Das Geheimnis des dunklen Hauses (Margarete von Schwarzkopf)

 In Historischer Krimi

Das Geheimnis des dunklen Hauses – Kriminalroman von Margarete von Schwarzkopf

Miss Marple reloaded – so in etwa könnte man die Protagonistin des Buches beschreiben: Anna Bentorp ist eigentlich Kunsthistorikerin, stolpert aber bei ihren Recherchen und Projekten immer wieder über mysteriöse Kriminalfälle.
Dieses Mal ist es eine Filmrolle aus den 30er Jahren, die plötzlich während eines Filmfestivals, bei dem Anna in der Jury sitzt, verschwindet. Der Film wurde nie gezeigt, der jüdische Regisseur Welfenstein beging Suizid. Oder? Auch der Inhalt des Filmes ist höchst mysteriös, geht es doch um ungeklärte Todesfälle um 1900 in einem englischen Anwesen – richtig, dem dunklen Haus aus dem Titel! Den drei abwechselnden Handlungssträngen -Gegenwart, 30er Jahre und Jahrhundertwende- lässt sich problemlos folgen. Im Verlaufe der Handlung gibt es dabei einige Tote…

Anna, die sympathische Kunsthistorikerin um die fünfzig, kämpft sich durch den verworrenen Fall, das Filmfestival und ihre Beziehungsprobleme. Die Motivation für sie ist nicht nur ihre kriminalistische Ader, den Fall zu lösen, sondern auch ein Buch, dass sie im Auftrag seiner Tochter über den talentierten früh verstorbenen Filmregisseur Welfenstein schreiben soll.
Am Ende entwirren sich die Fäden und das Buch wird fertig – das darf man schon mal verraten. Ich habe den Krimi gerne gelesen, immer ein Stück abends vor dem Einschlafen und nein, er ist definitiv nicht zum Einschlafen! Mir persönlich kamen zwar ein paar zu viel Beteiligte bei (natürlich nicht) zufälligen Unfällen um und auch die Motivation für die Taten fand ich, nun ja, zuweilen etwas abenteuerlich hergeholt. Aber der Krimi liest sich flüssig und ist in jedem Fall unterhaltsam und spannend!
Übrigens ermittelt die abenteuerliche Kunsthistorikerin Anna schon im 6. Fall – fünf weitere Fälle von ihr sind bereits erschienen (die man aber vorher -wie ich- nicht gelesen haben muss).

Textauszug (S.9-20):

Erster Akt

London, Anfang Oktober 1937

»Drama in Ealing! Filmregisseur nimmt sich das Leben – der aus Deutschland stammende, international renommierte Regisseur Leopold Welfenstein erschießt sich im Schneideraum der Ealing Studios.«

Alexander Schönfels starrte ungläubig auf die dicke Schlagzeile des »Daily Express«. Er hatte die Zeitung nach seiner Ankunft in England im Bahnhof Dover Priory gekauft und sie ungelesen in seine Manteltasche gestopft. Auf der Zugfahrt zur Victoria Station in London wollte er die Zeitung in Ruhe studieren, um sich ein wenig in seiner neuen Umgebung zu akklimatisieren. Sein Englisch war weniger flüssig als sein Französisch, das er neun Jahre in der Schule gelernt hatte, aber er konnte Englisch lesen und sich einigermaßen verständigen. Immerhin hatte er in den letzten drei Monaten vor seinem Aufbruch aus Wien intensiven Unterricht genommen. Seine Lehrerin, eine in Wien studierende Engländerin namens Miss Elizabeth Curtis, bescheinigte ihm eine »für einen Österreicher erstaunlich gute Aussprache«.

»Internationally renowned film director commits suicide« – diese Zeile traf ihn wie ein glühender Pfeil. Er schnappte nach Luft. Schönfels wurde fast schwarz vor Augen.

Ihm gegenüber in dem stickigen Abteil saßen eine junge Frau, in einen Roman von Dorothy Sayers vertieft, und ein korpulenter älterer Herr, versteckt hinter der »Times«. Keiner der beiden Mitreisenden schien seine Reaktion zu bemerken. Schönfels hielt die Zeitung umklammert. Sein Kopf dröhnte, ihm brach der Schweiß aus. Sein bester Freund Welfenstein tot? Seinetwegen hatte er Wien verlassen, um in London gemeinsam mit ihm an dem neuen Film zu arbeiten. Welfenstein hatte vor drei Monaten die Regie übernommen, in der Hoffnung, dass diese Produktion seine große Chance bedeutete, fern seiner Heimat und der Babelsberger Studios in England Fuß zu fassen – und vielleicht sogar London als Sprungbrett für Hollywood zu nutzen wie schon etliche Filmkünstler vor ihm, darunter Ernst Lubitsch und Billy Wilder. Was für einen Grund sollte Leopold Welfenstein gehabt haben, Selbstmord zu begehen? Er war achtunddreißig Jahre alt, verheiratet mit einer entzückenden Frau und Vater einer einjährigen Tochter. Vor anderthalb Jahren war die Familie gemeinsam von Berlin nach London übersiedelt und hatte in der Nähe der Kensington High Street ein kleines Haus bezogen. Und er plante, einen großen Film zu drehen.

In seinem letzten Brief vor drei Wochen hatte Leopold ihm geschrieben, dass die Dreharbeiten ein wenig langsam voran- gingen, da es Probleme mit dem Skript und der Hauptdarstellerin Claire Wilcox gegeben habe, dass aber alles geklärt und nunmehr vier Fünftel des Drehs im Kasten seien. »Ich erzähle dir alles en détail, wenn du kommst. Es wird dringend Zeit, dass wir an die Filmmusik denken und du dich bald an die Arbeit machen kannst. Der Film soll zu Weihnachten fertig sein und im April 1938 in die Kinos kommen. Es eilt. Meine Geldgeber drängen.«

Das waren die letzten Worte in dem Brief, den Schönfels am 15. September erhalten hatte. Heute war der 6. Oktober, ein Mittwoch, genau drei Wochen später. Schönfels hatte damals nicht lange gezögert. Seine wenigen Koffer waren schnell gepackt. In Wien wartete derzeit kein neuer Auftrag auf ihn, und Leopold hatte ihn schon vor seiner Abreise aus Berlin am 11. April 1936 gefragt, ob er sich vorstellen könne, ihm nach London zu folgen und für ihn zu arbeiten. Als Leopold Berlin verließ, da er trotz des großen Erfolgs seines hochgelobten Films »Die Lichter von Berlin« als jüdischer Künstler keine Arbeit mehr bekam, physisch bedroht und ausgegrenzt wurde, war sich Schönfels noch unsicher gewesen.

Doch auch die Atmosphäre in seiner Geburtsstadt Wien veränderte sich spürbar, und so hatte er seinem alten Freund zugesagt, für den er schon die Musiken zu fünf Filmen in Deutschland komponiert hatte. Seine Frau Sonja sollte im nächsten Monat mit der zweijährigen Tochter Eve nachkommen. Sie räumte in Wien noch die Wohnung aus. Ansonsten hatte er keine engere Familie mehr, seine Eltern waren an der Spanischen Grippe gestorben, als er einundzwanzig war und in Berlin studierte, und seine einzige Schwester Doris, vier Jahre älter als er, hatte 1917 einen Australier geheiratet und lebte schon seit Langem in Perth. Mit ihr hatte er kaum mehr Kontakt. Leopold Welfenstein stand ihm nahe wie ein Bruder, seit sie sich in Berlin kennengelernt hatten.

Und nun diese schreckliche Nachricht! Der kurze Artikel verwies darauf, dass Welfenstein offenbar Montagnacht, am 4. Oktober, tot in einem der Schneideräume der Ealing Studios aufgefunden worden war. Die Polizei hielt sich mit Einzelheiten zurück. Am Ende des Artikels stand ein Hinweis, dass in den nächsten Tagen ein Interview mit dem Produzenten des Films, Sir Albert Rowland, folgen sollte. Rowland hatte Welfenstein als Regisseur für »Das Geheimnis des dunklen Hauses« engagiert und wurde mit den Sätzen zitiert: »Die Filmwelt hat einen großen Verlust erlitten. Welfenstein war auf dem Weg zu internationalem Ruhm.«

Die Landschaft flog an Schönfels vorbei. Er sah weder die saftigen Weiden noch die sanften Hügel Kents, sondern starrte verloren auf den Artikel. Immer wieder las er Zeile um Zeile. Gelegentlich fing er einen Blick der jungen Frau auf, die ihn, wie es ihm schien, mit verhaltener Neugierde musterte. Der korpulente Mann dagegen hatte längst die Lektüre der »Times« aufgegeben und schnarchte lautstark.

Schönfels hatte in London ein Zimmer in einem kleinen Hotel nahe den Ealing Studios gebucht, da er sich nicht bei seinem Freund einquartieren wollte, obgleich dieser ihn herzlich eingeladen hatte. Rasch brachte er nach der Ankunft in London sein Gepäck ins »Little Royal«, warf einen kurzen Blick auf sein Zimmer mit den bunt geblümten Vorhängen, öffnete das Fenster, um den abgestandenen Geruch im Raum zu vertreiben, und machte sich dann auf den Weg zu Welfensteins Haus. Er musste mehrmals umsteigen, bis er sein Ziel erreichte.

Von der U-Bahn-Station Kensington ging er nur wenige Minuten. Nahe der St.-Mary-Abbot’s-Church in der Drayson Mews fand er das kleine Haus, das ihm sein Freund in mehreren Briefen glühend geschildert hatte. »Ruhig und freundlich, genügend Zimmer für noch mindestens zwei weitere Kinder«, schrieb Leopold. »Zwar ein Stück entfernt von den Studios, aber das empfinde ich als Wohltat.«

Um die blaue Tür wuchsen Kletterrosen, die noch vereinzelte Blüten trugen. Der Türklopfer aus Bronze zeigte einen Bärenkopf mit grimmig gefletschten Zähnen. Schönfels musste wider Willen lächeln. Das passte zu seinem Freund, der immer schon ein Faible für wilde Tiere gehabt hatte und ihm einmal gestand, er wolle eine gänzlich neue Interpretation von »Die Schöne und das Biest« drehen, wenn er in Hollywood angekommen sei. Ein Stich bohrte sich in Schönfels’ Herz. Diesen Traum würde sich Leopold nicht mehr erfüllen können.

Kaum hatte er den Türklopfer betätigt, wurde die Tür aufgerissen. Vor ihm stand Elisa Welfenstein. Ohne ein Wort fiel sie in seine Arme und schluchzte bitterlich. Schönfels hatte sie als zarte Frau in Erinnerung, doch jetzt wirkte sie hager. Die rot geweinten Augen in ihrem bleichen Gesicht sprachen Bände. Ein wenig ungeschickt streichelte er ihren bebenden Rücken.

Schließlich löste sie sich von ihm, schluckte und sagte mit heiserer Stimme: »Entschuldige, Alex. Komm bitte herein.« Elisa führte ihren Gast in ein kleines helles Wohnzimmer, von dem aus man einen Blick auf den winzigen Garten hatte. Alles sehr gepflegt, aber, wie Schönfels es empfand, ein wenig trostlos. Das mochte auch an dem kühlen Herbstwetter liegen. Der erste Sturm war gestern über England gefegt und hatte auch in diesem Teil Londons Blätter von den Bäumen gezerrt und Blumen geköpft.

Er setzte sich in einen der gemütlichen Sessel und wartete eine Weile, bis Elisa zurückkam und ein Teetablett auf den runden, niedrigen Tisch stellte, der zwischen dem Sofa und den drei Sesseln stand. Mit einem tiefen Seufzer setzte sie sich auf das gegenüberliegende Sofa. Doch schon sprang sie wieder auf, eilte in eine Ecke des Raums und kehrte mit zwei gefüllten Brandygläsern zurück. »Ich glaube, das brauchen wir jetzt beide«, meinte sie, und Schönfels sah so etwas wie ein leises Lächeln auf ihrem verweinten Gesicht, das aber rasch wieder verschwand. Sie trank einen großen Schluck und schwieg.

Endlich wagte er die Frage zu stellen, die ihn seit der Zugfahrt beschäftigte. »Was ist passiert, Elisa? Stimmt es, dass Leopold sich selbst erschossen hat?« Noch während er dies fragte, schoss ihm ob seiner Direktheit die Röte ins Gesicht. Elisa aber schien dies nicht zu bemerken.

»So sagt man«, antwortete sie. »Er wurde vorgestern Nacht von einem der Nachtwächter im Schneideraum gefunden. Der hat dann die Polizei gerufen. Chief Inspector Charles Howell, ein bekannter Mann. Aber nicht an Suiziden interessiert und schon gar nicht an dem Schicksal von Immigranten. Sein Assistent hat mich aufgesucht, ein freundlicher, etwas schüchterner junger Mann.« Ein Zittern durchfuhr sie. Tränen schossen in ihre Augen.

Ihre Stimme bebte, als sie fortfuhr. »Angeblich hat er sich mit einer alten Armeepistole in die Schläfe geschossen. Sie lag neben ihm auf dem Boden.« Elisa holte Luft. »Ich hatte ihn nicht vermisst, als er abends nicht zum Essen kam, da er mir gesagt hatte, dass er noch im Schneideraum eine Szene bearbeiten wolle. Das hat er in den letzten zwei Wochen oft gemacht. Er war unter Zeitdruck geraten, und auch mit dieser Schauspielerin hatte er Ärger. Das Drehbuch musste mehrmals umgeschrieben werden, weil es da eine Beschwerde gegeben hat. Doch Leo hat mich nicht mit seinem Ärger behelligen wollen.

Es lief nicht richtig rund. Deshalb war es ihm so wichtig, dass du kommst. Er war nervös, weil er fürchtete, dass der Produzent ihm sein Vertrauen entziehen könnte. Als Immigrant, hat er gesagt, müsse man sich erst recht beweisen. Aber das sind doch keine Gründe, sich das Leben zu nehmen! Und mich und Josephine alleinzulassen.«

Ihre Augen flossen über, die Tränen liefen ihre Wangen hinab. Schönfels nahm ihre Hände in seine und sagte: »Nein, das hätte Leopold schon irgendwie geschafft. Er hat in Berlin größere Schwierigkeiten gemeistert, vor allem bei den Arbeiten an ›Die Lichter von Berlin‹. Hat er denn etwas hinterlassen, einen Brief, eine Nachricht?«

»Das hat mich dieser junge Inspector auch schon gefragt. Nein, kein Brief, nichts.« Elisa richtete sich jäh auf. Ihre Augen glänzten feucht, aber ihre Stimme klang überraschend fest: »Nein, ich glaube nicht an Selbstmord, Alex. Mein Mann ist ermordet worden. Und ich habe sogar einen Verdacht. Ich bin mir sicher. Leopold ist einem Anschlag zum Opfer gefallen, und das hat alles mit diesem verdammten Film zu tun, an dem er wie ein Besessener gearbeitet hat.«

Sie stellte das Glas mit einem Ruck auf den Tisch. »Ich bitte dich, Alex, mir zu helfen, den Mörder zu finden. Und wenn es all mein Geld und meine Kraft kostet. Leopold Welfenstein hätte sich nie selbst getötet!«

Überraschungen

Der halb zerfallene Turm der Burgruine von Angerrath ragte in den milchig blauen Frühlingshimmel. Aus der Ferne sah er wie eine Fata Morgana aus. Von der 1220 erbauten Burg standen gut achthundert Jahre später nur noch die Trümmer des einst mächtigen Wehrturms und der vor wenigen Jahren restaurierte Rittersaal, der, wie mir meine Freundin Marianne Hufstedt erzählt hatte, für Feste und Veranstaltungen genutzt wurde. Und in seinen Mauern sollte auch das kleine Filmfest über die Bühne gehen, weswegen ich mich auf den Weg in die Voreifel gemacht hatte.

Die Voreifel im Frühling. Welch romantische Landschaft! Ich streckte und reckte mich. »Lass das, du ruckelst viel zu sehr!«, tönte es vom Fahrersitz des Autos, in dem ich durch diese freundliche Gegend in Richtung eines kleinen Ortes in der Nähe von Monschau fuhr. Mein Freund Richard Bernhard hatte sich bereit erklärt, mich nach Angerrath zu chauffieren und bei diesem »Filmevent«, wie er es spöttisch nannte, an meiner Seite zu bleiben. Nach anfänglicher Begeisterung war er inzwischen ein wenig ernüchtert. »Wenn’s im Kino zu langweilig wird, wandere ich eben ein bisschen umher und besuche das Rote Haus von Monschau oder fahre nach Köln«, erklärte er. Sicherheitshalber wollte er sich einen Mietwagen organisieren, um unabhängig zu bleiben. Mir sollte es recht sein.

Angerrath liegt zehn Kilometer von Monschau entfernt und hat offenbar knapp unter eintausend Einwohner. Sehenswürdigkeiten sind zwei Kirchen und die malerische Burgruine, ein beliebtes Ausflugsziel für Wanderer. Marianne Hufstedt, die mich hierhergelockt hatte, stammte aus Papenburg, hatte mit mir vor mehr als fünfzehn Jahren in Hannover als Kontaktfrau zu anderen Museen an einer Ausstellung über den Film der dreißiger Jahre gearbeitet und zusammen mit ihrem Mann, dem früheren Filmjournalisten Valentin Rohrmeister, mehrere Jahre ein kleines Filmfest in Heedebüttel bei Papenburg geleitet.

Rohrmeister hatte bis zu ihrer Hochzeit vor fünf Jahren in Starnberg gelebt. Nach langen Jahren Wochenendehe lebten sie nun endlich zusammen. Marianne hatte ihren Nachnamen behalten, mit diesem Namen sei sie in der Branche bekannt geworden, erklärte sie. Valentin hatte eine Tochter aus seiner ersten Ehe, die in München Film studierte, Marianne war vorher nicht verheiratet gewesen. Ihre große Liebe, der Filmregisseur Bernd Maler, hatte kurz vor der geplanten Hochzeit einen Badeunfall im Atlantik gehabt. Das lag nun mehr zwanzig Jahre zurück, aber Marianne vermochte es lange nicht zu verschmerzen. Ihm zu Ehren hatte sie das Filmfest im Emsland, wo Bernd zu Hause gewesen war, vor fast zwölf Jahren gegründet. Und nun war sie weitergezogen. Zu neuen Ufern und einem neuen Festival. Mit einem anderen Mann.

Nach acht Jahren des Schweigens hatte sich Marianne auf einem Festnetzanschluss in Hannover, den ich eigentlich kaum mehr benutzte, kurz nach Weihnachten bei mir gemeldet. Seit bestimmten Ereignissen im vergangenen Herbst teilte ich mein Leben zwischen Hannover und Köln auf, wo ich das ererbte Haus meiner Patentante sanieren ließ. Nach langen Überlegungen hatte ich es nicht verkauft, sondern zwei Zimmer darin an einen Pfleger aus Polen vermietet, der seit März einen alten Herrn und stundenweise meine Mutter betreute. Nach Weihnachten hatte ich mich mal wieder in meine kleine Wohnung in Hannover geflüchtet, um an einem Buch über meine bisherigen Abenteuer als »Miss Marple« zu arbeiten. In Köln waren die Handwerker emsig dabei, mein Haus auf Vordermann zu bringen. Und das war mit viel Staub und noch mehr Lärm verbunden.

Irgendwie hatten sich Mariannes und meine Wege getrennt. Jede ging ihrem eigenen Beruf nach, die anfänglich häufigen Mails versandeten, die SMS ebenfalls. Umso erfreuter und erstaunter reagierte ich, als ich ihre Stimme am Telefon hörte.

Marianne berichtete kurz, dass sie mit dem ehemaligen Journalisten Rohrmeister, der früher im Fernsehen die Sendung »Filmgeflüster« moderiert hatte, »nun endlich« verheiratet sei und im vergangenen Jahr in Angerrath bei Monschau ein Filmfestival ins Leben gerufen habe.

»Im letzten Mai war der Probelauf«, sagte sie mit ihrer tiefen, rauen Stimme, die ihrem Kettenrauchen geschuldet war. »Da hatten wir das Motto ›Heimatgefühle‹. Im Mittelpunkt stand der Thriller ›Schattenburg‹ von Helmar Ranzau, den er in der Burgruine von Angerrath in den frühen fünfziger Jahren gedreht hat. Ranzau, inzwischen über neunzig, war anwesend. Und im Programm haben wir dann neuere Film mit Regionalbezügen gezeigt.« Sie hielt inne.

»Gratuliere«, sagte ich.

Sie lachte. »Na ja, wir hatten Anfängerglück. Dieses Jahr nehmen wir uns mehr vor, haben ein sehr umfangreiches Programm mit noch ziemlich neuen Produktionen, auch Fernsehfilme, die erst im Herbst gezeigt werden. Das zentrale Thema in diesem Jahr lautet ›Vergessen, aber nicht vergangen‹ und ist einem 1936 aus Deutschland emigrierten Regisseur gewidmet. Es ist uns gelungen, Filme von Leopold Welfenstein für eine kleine Retrospektive aufzutreiben. Ehe er Deutschland verlassen musste, hatte er mehrere Filmhits gedreht, darunter ›Die Lichter von Berlin‹ Anfang 1936 und ›Die Dragonerschule‹ 1935.«

Ich hatte keine Ahnung, wer dieser Welfenstein sein sollte und noch nie von den Filmen gehört. Zwar ging ich mit Begeisterung ins Kino, aber mit Filmhistorie kannte ich mich nicht so gut aus wie Marianne. Die Namen Fritz Lang oder Friedrich Wilhelm Murnau, Georg Wilhelm Pabst oder Joseph von Sternberg waren mir geläufig, aber wer war Leopold Welfenstein? Sein Name war damals bei unserem gemeinsamen Projekt nicht aufgetaucht.

Ehe ich Marianne danach fragen konnte, fuhr sie fort: »Also, das ist echt phantastisch! Wir haben ein ganzes Jahr mit den Filmarchiven Berlin und Frankfurt gerungen, ehe sie uns seine fünf in Berlin gedrehten Filme für das Festival zugesagt haben. Doch der größte Clou wird sein, dass wir eventuell Welfensteins Tochter zu Gast haben werden.« Marianne senkte ihre Stimme: »Sie war erst ein Jahr alt, als ihr Vater sich 1937 in London das Leben genommen hat.«

Was sollte ich dazu sagen? »Wie schrecklich!« Was für ein Klischee. Aber Marianne antwortete, als sei dies eine überaus tiefgründige Reaktion gewesen.

»Da hast du recht! Das arme Ding! Ihre Mutter Elisa ist dann 1938 zusammen mit Welfensteins bestem Freund, dem Filmkomponisten Alexander Schönfels, und dessen Familie in die USA emigriert. Dass Josephine Welfenstein, die heute Stone heißt, tatsächlich zu uns nach Angerrath kommen möchte, ist eine Sensation.«

Ich unterbrach Marianne ein wenig brüsk. »Und warum erzählst du mir das alles?«

»Ach herrje!« Marianne lachte laut. »Ich bin echt trottelig. Du sollst bei unserer Jury mitmachen! Wir haben insgesamt fünf Jurymitglieder, darunter übrigens den TV-Star Carsten Trojahn, Hauptdarsteller dieser tollen Serie ›Mord am Morgen‹. Und dich als Kunsthistorikerin und bekennenden Filmfan hätte ich auch gerne dabei. Unterkunft und Kost inklusive, eine Art Tagegeld gibt es auch, aber da unser Budget nicht sehr groß ist, können wir kein dickes Honorar zahlen. Der Termin ist Dienstag, 9. Mai, bis einschließlich Samstag, 13. Mai. Am 14. ist Muttertag. Das betrifft dich und mich wohl weniger.« Sie lachte wieder.

Ihr Lachen dröhnte in meinen Ohren. Ich zuckte zusammen. Automatisch hielt ich den Hörer ein Stück weiter von meinem Kopf weg. Carsten Trojahn hatte ich einmal in einer ziemlich misslungenen Fernsehkomödie mit dem Titel »Mutter braucht das alles nicht« gesehen. Da spielte er den verwöhnten Sohn einer stets in Pink gekleideten Dame, die ihr Alter ständig verleugnet und vor allem keine Enkel akzeptieren will. Ihr einziger Sohn überrascht sie mit der frohen Kunde, dass sie bald Großmutter sein werde. Natürlich gab es ein Happy End, und die Dame in Pink erwarb viele pinke Babysachen für ihre Enkelin. Trojahn sah wenigstens recht nett aus. »Okay«, erwiderte ich und erhob mich aus meinem Lesesessel. »Ich schaue mal in meinen Kalender.«

Tatsächlich, die Woche sah noch öd und leer aus. Bisher keine Vorträge, kein neuer Auftrag für die Erstellung eines Katalogs, keine größeren Gutachten. »Wie es aussieht, kann ich«, sagte ich. »Und ich freue mich darauf, dich wiederzusehen und deinen Mann zu treffen. Du weißt ja, ich liebe Filme, und diese Retrospektive klingt gut.«

Marianne juchzte auf, versprach mir, alle nötigen Informationen »ganz schnell« per E-Mail zu schicken, und legte mit einem »Ciao, ciao, bella!« auf.

Ich versuchte Mariannes Konterfei vor meinem inneren Auge heraufzubeschwören, kam aber nicht weit. Ob sie immer noch diese wilde Haarpracht besaß? Und noch immer so mager war wie damals? Ich beneidete sie, weil sie Unmengen essen konnte, ohne ein Gramm zuzulegen. Im Internet fand ich ein Foto von ihr. Haarpracht gestutzt, Gesicht ein wenig voller, was ihr gut stand.

Drei Wochen später – das nannte Marianne »ganz schnell« – war ihre Mail mit einer Fülle von Informationen gekommen, einem ersten Überblick über für das Festival angemeldete Filme, der Liste der Welfenstein-Klassiker, den Namen der anderen Jurymitglieder und dem Hinweis, dass wir alle, auch die Gäste, im Hotel »Kaiser Karl« in Angerrath untergebracht seien. Laut Internet ein kleines Hotel mit hübschen Zimmern, einer Gaststube und einem Garten mit großer Terrasse. »Alle unsere frisch renovierten Zimmer verfügen über ein eigenes Bad, TV, freies WLAN und einen Wasserkocher.« Letzteres schien in Angerrath die ultimative Auffassung von Luxus zu sein. Ich musste grinsen.

Was die anderen Jurymitglieder anging, war mir außer Carsten Trojahn nur die Schauspielerin Lydia Merkur ein vager Begriff. Sie hatte letztens einen Fernsehpreis für ihre Darstellung einer Lehrerin bekommen, die an einer Persönlichkeitsspaltung litt und wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde zwei völlig unterschiedliche Charaktere zeigte. Als Lehrerin Magda freundlich und besonnen, als Carla ein Partygirl mit Neigung zu Alkohol. Alles recht überzogen, aber Lydia Merkur spielte ihre Doppelrolle überzeugend. »Die verlorenen Schwestern« war ein großer Fernseherfolg.

Als ich Richard von Mariannes Bitte erzählte, hatte er begeistert gerufen: »Da komm ich mit!« Und so zuckelten wir an diesem schönen Tag im Mai durch die Landschaft und waren bester Dinge. Richards Vorfreude auf die Filme hatte sich zwar gelegt, doch er sah diese Woche als Gelegenheit, fern von Hannover und in angenehmer Distanz zu Köln auf gänzlich andere Gedanken zu kommen.

»Diesmal garantiert kein Mord!«, meinte er gut gelaunt. »Wer kennt schon Angerrath? Weit weg von allen dunklen Mächten, eine friedliche Woche, in der du sicher das letzte Kapitel von deinem Buch fertig schreiben kannst. Denn laut Programm hast du nicht mehr als drei Filme pro Tag, und die beginnen alle zwischen neun und fünfzehn Uhr.«

Ich widersprach: »Abends sind die Vorführungen dieser Welfenstein-Klassiker. Die will ich nicht versäumen. Ich habe ein bisschen über ihn recherchiert. Ein spannendes Schicksal. Leider hat er sein Leben mitten während der Dreharbeiten zu seinem ersten Film im englischen Exil selbst beendet. Dieser Film sollte sein großer Wurf werden und ihm das Tor nach Hollywood öffnen.«

»Ja, das ist tragisch.« Mein Freund versuchte, ergriffen auszusehen. Ein absoluter Fehlschlag.

In diesem Augenblick passierten wir das Ortsschild Angerrath und gelangten auf eine gepflegte Dorfstraße, gesäumt von Fachwerkhäusern unterschiedlicher Größe. Wir kamen an einer Kirche vorbei, an einer Gaststätte mit dem schönen Namen »Zum Frohsinn« und landeten wenig später vor einem mit wildem Wein bewachsenen weißen Haus, über dessen Eingang ein großes Schild hing. »Kaiser Karl«, stand in frischen goldenen Buchstaben darauf. Wir hatten unser Ziel erreicht.

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Gretes Fazit

(für alle, die…mögen) :

+ interessante Mischung verschiedener Handlungsebenen und Zeiten

+ originelle und nicht typische Ermittlertypen

+  nicht blutrünstig, aber dennoch spannend.

 

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Über die Autorin

Margarete von Schwarzkopf, geboren in Wertheim am Main, studierte in Bonn und Freiburg Anglistik und Geschichte. Sie arbeitete zunächst für die Katholische Nachrichtenagentur, dann als Feuilletonredakteurin bei der »Welt« und viele Jahre beim NDR als Redakteurin für Literatur und Film. Heute ist sie als freie Journalistin, Autorin, Literaturkritikerin und Moderatorin tätig.

 

Der Kriminalroman „Das Geheimnis des dunklen Hauses“ ist im Emons Verlag erschienen und der 6. Band der Reihe rund um die Kunsthistorikerin Anna Bentorp.

In diesem Überblick findet Ihr alle bisher vorgestellten historischen Krimis – die Handlungen sind u.a. in Wien, Berlin und Norddeutschland angesiedelt.

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