bekanntesten Roboterdarstellungen der Stummfilmära gehört der weibliche Maschinenmensch in Fritz Langs „Metropolis“. In der Hauptrolle die damals erst 17-jährige Brigitte Helm. Faszinierend für die Zeitgenossen war Helms Darstellung der Maschinen-Maria als dämonisches Frauenzimmer, „eine gemeine, sündige, teuflisch glatte Schlange“, wie es eine zeitgenössische Kritik beschrieb.
Die deutsche Kostümbildnerin Aenne Willkomm entwarf das futuristische Kostüm der Maschinen Maria im Stil der 20er Jahre und setzte damit wichtige Akzente. Glitzernde Steine, Silberketten und Perlen verstärken den Eindruck von Gefühlskälte, die der Maschinenmensch ausstrahlt.

Als Attraktion und Wunderwerk modernster Entwicklung wurden Maschinen in menschlicher Gestalt angepriesen. Großer Beliebtheit erfreute sich der „Elektro-Homo“ und „Motho-Phoso“. Der magische Name deutet bereits an, dass dieser vermeintlich künstliche Mensch in Varietés und Vorstellungen das Publikum begeisterte.

„Was wäre, wenn?“ oder „Die Welt in 100 Jahren“, diese Frage hat sich jeder schon einmal gestellt. Zugleich ist „Reaching Out for the Future“ der Ausgangspunkt eines großen Outreach-Projekts am Bröhan-Museum, das individuelle und kollektive, gesellschaftliche und soziale Utopien erforschen will. Das mobile Zukunftslabor des Museums unternahm eine Sommertour in verschiedenen Berliner Bezirken, um zum Nachdenken und Mitgestalten einzuladen. Visionen und Wünsche der Stadtgesellschaft haben als wachsendes Zukunftsporträt wiederum Eingang in die Ausstellung gefunden. Am Ende werden die gesammelten Zukunftsentwürfe in einer Zeitkapsel verschlossen und für die nächsten 100 Jahre im Museum archiviert. Künstlerische Interventionen hinterfragen Fact und Fiction und eröffnen dabei Ideen für eine neue Welt.

Nils Martin Müller, Kurator Bröhan-Museum

P.S. von mir:

Die Ausstellung „Reaching Out for the Future“ ist übrigens noch bis zum 27. Oktober im Bröhan-Museum zu sehen.

Von der Größe überschaubar, ist sie auch für einen Besuch mit Kindern gut geeignet. Lustig für sie, aber auch für Erwachsene (s. Foto unten): mit einer Zeitmaschine kann man sich in ein Bild beamen u. a. auf dem Mond oder mit einer Riesenkartoffel auf dem Tisch einer Familie.

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