Zwischen Belle Époque und neuer Zeit – Das Künstlerpaar Bertha Malzacher-Jung und Otto Jung
Ein Gastartikel von Tanja Warring
1971 stellte die Amerikanische Kunsthistorikerin Linda Nochlin eine entscheidende Frage: «Warum gab es keine grossartigen Künstlerinnen?» Heute wissen wir, dass grundsätzlich in allen Epochen durchaus grossartige Künstlerinnen lebten, die aber von der Kunstgeschichte lange Zeit ignoriert wurden und teilweise immer noch im Verborgenen auf ihre Wiederentdeckung warten. Der Essay, den Nochlin damals in der Zeitschrift ARTNews verfasste, gilt mittlerweile als wegweisend für ein anhaltendes Umdenkens in der Kunstgeschichte. Sie hatte erkannt, dass weibliche Kunst in Museen und Galerien systematisch ausgeblendet wurde. Schuld daran waren hauptsächlich institutionelle und gesellschaftliche Hindernisse. Frauen wurden beispielsweise erst gar nicht zu höherer Bildung zugelassen um sie möglichst rasch dort zu haben, wo man(n) sie haben wollte: Zuhause, an der Seite ihres Gatten und der Familie. Seit Nochlins Artikel hat sich sicherlich viel getan, doch auch heute noch gilt, dass die Werke unzähliger Künstlerinnen schlicht in den Kellern der Museen blieben oder zum Verschwinden gebracht wurden und daher regelrecht wiederentdeckt werden müssen.
Eine dieser Malerinnen war meine eigene Urgrossmutter. Während mein Urgrossvater Otto Jung als Landschafts- und Porträtmaler zu Lebzeiten beachtliche Erfolge feierte und als «Schwäbischer Impressionist» noch heute in einigen Museen und Sammlungen vertreten ist, geriet seine Frau Bertha vollkommen in Vergessenheit. Auch innerhalb der Familie wurde kaum von ihr gesprochen. Lange Zeit kannte ich nicht einmal ihren Namen. Als ich allerdings erfuhr, dass meine Urgrossmutter in einer Zeit an der Kunstschule Stuttgart studierte, in welcher Frauen der Zugang zu Akademien weitgehend verwehrt blieb, war meine Neugierde geweckt. In der Regel weiss man über das Leben dieser heute weniger bekannten Künstler und Künstlerinnen kaum Bescheid, was sie motivierte, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienten und womit sie kämpften. Auch ich rechnete zunächst nicht damit, allzu viel über meine Vorfahrin in Erfahrung bringen zu können. Doch meine Urgrosseltern hinterliessen einen umfangreichen und inhaltsreichen Nachlass, der einen seltenen Einblick in ein erstaunlich unkonventionelles Leben gewährt.
Die Spurensuche begann in unzähligen Kisten gefüllt mit Briefen, Notizen, Fotografien, Zeichnungen, Skizzenbüchern, Rechnungen und anderen Dokumenten und führte zurück in eine andere Zeit, kurz bevor sich der Bund souveräner deutscher Einzelstaaten zum Kaiserreich zusammenschloss. Die fünfjährige Bertha wurde nach dem frühen Tod der Mutter von ihrem Vater, dem Stuttgarter Senatspräsidenten Wilhelm von Malzacher, für mehrere Jahre in einem Schulschwesterninstitut in Rottenburg untergebracht. Sie behielt die klösterliche Erziehung in traumatischer Erinnerung und litt nach dem Austritt unter ständigen Schuldgefühlen und Beichtzwang. Doch ihr künstlerisches Talent bestärkte Bertha im Entschluss, ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben zu führen. Mit 19 Jahren begann sie ihr Studium an der Königlichen Kunstschule Stuttgart, womit sie zu den ersten Frauen zählte, die in Deutschland für ein Kunststudium zugelassen wurden. Gegen Ende ihres Studiums lernte sie den Mitstudenten Otto Jung kennen, der, nachdem er sich mehrere Jahre mit einer Holzschneiderlehre abgemüht hatte, 1889 ebenfalls an die Kunstschule Stuttgart wechselte. Die Ausbildung zum Maler begann er gegen den Willen seines dominanten, zu Jähzorn neigenden Vater. Dieser hatte sich aus einfachen Verhältnissen zum Bauwerksmeister hochgearbeitet und war von der Vorstellung, einen Künstler zum Sohn zu haben, nicht wirklich begeistert.
Aus eher unruhigen, teilweise überschatteten Kindheitsjahren wechselten Bertha Malzacher und Otto Jung in eine ausserordentlich produktive, nahezu überschäumende Aufbruchszeit als Künstlergemeinschaft. Nachdem sie sich 1891 an der Akademie begegnet waren, übernahm die ältere Studentin in den Anfangsjahren ihrer Bekanntschaft die Rolle der Mentorin. Otto hingegen half Bertha, sich von ihren religiösen Zwängen zu lösen. Nach Beendigung ihres Studiums, verfolgte diese weiter unbeirrt ihre Ziele. Sie setzte sich über gesellschaftliche Vorgaben hinweg, als sie beschloss, mit Porträt- und Stillebenmalerei ihr eigenes Einkommen zu bestreiten und mit Otto ein gemeinsames Studio einzurichten.
Doch wie konnte sich eine junge Malerin in jener Zeit in einer Kunstszene etablieren, die Künstlerinnen regelrecht übersah und ausschloss? Wie konnte sie ihrem Beruf nachgehen, wenn Frauen grundsätzlich das Recht verweigert wurde, einen Beruf überhaupt auszuüben? Nun war Bertha keineswegs alleine in dieser Situation, ihre Mitstudentinnen sahen sich alle mit demselben Problem konfrontiert. Die Damen beschlossen, den Weg gemeinsam zu gehen und gründeten den erstaunlich progressiven Württembergischen Malerinnenverein. Sie organisierten gemeinsame Ausstellungen und Abendgesellschaften, die vor allem dazu dienten, die notwendige Aufmerksamkeit bei einem kaufkräftigen Publikum zu erzeugen:
«Die Mitglieder liessen ihrer Kreativität weiter freien Lauf und inszenierten bei jährlichen Damenkostümbällen wahre Kunsthappenings inklusive Performances. Es handelte sich um regelrechte Werbe- und Fundraiser-Anlässe, zu welchen aber ausschliesslich Damen geladen waren. Herren war die Teilnahme strikt untersagt. Sie wurden nicht benötigt, es fanden sich genügend illustre Namen, die sich nach und nach als Ehrenmitglieder und Mäzeninnen des Vereins hervortaten, der nicht umsonst das Protektorat des Hofes genoss. (…)
Jeder Ball war einem bestimmten Thema gewidmet, beim ersten Anlass 1895 keinem Geringeren als Altmeister Rembrandt. Bertha plante, gleich mehrere Gemälde für den Novembersalon einzureichen, und wird sich daher für den Ball im Februar zweifellos in die passende Gewandung geworfen haben, es herrschte Kostümzwang. Die Damen nutzten die Faschingszeit, um auf raffinierte Weise mit möglichst vielen Konventionen zu brechen. Geladen wurde zum Rembrandt-Abend, einer «kostümierten Theegesellschaft», die im oberen Museum von acht Uhr abends bis nachts um zwei dauern sollte. Integraler Bestandteil des Abendanlasses waren die sogenannten «Tableaux vivants», lebende Bilder, und die Stuttgarter Kunstdamen riefen in aufwendig choreografierten Gemälde-
Nachstellungen den Geist des bewunderten Barockmeisters zu sich in die Moderne. Inszeniert wurden «Rembrandt samt seinem Weib Saskia beim Frühstück» und die «Nachtwache». Wie mag wohl die ebenfalls an Rembrandts «Nachtwache» erinnernde Fotografie der Karlsruher Kunststudenten entstanden sein? Beschrieb Bertha in einem ihrer Briefe das Lebendbild des Rembrandtabends oder brachte sie womöglich eine Aufnahme mit nach Karlsruhe, worauf die Herren sich zu einer ähnlichen Pose hinreissen liessen? Auch wenn es wahrscheinlich nicht so war, der Gedanke bleibt reizvoll.
Die Malerinnen imitierten ausserdem ihre eigenen Bilder. In einzelnen ausgewählten Genreszenen begannen ihre Leinwände quasi zu atmen. Indem sie die Gemälde auf diese Weise in der dritten Dimension erlebbar machten, hauchten sie ihnen eine effektvolle Dramatik ein. Als weitere Darbietung folgte eine Tanzaufführung, in welcher sich die Damen in Farbkostümen quasi als überdimensionale Farbpalette miteinander «vermischten».
Schliesslich wechselten die Künstlerinnen auch das Geschlecht und forderten die geladenen Damen in Männerkleidung, Frack, Weste mit Perücke und Bart zum Tanz auf. Sie schufen sich einen Freiraum, in welchem sie die gesellschaftlichen Zwänge einfach fallen lassen konnten. Symbol ihrer Einschränkung war das Korsett, das sie von sich warfen wie ihre Weiblichkeit oder das, was zumindest in jener Zeit als weiblich zu gelten hatte. Sie verwischten nicht nur in ihren Lebendbildern die Grenzen zwischen Kunst und Leben, auch ihren eigenen Körper machten sie zur Kunst, führten ihn in einen Schwebezustand zwischen Fiktion und Realität. Die Kunst bot ihnen den Rahmen, den weiblichen Körper als Vorlage diverser Rollenmuster bewusst einzusetzen, womit sie den Nerv späterer feministischer Performancekunst in sich wachsen liessen. Frauen, die in jener Zeit in Männerkleidung die Nächte durchfeierten, entlarvten die herrschenden Geschlechterrollen bewusst als leeres Konstrukt und wurden normalerweise gesellschaftlich geächtet. Hier in Stuttgart tanzte allerdings die High Society mit den anrüchigen Künstlerinnen, zudem war ja schliesslich Faschingszeit. Die beste Zeit, um ungestraft die Welt aus den Angeln zu heben. Das Programm wurde an späteren Tagen einer zahlenden Öffentlichkeit vorgeführt, um Geld für den Verein zu sammeln. Die Stuttgarter Malerinnen durchbrachen zweifellos einige Hindernisse und erlebten eine bahnbrechende Selbstbestimmtheit. Sie suchten Aufmerksamkeit, laut und unübersehbar, und waren sicherlich nicht nur beliebt im bürgerlichen Umfeld der Stadt. In Berthas Nachlass ist noch eine Fotografie einer solchen Gesellschaft erhalten. Sie muss nach 1903 entstanden sein, eventuell handelt es sich um den Anlass zum Thema «Don Quichotte» von 1905. Leider ist nicht mehr zu erkennen, ob sie tatsächlich zu den Anwesenden gehörte oder unter welcher Kostümierung sie sich verbarg. Sie war damals bereits Mutter dreier Kinder im Alter zwischen 6 und 2 Jahren. Oh, du herrliche Unvernunft! Wie befreit war Ihr Leben im Vergleich zu den klaustrophobischen Klostertagen ihrer Kindheit! Das Gebot, «brav» zu sein, war nur mehr ein fernes Raunen. Die neue Zeit erlaubte es ihr, über Grenzen hinaus zu denken, komplett moderne Lebensentwürfe ins Auge zu fassen, gewisse «Verrücktheiten» zuzulassen.»
(Aus: Tanja Warring, Zwischen Belle Epoque und Neuer Zeit – Das Künstlerpaar Bertha Malzacher-Jung und Otto Jung, 2022, S. 89–93)
Bertha Malzacher schälte sich damals vollends aus dem Ballast der streng katholischen Erziehung in eine befreiende Eigenständigkeit. Die Malerei bedeutete ihr alles. Währenddessen beendete auch Otto sein Studium an der Kunstakademie Karlsruhe. Er versuchte sich nach Abschluss mit einer regen Ausstellungstätigkeit in Stuttgart und München in der etablierten Kunstwelt zu behaupten, die sich damals ziemlich in Aufruhr und im Umbruch befand. Die junge Generation wehrte sich gegen die verstaubten Vorstellungen ihrer einstigen Professoren an den Akademien und experimentierte mit neuen Stilrichtungen wie Impressionismus, Art Nouveau und Jugendstil. Mitten drin tanzte das Stuttgarter Künstlerpaar durch die rauschende Zeit der opulenten Belle Epoque, versuchte sich am Neuen, scheiterte ab und an, hielt aber beharrlich am gewählten Weg fest. Den beiden begabten, allerdings nie ganz der geordneten Norm des deutschen Kaiserreichs entsprechenden Persönlichkeiten, gelang es, sich als aufstrebendes Malerpaar zu etablieren.
1898 heiratete das Paar und Bertha brachte drei Kinder zur Welt. Das Glück schien perfekt – Bertha war schliesslich gelungen, was vielen Frauen verwehrt blieb. Sie fand nicht nur einen Ehemann und Partner, sondern einen Seelenverwandten, der seine Künstlerlaufbahn ebenfalls gegen die elterlichen Vorstellungen durchsetzen musste. Der wusste, wofür sie kämpfte und sie unterstützen würde, als Mutter und als Künstlerin. Sie blieben rastlos, zogen mehrmals um, bis sie schliesslich im Norden der Stadt Stuttgart ein Haus kauften. Währenddessen erwachte die Gesellschaft aus ihrer Starrheit, die steifen Mieder und einengenden Anzüge lösten sich in frei fallenden Reformkleidern auf. Nicht nur die Räume des neuen Hauses waren heller und lichter, auch die Lebensweise der Familie wurde freier und luftiger. Bertha und Otto erzogen ihre Kinder erfrischend antiautoritär. Die Eltern fanden die Motive für ihre Malerei nun direkt im Familienkreis, Ottos Kinder- und Familienporträts entpuppten sich als regelrechter Verkaufsschlager.
Doch Bertha Malzacher und Otto Jung waren Mann und Frau in einer Welt, die zwei klar getrennte Geschlechterrollen kannte. Ganz allmählich bildeten sich in dem anregende Gefüge Risse. Bertha musste erkennen, dass ihre Tätigkeit als Künstlerin von der Mutterrolle in den Hintergrund gedrängt wurde, während Otto zum alleinigen Ernährer der Familie mutierte, was ihn allerdings immer enger an die Auftragskunst fesselte. So blieben ihm der Aufstieg in die höheren Sphären musealer Kunst verwehrt. Um sich mittels ihres Künstlerberufes einen gewissen Lebensstandard sichern zu können, verzichteten beide im Gegenzug auf Selbstverwirklichung und drohten am Zeitgeschehen, bürgerlichen Konventionen und an sich selbst zu zerbrechen. Als Porträt- und Landschaftsmaler feierte Otto beachtliche Erfolge über die Stadtgrenzen hinaus und blieb der Familie immer öfter fern. Doch während Otto unermüdlich die Gesichter einer abtretenden Gesellschaft in idealisierte Landschaften setzt, demontieren bald anderswo die jungen Künstler der Avantgarde das naturgetreue Abbild. Wieder befand sich die Kunstwelt im Umbruch.
Schliesslich gerieten auch Zeit und Welt aus den Fugen und das finanzielle Glück des Malerpaares driftete stückweise davon. Auch Berthas Persönlichkeit veränderte sich. Durch den 1. Weltkrieg und die drauffolgende Wirtschaftskrise nahm der Kampf der beiden ein existenzielles Ausmass an. Die Aufträge brachen weg. Zeit für ihre Malerei fand Bertha keine mehr. Ihre zunehmende Isolation blieb dabei so lange unbeachtet, bis sie an ihrer Misere zu ersticken drohte. Otto agierte zunehmend hilflos und wusste sich nicht anders zu helfen, als seine psychisch und physisch angeschlagene Gattin in eine Nervenheilanstalt einzuweisen. Mehrere Monate wurde sie unter Hypnose behandelt, fand aber während ihres Aufenthalts nach fast fünfzehnjährigem Unterbruch den Weg zurück zur Malerei.
Die Welt ausserhalb der Anstaltsmauern war aber eine andere geworden. Der Blick des gealterten Malerpaares blieb an den schlafwandlerischen Gesichtern, stillen Städten und sanften Hügel Süddeutschlands hängen, während anderswo Mensch und Natur zwischen Maschinen, Futurismus und Abstraktion verschwanden. Weder passten sie in die Welt von gestern, die sich in den Nebel der Geschichte zurückzog, noch konnten sie das Korsett der Vergangenheit ganz abstreifen. Die neue Zeit rauschte an ihnen vorbei und liess sie zwischen den Welten stranden.
Bertha verlor den Kampf gegen Depression und physische Erschöpfung im Juni 1931. Otto starb nur 4 Jahre später als stiller, etwas kauziger Landschaftsmaler, der sich alleine in der Natur fernab des Zeitgeschehens am wohlsten fühlte. Es bleiben ihre Bilder, die, ähnlich wie ihre Schöpfer, zwischen die Zeiten fallen und doch auf faszinierende Art davon berichten.
Über die Autorin
Tanja Warring, geboren 1969 in Zürich, Kunst- und Fotohistorikerin, ist die Urenkelin von Bertha und Otto Malzacher-Jung. Sie ist Kuratorin am Muzeum Susch im Engandin und arbeitete mehrere Jahre als Ausstellungs- und Museumskuratorin in verschiedenen Museen und Agenturen in der Schweiz, Deutschland und den USA. Sie lebt mit ihren Kindern in der Nähe von Klosters, ebenfalls in Graubünden.
Das Buch „Zwischen Belle Époque und neuer Zeit“ beschreibt das Leben und Schaffen des Künstlerehepaars Bertha und Otto Malzacher-Jung von ihrem Kennenlernen bis zu ihrem Tod. Quelle für die Autorin war die umfangreiche Hinterlassenschaften der beiden. Es wird auch beschrieben, wie gerade Bertha Malacher-Jung als Künstlerin, die abseits populärer Strömungen malte, um Anerkennung kämpfen musste. Es ist 2022 im Schwabe Verlag erschienen.