Königin Wilhelmina – Ikone der Niederlande

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Ein Gastartikel von Christoph Driessen

„Es ist nur ein Mädchen“ hieß Anfang September 1880 die Hauptschlagzeile im „Leidsch Dagblad“. Die Zeitung traf damit die allgemeine Stimmung im Land. Ja, es war schön, dass am 31. August abends um sechs Uhr im Palast Noordeinde in der Innenstadt von Den Haag eine Thronfolgerin geboren war. Aber viel, viel besser wäre es gewesen, wenn die kleine Wilhelmina ein Wilhelm – Niederländisch: Willem – geworden wäre.

Dabei war die erst auf dem Wiener Kongress begründete niederländische Monarchie zuvor durch drei aufeinander folgende männliche Könige beinahe zugrunde gerichtet worden. Wilhelm I. hatte sich noch gebärdet wie ein absolutistischer Fürst und dadurch die Loslösung Belgiens aus dem Vereinigten Königreich der Niederlande wesentlich mitverschuldet. Wilhelm II. war eine schwache Persönlichkeit gewesen und hatte sich mit einer massiven Beschneidung der Befugnisse des Monarchen in einer neuen Verfassung abgefunden. Wilhelm III. schließlich war der unfähigste von allen. Er hatte Beinamen wie „Wilhelm der Letzte“ oder „König Gorilla“. Es konnte vorkommen, dass er bei einem Dinner seinen Oberkörper frei machte und sich vor allen Gästen auf die Brust trommelte.

Nach dem Tod seiner ersten Frau Sophie von Württemberg hatte sich Wilhelm III. im fortgeschrittenen Alter von über 60 Jahren noch einmal auf Brautschau begeben müssen, denn er brauchte dringend einen Thronfolger. Zwei Söhne waren schon tot, der dritte kränkelte. 1879 heiratete Wilhelm die erst 20 Jahre alte Emma zu Waldeck und Pyrmont. Eineinhalb Jahre später kam Wilhelmina zur Welt. Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre der nächste König wohl ein Pickelhauben-Prinz aus dem Wilhelminischen Deutschland gewesen, denn die nächsten Verwandten der Oranier waren Deutsche.

Als Wilhelm 1890 starb, war Wilhelmina erst ein zehn Jahre altes Mädchen, und ihre Mutter Emma übernahm für sie vorläufig die Regentschaft. Dies erwies sich für die Monarchie als Segen: Aus dem überschaubaren Waldeck-Pyrmont war Emma persönlicher Kontakt mit ihren Untertanen vertraut. Dies übertrug sie nun auf die Niederlande. Zusammen mit Wilhelmina besuchte sie fast jede Provinz und annähernd jede größere Stadt. Dies brachte erstmals weite Teile der Bevölkerung in Kontakt mit der Königsfamilie.

Wilhelmina wuchs in einem Goldenen Käfig auf, ohne jeden Kontakt zu Gleichaltrigen. Ihre einzigen Bezugspersonen waren – neben ihrer Mutter, zu der das Verhältnis sehr innig war – ihre Lehrer. Aber auch diese durften ihr aufgrund des Standesunterschieds nicht die Hand geben. In Ermangelung von Geschwistern und Freundinnen spielte „Wimmy“ viel mit Puppen, doch nach ihrem elften Geburtstag wurde ihre Lieblinge in eine Vitrine gesperrt.

Dem Zeitgeist entsprechend, wurde Wilhelmina nationalistisch erzogen und übernahm diese Einstellung. Besonders stolz war sie auf Niederländisch-Indien, die Kolonie von kontinentalen Ausmaßen, aus der später Indonesien hervorging. „Dank meiner Mutter bin ich der Fleisch gewordene niederländische Volkscharakter“, schrieb sie mit 17 Jahren an ihre frühere Gouvernante – ein rätselhafter Satz, da ihre Mutter ja Deutsche war. Worin der niederländische Volkscharakter bestehen sollte, führte sie nicht aus.

Kurz nach ihrem 18. Geburtstag wurde Wilhelmina 1898 in der Nieuwe Kerk im Zentrum von Amsterdam in ihr Amt als Königin eingeführt. An der Zeremonie nahmen mehrere javanische Fürsten teil, die eigens dazu aus der Kolonie ins „Mutterland“ gereist waren. Die Zahl der Gäste aus dem europäischen Ausland hatte man dagegen so klein wie möglich gehalten – Emma befürchtete, dass andernfalls auch der aufdringliche Kaiser Wilhelm II. gekommen wäre. Nur wenige Tage nach der Amtseinführung wurde Kaiserin Sisi von einem Anarchisten ermordet, woraufhin der jungen Königin der Niederlande zu ihrem Schutz zwei Polizisten auf Fahrrädern zugewiesen wurden.

Von ihrer Veranlagung her war die nur 1,65 Meter große Wilhelmina eigentlich eine temperamentvolle Frau. Doch von klein auf hatte man ihr eingeschärft, jede Spontanität zu unterdrücken. Die Folge davon war, dass sie als junge Erwachsene nicht wusste, wie sie mit Menschen außerhalb des Hofprotokolls umgehen sollte. Zudem bewegte sie sich von nun an als einzige Frau in einer reinen Männerwelt. Alle 150 Parlamentsabgeordneten waren Männer. Obwohl ihr diese geradezu untertänig entgegentraten, muss sie gespürt haben, dass der Respekt nur dem Amt, aber nicht der Person galt. So pflegte Ministerpräsident Nicolaas Pierson in ihrer Abwesenheit von ihr als dem Koninginnetje (Königinchen) zu sprechen. Als tiefgläubige Protestantin war Wilhelmina sich allerdings sicher, dass Gott selbst sie an ihren Platz berufen hatte – das gab ihr von Anfang an Selbstvertrauen. „Ich muss es tun“, war ihre Überzeugung.

Doch Ihre vordringliche Aufgabe bestand zunächst einmal darin, zu heiraten und Kinder zu bekommen, bestenfalls einen oder mehrere Jungen. Der Burenkrieg von 1899 bis 1902 führte dazu, dass ein Heiratskandidat aus England nicht mehr infrage kam, denn die Niederländer fühlten sich den Buren stark verbunden. Für Kaiser Wilhelm stand fest: „Nur ein deutscher Prinz darf sie bekommen!“ Die Wahl fiel schließlich auf Heinrich zu Mecklenburg, 1876 in Schwerin geboren und „urdeutsch vom Scheitel bis zur Sohle“, wie seine Großmutter wissen ließ. Es war das natürliche und ungekünstelte Auftreten dieses vor allem der Jagd zugetanen Landmanns, das Wilhelmina gefiel. „Er wird euch einen schönen Vorrat an Jungen bescheren“, versicherte der amerikanische Botschafter in Den Haag. Doch das war ein Irrtum.

Auf die Hochzeit im Jahr 1901 – Wilhelm II. war zu seiner großen Enttäuschung abermals nicht eingeladen – folgten mehrere Fehlgeburten. Die Niederländer begannen sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ihr Königshaus aussterben würde. Doch dann geschah 1909 doch noch ein Wunder: Wilhelmina brachte eine Tochter zur Welt, die nach der Mutter des Stammvaters Wilhelm von Oranien (1533-1584) Juliana genannt wurde. Bei diesem Kind sollte es bleiben.

Heinrich wurde in den Niederlanden nie richtig heimisch, sprach Niederländisch immer nur mit starkem deutschen Akzent und beschwerte sich darüber, „dass ich im Hause nichts zu sagen habe“. Bei einem Besuch des ehemaligen US-Präsidenten Teddy Roosevelt wies die Königin ihren Gemahl nach dem Mittagessen an: „So, nun zeig Mr. Roosevelt dein Zimmer!“ Als er dies akustisch nicht gleich verstand, wurde sie puterrot im Gesicht und herrschte ihn an: „Ich hab dir gesagt, dass du Mr. Roosevelt dein Zimmer zeigen sollst!“ Zerknirscht zog er mit dem Gast ab. Da niemand ihr je widersprach und sie gleichzeitig das Gefühl hatte, sich in einer Männerwelt als Frau doppelt beweisen zu müssen, wurde Wilhelmina im Laufe der Zeit immer dominanter und autoritärer. Der protestantische Arbeitseifer, den ihr ihre Mutter eingepflanzt hatte, führte zudem dazu, dass sie sich in alle politischen Themen gründlich einarbeitete. So reifte sie im politischen Den Haag zu einer allseits respektierten, ja gefürchteten Persönlichkeit heran – und zu einem Machtfaktor, den niemand außer Acht lassen konnte.

Während Belgien 1914 von den Deutschen überrannt wurde, blieben die Niederlande verschont, weil über die neutralen niederländischen Häfen Güter in das Kaiserreich importiert werden konnten. Wilhelmina versuchte, sich Wilhelm gewogen zu halten, „im Vertrauen auf deine freundschaftlichen Gefühle für mich und mein Land“, wie sie ihm 1918 schrieb. Schon wenige Monate später verkehrten sich die Rollen: Jetzt stand der abgesetzte Kaiser auf einem zugigen Grenzbahnhof  und bangte darum, dass ihm die niederländische Regierung politisches Asyl gewährte. Den Rest seines Lebens verbrachte er quasi unter luxuriösem Hausarrest in einem Gutshaus bei Utrecht. Wilhelmina besuchte ihn kein einziges Mal, weil sie der Meinung war, dass ein Monarch sein Volk nie verlassen dürfe.

Nach dem Ersten Weltkrieg modernisierte sich die niederländische Gesellschaft schnell, doch Wilhelmina blieb ganz die unnahbare Herrscherin. Als einmal ein kleiner Junge auf sie zulief und sie fragte: „Mevrouw, darf ich Ihnen die Hand geben?“, antwortete sie: „Nein, Kleiner, das kann ich nun wirklich nicht machen. Geh schön wieder mit deinem Freund spielen.“

Ein völlig anderer Mensch war ihre Tochter Juliana, die durch Offenheit und Liebenswürdigkeit auffiel. In den Augen der hochadeligen Macho-Welt war sie allerdings nicht besonders attraktiv, was dazu führte, dass Wilhelmina sie wie Sauerbier auf dem Heiratsmarkt der europäischen Aristokratie anpreisen musste. Im Laufe der Zeit wurden die Anforderungen an den künftigen Gemahl immer weiter abgesenkt, so dass schließlich sogar jemand aus Nazi-Deutschland infrage kam: Prinz Bernhard zur Lippe-Biesterfeld, Mitglied der SA, dann der SS und auch der NSDAP. Ein opportunistischer Nazi-Mitläufer mit wenig Geld, aber großen Ansprüchen. Juliana verliebte sich dennoch in ihn. Der deutsche Prinz, der plötzlich im Skiurlaub in den österreichischen Alpen auftauchte, kam als Erlösung. 1937 heirateten die beiden in Den Haag. Heinrich erlebte das nicht mehr, er war drei Jahre zuvor an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben.

Der dramatischste Abschnitt im Leben Wilhelminas, der sie zu einer nationalen Ikone machen sollte, begann am 10. Mai 1940, als die Fenster in ihrem Palast unter dem Beschuss deutscher Kriegsflugzeuge erzitterten. Nur drei Tage später meldete ihr der Oberkommandierende der niederländischen Streitkräfte, dass der militärische Zusammenbruch nur noch eine Frage von Stunden sei. In ihrer Verzweiflung klingelte Wilhelmina den britischen König George VI. im Buckingham-Palast aus dem Bett und beschwor ihn, Luftunterstützung für die niederländischen Bodentruppen zu senden. „Bertie“ versprach, sein Bestes zu tun, doch nichts geschah. Mehrere Minister bedrängten die Königin, Den Haag zu verlassen, und die 59 Jahre alte Monarchin willigte ein. So begann eine Reise, die noch am Abend desselben Tages in London enden sollte. Die Umstände und Motive dieser Flucht sind bis heute umstritten, und die Beurteilungen gehen weit auseinander. Nach der niederländischen Verfassung war eine Verlegung des Regierungssitzes an einen Ort außerhalb des Königreichs nicht möglich. Der spätere Reichskommissar für die besetzten Niederlande, Arthur Seyß-Inquart, wusste diesen Umstand sehr wohl zu nutzen. Er hob ausdrücklich hervor, dass die Flucht ein Verstoß gegen die Verfassung und die niederländische Exilregierung damit illegal sei.

Außer Zweifel steht, dass die Bevölkerung das Ausweichen von Königin und Regierung zunächst als große Enttäuschung erlebte. Noch am 9. Mai, einen Tag vor der Invasion, hatte man in der Zeitung lesen können, dass die königliche Familie ein Angebot, im Falle eines deutschen Angriffs nach New York zu gehen, entrüstet abgelehnt hatte. „Wir werden niemals unseren Posten verlassen“, versicherte Kronprinzessin Juliana. Nun taten sie es doch. Die Erklärungen, die Wilhelmina dafür nach dem Krieg gegeben hat, sind widersprüchlich. Mal sprach sie davon, sie habe nur kurz nach England gehen wollen, „um Hilfe zu holen“, dann wiederum beteuerte sie, der Schritt sei nötig gewesen, um die Interessen der Niederlande und ihrer vorerst noch nicht besetzten Kolonien im Lage der Alliierten vertreten zu können.

Im Rückblick betrachtet, hat Wilhelmina das Richtige getan. Der belgische König Leopold III., der sich zum Bleiben entschied, konnte als Geisel der Deutschen in seinem Brüsseler Palast wenig ausrichten. Sie dagegen wuchs im Exil über sich hinaus und widmete sich ganz dem Kampf gegen Adolfje en de moffen (Klein-Adolf und die Mistdeutschen). Dank ihrer über Radio Oranje gesendeten Reden wurde sie zur Stimme des Widerstands und Mutter des Vaterlands. Ihre mit großer Entschlossenheit vorgetragenen Ansprachen machten den Niederländerinnen und Niederländern während der furchtbaren Besatzungszeit Mut. Die Botschaft war: Hitler verliert den Krieg, bald ist alles überstanden. „Dienstag und Mittwoch sprach unsere geliebte Königin“, heißt es an einer Stelle im Tagebuch der Anne Frank. Churchill soll Wilhelmina als den „einzigen Mann in der niederländischen Regierung“ bezeichnet haben. Richtig ist allerdings auch, dass sie das Schicksal der Juden kaum je erwähnte: in 30 Reden drei Mal.

1945 kehrte Wilhelmina im Triumph in die Niederlande zurück. Aber schon drei Jahre später dankte sie nach 50 Jahren auf dem Thron zugunsten von Juliana ab – alt, krank und desillusioniert darüber, dass die Niederlande nach dem Krieg wieder zum alten Parteiensystem zurückgekehrt waren. Wie viele Menschen ihrer Zeit hatte Wilhelmina ein Problem damit, dass im Parlament auch gestritten wurde und unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen unterschiedliche Interessen verfolgten. Ihr schwebte nationale Geschlossenheit vor – im Grunde wollte sie eine gemäßigte Autokratie. Aber damit hatte sie in den Niederlanden keine Chance. Auch die Unabhängigkeit Indonesiens 1949 konnte sie nicht aufhalten. 1962 starb sie 82-jährig im „niederländischen Versailles“, Schloss Het Loo in Apeldoorn.

Zu dieser Zeit hatte ihre Tochter Juliana die Monarchie bereits gründlich entstaubt. Das altertümliche Hofzeremoniell hatte sie kurzerhand abgeschafft; die Sitte, sich rückwärts gehend von der Monarchin zu entfernen, bezeichnete sie als „lebensgefährlich“. Wenn Gäste zu Besuch kamen, schenkte sie selbst den Kaffee ein. Generell kann man feststellen: Mit Frauen an der Spitze ist die niederländische Monarchie immer gut gefahren. Auch derzeit ist Máxima beliebter als ihr Mann Willem-Alexander – auch wenn dieser das alleinige Staatsoberhaupt ist und Máxima nur den Titel einer Königin führt.

Über den Autor:

Dr. Christoph Driessen, geboren 1967 als niederländischer Staatsbürger in Oberhausen, studierte Journalistik und Geschichte und war danach viele Jahre lang Korrespondent in Den Haag, London und New York.

Heute leitet er das Büro der Deutschen Presse-Agentur in Köln.

Christoph Driessen ist Autor der seit 2009 mehrfach neu aufgelegten „Geschichte der Niederlande – Von der Seemacht zum Trendland“, die in diesen Tagen in einer vierten aktualisierten Fassung erscheint, verlegt vom Pustet Verlag.

Zum niederländischen Königshaus wird er regelmäßig im deutschen Fernsehen befragt.

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  • Andrea Falke - Nehus
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    Ich bin im direkten Grenzgebiet zu den Niederlanden aufgewachsen. Der Hass auf die Deutschen dauert bis heute an. Nur der Hass auf niederländische Kollaborateure ist noch größer und wird wohl mit der letzten Überlebendengenation enden.

    • Grete Otto
      Antworten

      Danke für Dein Feedback! Als häufiger Gast in den Niederlanden kann ich diese Erfahrung absolut nicht teilen – die Niederländer sind mir immer offen und freundlich begegnet.

  • Schäfer Helga
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    Ein interessanter Artikel. Dankeschön dafür!

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