Belgien im 19. Jahrhundert – Kleines Land ganz groß

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Ein Gastartikel von Christoph Driessen

1830 entstand in Westeuropa ein Staat, der wirtschaftlich ungeheuer erfolgreich und politisch so liberal wie kein anderer war: das Königreich Belgien. Allerdings hatte diese „Aktienfabrik“ auch ihre Schattenseiten.  

1. Von 0 auf 100 – der modernste Staat Europas

Am Grand-Place Nummer 9 in Brüssel, einem prächtigen Zunfthaus mit einem barocken Schwan über der Eingangstür, erinnert heute eine Tafel daran, dass Karl Marx hier die Silvesternacht 1847/48 verbrachte. Bei dieser Gelegenheit lobte Marx das Land, das ihm seit 1845 politisches Asyl gewährte, in den höchsten Tönen. Belgien, so erklärte er, sei ein Land mit einer „freisinnigen Verfassung, wo freie Diskussion stattfindet (…) zum Besten von ganz Europa“. In diesem „Paradies des kontinentalen Liberalismus“ konnte er es wagen, sein Kommunistisches Manifest zu verfassen.

Ohne Zweifel hatte Marx recht damit, dass es auf dem europäischen Festland kein freieres Land gab als das junge Königreich Belgien. Und damit nicht genug: Belgien war in vielerlei Hinsicht der modernste Staat Europas. Außer Großbritannien war kein anderes Land so stark industrialisiert. Seine Produktivität pro Kopf der Bevölkerung war sogar noch höher als auf der Insel.

Der erste Zug auf dem Kontinent fuhr 1835 zwischen Brüssel und Mechelen. In Seraing bei Lüttich stand die größte Fabrik Europas, das Cockerill-Werk mit integrierten Hochöfen, Eisenhütten und Walzwerken. Mächtige Banken wie die Société Génerale und die Banque de Belgique finanzierten Wirtschaftsunternehmungen in ganz Europa und darüber hinaus. Der Bankier James de Rothschild bezeichnete Belgien 1836 als „eine große Aktienfabrik“. Wie war es möglich, dass ein so kleines Land eine solche Ausnahmestellung erreichen konnte? Ein Land noch dazu, das bis 1830 als eigenständiger Staat überhaupt nicht existiert hatte?

 

2. Aufstand in der Oper: Ein Staat wird gegründet

Als südliche Niederlande hatte das spätere Belgien im 17. und 18. Jahrhundert eine unauffällige Existenz am Rande Europas geführt. Es gehörte zum Länderkomplex der Habsburger und wurde zunächst von Spanien, dann von Österreich aus regiert. 1795 wurde es Frankreich einverleibt. Als die in Wien versammelten Mächte 1814/15 darüber nachsannen, wie künftigen Expansionsbestrebungen Frankreichs am Besten vorzubeugen sei, verfiel der britische Außenminister Viscount Castelreagh auf die Idee, nördlich von Frankreich eine neue Mittelmacht zu etablieren. Das Ergebnis war die Fusion der nördlichen und südlichen zu den Vereinigten Niederlanden unter König Wilhelm I. von Oranien (1772-1843).

Hier wuchs zusammen, was zusammen gehörte – hätte man meinen können. Tatsächlich aber wiesen Nord und Süd große Unterschiede auf. Der Norden hatte zwei Millionen Einwohner, der Süden drei Millionen. Der Norden war protestantisch dominiert, der Süden fast ausschließlich katholisch. Der Norden war ein Handelsstaat, der Süden entwickelte sich gerade zur ersten industrialisierten Region Kontinentaleuropas. Und schließlich wurde im Norden ausschließlich Niederländisch gesprochen, im Süden viel Französisch.

Letztlich war es aber die Forderung nach stärkerer politischer Mitbestimmung, die entscheidend zur belgischen Revolution beitrug. Diese Abspaltung nur 15 Jahre nach Gründung des Vereinigten Königreichs wurde maßgeblich von einer kleinen Gruppe junger, reicher Brüsseler betrieben. Hinter ihnen stand das aufstrebende Großbürgertum des Südens, die Fabrikanten und Bankiers. Sie wollten einen liberalen Verfassungsstaat, in dem sie selbst den Ton angaben. Wilhelms liebster Verfassungsartikel war dagegen: „Le Roi décide seul“ – der König  entscheidet allein.  

Die Gelegenheit zum Umsturz ergab sich, als im Sommer 1830 der französische König Karl X. durch die Julirevolution gestürzt wurde und sich daraufhin die Stimmung in Europa aufheizte. Am 25. August wurde in Brüssel die Oper „Die Stumme von Portici“ aufgeführt, in der es um einen Volksaufstand in Italien ging. Die Zuschauer erkannten sich darin wieder. Schon im zweiten Akt hielt es das Publikum nicht mehr auf den Stühlen. Die Hauptfiguren Masaniello und Petro riefen geradezu zur Revolte auf, als sie sangen: „Ja wir zerreißen Sclavenketten, Vergießen freudig unser Blut!“

Noch vor Ende der Vorstellung ging das Publikum daran, den Bühnen-Appell in die Wirklichkeit umzusetzen. „Zu den Waffen!“ und „Nieder mit den Holländern!“ ertönte es. Die Zuschauer stürmten aufgewühlt nach draußen, zogen zur nahegelegenen Redaktion einer königstreuen Zeitung und ließen dort Scheiben zu Bruch gehen. Jetzt schlossen sich auch Arbeiter aus den Volksvierteln der 100 000-Einwohner-Stadt an, unzufrieden über gestiegene Brotpreise.

König Wilhelm reagierte unentschlossen auf diese Krise. Zuerst schickte er seinen ältesten Sohn zum Verhandeln, dann seinen Zweitältesten zum Kämpfen. Arbeiter und Handwerker führten in den Straßen von Brüssel einen Guerillakampf gegen die niederländischen Soldaten und stellten Prinz Friedrich dadurch vor die Wahl, die Stadt entweder platt zu bombardieren oder den Rückzug anzutreten. Er entschied sich für Letzteres. Nun riefen die Revolutionäre die Unabhängigkeit Belgiens aus. Den Namen borgten sie sich von Julius Cäsar, der den gallischen Stamm der Belger in „De bello Gallico“ als die tapfersten aller Gallier bezeichnet hatte.

Die Nationalflagge erfand ein einzelner Journalist, angelehnt an die Wappenfarben des Herzogtums Brabant, eine Nationalhymne, die Brabançonne, wurde ebenso flugs komponiert und getextet. Am 3. November wurde bereits das erste belgische Parlament gewählt, allerdings nur von einem Prozent der Bevölkerung. Ausschließlich die größten Steuerzahler waren stimmberechtigt.

Am 7. Februar 1831 wurde das Grundgesetz verabschiedet – die mit Abstand freiheitlichste Verfassung Europas. „Alle Gewalten gehen vom Volk aus“, hieß es dort. In dem Text war vor allem von Rechten und kaum von Pflichten die Rede. Alle bürgerlichen Freiheiten wurden garantiert. Aufgrund seiner Kürze und Klarheit diente das belgische Grundgesetz bis ins 20. Jahrhundert immer wieder als Vorbild für andere Verfassungen. Eigentlich passte dazu nur eine republikanische Staatsform, die der profilierteste Revolutionär, der Publizist Louis De Potter, auch unbedingt durchsetzen wollte. Die drei anderen Revolutionsführer, die Anwälte Sylvain Van de Weyer, Alexandre Gendebien und der spätere Regierungschef Charles Rogier, waren jedoch realistisch genug, eine Monarchie in Kauf zu nehmen: Schließlich waren sie auf die Unterstützung der europäischen Restaurationsregierungen angewiesen. Sie stellten allerdings sicher, dass die eigentliche Macht in dem neuen Staat beim Parlament lag. Der Monarch war nicht König von Belgien, sondern König der Belgier – vom Volk berufen und auf die Verfassung vereidigt.

Die Person des Monarchen wurde von den bürgerlichen Staatsgründern sehr sorgfältig ausgewählt: Es war Leopold von Sachsen-Coburg (1790-1865), mit parlamentarischen Gepflogenheiten bestens vertraut, da er als Witwer der jung verstorbenen Kronprinzessin Charlotte seit langem in England lebte. Leopold war der Ersatz- und Übervater der späteren Königin Victoria und heiratete 1832 zudem die älteste Tochter des französischen Königs Louis-Philippe. Damit war Belgien nach allen Seiten hin abgesichert. Auf der Basis dieses Erfolgs gelang es dem ehrgeizigen Leopold, die belgische Außenpolitik für sich zu reklamieren und mehr Macht anzusammeln, als ihm von der Verfassung her eigentlich zustand.

3. Die Aufsteiger im jungen Staat – vereinte Eliten

Die Innen- und Wirtschaftspolitik wurde jedoch von jenen bestimmt, die während der Revolution die Fäden gezogen hatten: Es war eine kleine reiche Bürgerelite in Brüssel, die sich politisch in der Liberalen Partei organisierte. Daneben bildete sich eine Katholische Partei heraus, die die freiheitlichen Ideale der Französischen Revolution zwar prinzipiell ablehnte, sich dem belgischen Staat aber dennoch verpflichtet fühlte, da die Kirche gemeinsam mit den Liberalen gegen Wilhelm opponiert hatte. Auch akzeptierten die Katholiken die Trennung von Kirche und Staat. Der Katholizismus war in Belgien so beherrschend, dass er gar keiner herausgehobenen Stellung bedurfte: Wenn sich der Staat nur nicht einmischte und die Konfessionsschulen unangetastet ließ, hatte die Kirche alles, was sie brauchte, um ihre Dominanz langfristig sicherzustellen. Übrigens investierte in Belgien auch der katholische Adel eifrig in die aufkommende Industrie. Zusammen mit den neureichen Fabrikanten-Familien in Brüssel und Lüttich, später auch in Antwerpen, bildete sich eine Aristokratie des Großkapitals heraus. Diese Familien heirateten bevorzugt untereinander und stellten gleichzeitig das politische Spitzenpersonal, so dass ein geschlossener Machtkreislauf entstand.

Die belgischen Regierungen betrieben von nun an eine aktive Wirtschaftspolitik, die darauf ausgerichtet war, jedwedes Hemmnis für freies Unternehmertum abzubauen. Dazu kam die vergleichsweise einfache verkehrstechnische Erschließung des kleinen Landes durch ein dichtes Netz von Kanälen und Schienen. So gab es in der Region Lüttich mit ihren reichen Kohle- und Erzvorkommen nicht nur eine Bevölkerung, die seit Generationen auf Steinkohleabbau und Eisenverarbeitung spezialisiert war, sondern mit der Maas auch eine perfekte Verkehrsanbindung.     

4. Die Arbeiter – die Ausgebeuteten wehren sich 

Keine Lobby irgendeiner Art hatte die immer weiter anwachsende Masse der Arbeiter in den wallonischen Industrierevieren. Ein Grund für die belgische Exportstärke bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die im internationalen Vergleich sehr niedrigen Löhne, die extrem langen Arbeitstage und die schrankenlose Ausbeutung von Frauen und Kindern. 

Belgien war 1914 das letzte entwickelte Land, das die Schulpflicht einführte. Erst unter dem Eindruck gewaltsamer Aufstände erkannten die liberalen und katholischen Eliten Ende des 19. Jahrhunderts, dass ohne Reformen eine großflächige Arbeiterrevolution drohte. Sie sahen sich gezwungen, die unteren Klassen in das politische System einzubinden und das Wahlrecht nach und nach auszuweiten. Dadurch wurde die Belgische Arbeiterpartei BWP zur dritten politischen Kraft neben Liberalen und Katholiken.

5. Konfliktstoff bis heute – der Sprachenstreit

Der Umstand, dass sich die belgischen Industriegebiete alle im Süden befanden, führte zu einem starken Übergewicht Walloniens. Das agrarisch geprägte Flandern stand für Armut und Rückständigkeit. So konnte man leicht übersehen, dass die Mehrheit der Belgier niederländischsprachige Flamen waren. Auch in Brüssel dominierte bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts das Niederländische. Der belgische Staat allerdings kannte nur Französisch. Der König, das Parlament, die Regierung, die Behörden, die Gerichte, die Universitäten und höheren Schulen –  alle sprachen ausschließlich Französisch. Die Regierenden erkannten für Belgien noch nicht einmal die Existenz des Niederländischen an: Nach ihrer Meinung wurde in der Nordhälfte des Landes lediglich eine Reihe stark variierender flämischer Dialekte gesprochen. Mit dieser arroganten Haltung legten sie den Keim für den Sprachenstreit, der Belgien heute zu zerreißen droht.

6. Kolonialmacht: Gräueltaten im Kongo 

Um 1900 war Belgien nach den USA, Deutschland, Großbritannien und Frankreich die größte Industrie- und Handelsmacht der Welt. Dies ging zum Teil auch auf die Ausbeutung der gewaltigen Kongo-Kolonie zurück. Hier gab es bis 1908 einen auffälligen Unterschied zu allen anderen europäischen Kolonialmächten: Der Kongo-Freistaat in Zentralafrika unterstand nicht dem belgischen Staat, sondern er gehörte einem einzelnen Menschen, der sich als „Inhaber des Kongo“ bezeichnete – König Leopold II. (1835-1909). Dieser hochintelligente Machtmensch fühlte sich als Staatsoberhaupt mit konstitutionell stark eingeschränkten Befugnissen unterfordert – er war zu Höherem berufen. 

Um wirklich gestalten zu können, drängte es ihn nach einer Kolonie, in der er allein das Sagen hatte. 1879 schickte er den berühmten Journalisten und Entdecker Henry Morton Stanley in das „Innerste Afrikas“, um dort am Unterlauf des Kongo-Flusses mehrere Stützpunkte zu gründen. Einer davon bekam den Namen Léopoldville, heute die zweitgrößte Stadt Afrikas, Kinshasa. Stanley schloss etwa 400 Verträge mit des Lesens unkundigen Bantu-Führern ab, womit sich Leopold riesige Gebiete des Kongobeckens aneignete. Als im tiefverschneiten Berlin im Winter 1884/85 die Einflusssphären der europäischen Mächte in Afrika abgesteckt wurden, wurde Leopold auf Betreiben Bismarcks als Souverän des sogenannten Kongo-Freistaats anerkannt. Die Erschließung des gewaltigen Landes brachte ihn zunächst an den Rand des Bankrotts. Doch dann wurde 1888 der aufblasbare Gummireifen erfunden, was in ganz Europa einen Fahrradboom auslöste. Da Gummi aus Kautschuk bestand, explodierte die Nachfrage nach diesem Pflanzensaft. Auf einen Schlag wurde der Kongo ungeheuer wertvoll, denn Kautschuklianen wuchsen dort in Hülle und Fülle.

Jetzt musste Leopold die Afrikaner nur noch dazu bringen, den Kautschuk für ihn zu ernten. Dafür setzte er auf seine gefürchteten Privatstreitkräfte, die Force Publique, die stärkste Armee Zentralafrikas. Die einzige Vorgabe für deren Offiziere war, genügend Kautschuk abzuliefern. Die Methoden waren ihnen überlassen. Im Zuge des nun um sich greifenden „Kautschuk-Terrors“ wurden ganze Landstriche entvölkert. Die meisten Menschen starben dabei nicht durch Gewehrkugeln, sondern durch Krankheiten. Die um 1900 ausbrechende Schlafkrankheit hatte auch vorher schon in Afrika grassiert, doch nun fielen ihr viel mehr Menschen zum Opfer, weil ihre Widerstandskräfte durch Ausbeutung, Entwurzelung und Hunger geschwächt waren. Wieviele Menschen den Tod fanden, ist heute umstritten. Fest steht hingegen, dass die „Kongo-Gräuel“ eines der größten Verbrechen der Kolonialgeschichte waren.

7. Leopolds Reichtum – Glanz und Grandeur in der Heimat

Leopold wurde durch die Erlöse aus dem Kautschuk-Handel unermesslich reich. Mit dem Geld finanzierte er ein Ausmaß von Glanz und Grandeur, wie man es in Belgien bis dahin nicht gekannt hatte. Das mondäne Seebad Ostende ist wesentlich sein Werk, und auch der Hauptstadt hat er für alle Zeit seinen Stempel aufgedrückt. 

Seine auf Überwältigung und Einschüchterung zielenden Bauten transformierten das bis dahin flämisch geprägte Brüsseler Stadtbild und sind bis heute stumme Zeugen seiner Megalomanie. „Mein Ziel ist es, Belgien größer, stärker und schöner zu machen“, erklärte er.

8. Ein Tyrann muss gehen

Nach einigen Jahren wurde Leopolds Tyrannei in einer der ersten Menschenrechtskampagnen jedoch mit großem Erfolg angeprangert. In London kam es zu öffentlichen Demonstrationen gegen den „Oberhalunken“ aus Brüssel. Dass im benachbarten Französisch-Kongo ähnlich mörderische Zustände herrschten, dass auch Deutsche und Briten in ihren afrikanischen Kolonien Zwangsarbeit praktizierten, wurde dabei konsequent unterschlagen. Die vorgebrachte Kritik richtete sich nie gegen den Kolonialismus an sich, sondern immer nur gegen den Kolonialismus belgischer Prägung. Unter massivem internationalen Druck musste Leopold seine Kolonie schließlich 1908 an den belgischen Staat abtreten. 

Er überlebte diese Schmach nur um wenige Monate: Als geächteter Mann starb er 1909 in einem künstlichen Urwald, den er hoch über Brüssel in einer märchenhaften Stadt unter Glas angelegt hatte – den Königlichen Gewächshäusern.  

Über den Autor

Dr. Christoph Driessen, geboren 1967 als niederländischer Staatsbürger in Oberhausen, studierte Journalistik und Geschichte und war danach viele Jahre lang Korrespondent in Den Haag, London und New York. Heute leitet er das Büro der Deutschen Presse-Agentur in Köln.

 

 

 

Als Autor verfasste er die erste deutschsprachige Geschichte Belgiens, die 2020 (2. Auflage) im Pustet-Verlag erschienen ist.

Außerdem ist der Artikel: „Königin Wilhelmina – Ikone der Niederlande“ von Christoph Driessen auf Bürgerleben erschienen.

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