„Tracht, Tourismus & Tirol“ – der Maler Franz von Defregger
Ein Gastbeitrag von Angelika Irgens-Defregger
„Ihre Werke sind gemalte Volkslieder“, schrieb der Zeitgenosse Peter Rosegger seinem Brieffreund Defregger, an dessen alpinbäuerlichen Genrebildern und Heldengeschichten des Tiroler Freiheitskampfes anno 1809 sich der Steirische Heimatdichter, nach eigener Angabe, nicht satt sehen konnte.
Mit seinem Kunstschaffen potenzierte der als liebenswürdig und bescheiden beschriebene Münchner Maler aus Osttirol Franz von Defregger (1835-1921) das Interesse an Land und Leuten seines Heimatlandes. Sein Künstlerblick zielte dabei stets auf die Sonnenseite des Lebens.
Statt die Wirklichkeit des harten Arbeitsalltags abzubilden, inszenierte der Maler das vergnügliche Beisammensein der Tiroler Bauern und Bäuerinnen an Sonntagen oder nach Feierabend behaglich in der guten Stube.
Der Vielmaler erschloss dem Großstädter und Sommerfrischler Sensationsräume einer Scheinwelt voller Fantasie und Nostalgie. Nicht zuletzt veränderten seine Sehnsuchtbilder das Selbst- und Fremdbild seiner Tiroler Landsleute und beförderten den Alpentourismus mit allen seinen positiven wie negativen Begleiterscheinungen.
Der Maler, der erst als „modern“ und „authentisch“, später als „krachledern“ und „folkloristisch“ galt, erwies sich im gewissen Sinne als „Kulturbotschafter“. Seine Schilderungen der bereits dem Untergang geweihten Sitten und Bräuche, Handwerkstechniken, Feste, Musik- und Tanzformen machten das immaterielle kulturelle Erbe seines Heimatlandes weithin sichtbar. Seine Werke galten als so genannte “Glaspalastschlager” und waren regelmäßig in den Jahresausstellungen im Münchner Glaspalast vertreten. Infolge des wachsenden gewerblichen Ausstellungswesens in einer zunehmend globalisierten Welt tourten seine Meisterwerke durch Europa. Mit seiner Teilnahme an den Weltausstellungen in Wien (1873), Paris (1878, 1900), Chicago (1893) und St. Louis (1904) erreichte der Maler ein Millionenpublikum.
Kunsthistoriker der Nachkriegsgeneration wussten lange nichts mit Defregger anzufangen und machten deshalb einen großen Bogen um den populären, marktgängigen Künstler. Sie übersahen nicht nur einen brillanten Maler, sondern auch die kulturhistorische Bedeutung des facettenreichen Künstlers, der seine Werke im Zusammenspiel mit der Reproduktionsindustrie effizient und weltweit zu vermarkteten wusste und dessen Werke andere Künstler, Schriftsteller, Musiker, Theaterregisseure und Filmemacher zu eigenen Werken inspirierten.
Die Kunst- und Verlagsstadt München im Einwanderungsland Bayern hieß den zugereisten ehemaligen Vollzeit-Landwirt Defregger willkommen und erwies sich für den Landflüchtling, dessen bäuerliche Herkunft man heute als bildungsfern bezeichnen würde, als der richtige Ort.
Der Weg zum arrivierten Münchner Akademieprofessor, Malerfürst und Ehrenbürger war Defregger nicht vorgezeichnet, aber in der durch Industrialisierung, Verstädterung, Verkehr, Tourismus und gesellschaftlichen Wandel gekennzeichneten Umbruchzeit des 19. Jahrhunderts durchaus möglich. Für die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Stadtkultur und Provinzleben, Bürgertum und Bauernleben, Kunst und Kommerz lieferte der Ruhm und Ansehen erlangte Maler selbst den besten Beweis.
Die durch neue Reproduktionstechniken geförderte massenhafte Verbreitung seiner Bildergeschichten und Geschichtsbilder stieß in der bilderhungrigen Gründerzeit eine Welle der Begeisterung für sein Heimatland Tirol an, die schnell über die Grenzen hinaus bis nach Amerika reichte. Schon 1878 bestieg der amerikanische Schriftsteller und Reisejournalist Mark Twain die Rigi in der Schweiz auf der Suche nach dem „Tiroler Triller“. In seinem Werk „Bummel durch Europa“ schrieb er, dass er die ihm begegnenden Alpenjodler dafür bezahlte, dass sie nicht mehr jodeln. Und an Baedeker lancierte er einen Beschwerdebrief über die falsche Angabe der benötigten Aufstiegszeit. Statt drei Stunden benötigte Twain angeblich drei Tage.
Zu einer der ersten Tiroler „Natur- und Nationalsänger“-Familien, welche nicht zuletzt dank ihrer Jodel-Künste der alpenländischen Musik in der neuen Welt zum Erfolg verhalfen, gehörte der von Defregger 1886 porträtierte Zillertaler Volkssänger und Gastwirt Ludwig Rainer.
Amerika war damals ein beliebtes Auswanderungsziel, von welchem sich auch der junge Defregger angezogen fühlte, der am 30. April 1835 als Sohn einer über Generationen im Osttiroler Pustertal ansässigen Bauernfamilie geboren wurde. Seine bäuerliche Herkunft offenbart sich nicht nur in seinem Gemälde „Geburtshaus“, sondern durchzieht konsequent sein gesamtes Qeuvre. Dieser Gleichklang von Kunst und Leben beeindruckte namhafte Kunstvermittler von Friedrich Pecht, Defreggers Biograf der ersten Stunde, bis Theodor Fontane.
Nach dem Tode des Vater 1858 schmiedete Defregger zusammen mit Bekannten ernsthafte Auswanderungspläne, um „auf diese Weise die Welt zu sehen, was schon immer mein Traum war“, wie er in seinen „Lebenserinnerungen“ festhielt. Als eine seiner ersten zartfarbigen Fingerübungen entstand die karikaturhafte Gouachezeichnung „Die Auswanderer“, ein Gruppenporträt, in dem sich Defregger im Kreis dreier abenteuerlustiger Freunde selbst dargestellt hatte. Warum Defregger seinen Plan aufgab und sein Fernweh anderweitig stillte, erfahren wir aus seinem Interview mit dem bereits erwähnten Pecht:
„Die Genossen, die ich für die Auswanderung gehabt, hatten sich inzwischen meist wieder eines Besseren besonnen, und die, welche noch mit mir gegangen wären, behagten mir nicht. Da, allein und rathlos, fiel mir auf einmal wie der Blitz ein, ich könnte ja nach Innsbruck gehen und ein Bildhauer werden […].“
Dass der schöpferisch noch suchende Defregger für feinmotorische Arbeiten, wie dem künstlerischen Zeichnen veranlagt war, erkannte rasch der an der Innsbrucker Gewerbeschule lehrende Michael Stolz, zu dem Defregger ein Empfehlungsschreiben seines Dorfpfarrers geführt hatte. Bereits nach wenigen Monaten arrangierte Stolz ein Vorstellungsgespräch bei Carl von Piloty, dem gefeierten Koloristen unter den Historienmalern und Professor an der als modern gerühmten Münchner Kunstakademie. Die Aufnahme in dessen Klasse gelang Defregger nicht gleich.
Nach einem Jahr erfolgreicher Vorbereitungszeit bei Hermann Dyck in der Kunstgewerbeschule am Hofgarten und abendlichen Aktkursen in der Privatschule Johann Jakob Filser, erlangte Defregger die Matrikel und wurde Zögling der Königlichen Kunstakademie. Nach zwei sich anschließenden Semestern Mal- und Zeichenunterricht bei dem Peter von Cornelius-Schüler Hermann Anschütz stellte Defregger fest, „das wen ich nicht balt weg kann, es mit mir anstatt vorwärts wider rükwärts geht“, wie er im Mai 1863 seinem Freund, dem Architekten Dominik Stadler nach Paris schrieb. Dieser hatte ihn ermuntert nach Paris zu kommen.
Am 11. August 1863 reiste Defregger mit der Bahn über Straßburg nach Paris. Hier verbrachte er fast zwei Jahre. In seinen Lebenserinnerungen hielt er fest:
„Durch die Protektion eines Kunstmalers, Prof. Lamlein, den ich in Paris kennen lernte, erreichte ich, dass ich an der Akademie den Abendakt mitzeichnen durfte. […] Ich malte auch kleine Bilder und verkauft sie für 30-40 franc.“
An den Wochenenden unternahm Defregger Exkursionen in die Umgebung von Paris. Eine kleine Zeichnung erinnert an den Aufenthalt in Le Havre zusammen mit seinen Tiroler Freunden Stadler und Christian Thöni. Der kunstsinnige, wie genussfreudige Defregger war angetan vom guten Landwein, den Restaurants und Museen. Er studierte die alten Meister im Louvre und die zeitgenössische Kunst im Museé du Luxembourg. Resümierend hielt Defregger am Ende seines Lebens in seinen auf 72 handschriftlichen Manuskriptseiten niedergelegten Lebenserinnerungen fest:
„Die Eindrücke, die ich vom Pariser Salon mitgenommen hatte, blieben sehr lebendig in meinem Gedächtnis und eiferten mich an, Bilder zu entwerfen.“
In der Metropole Paris wurde ihm jedoch klar, dass er seine Themen vielmehr in der eigenen Heimat finden würde.
Nach diesen sich lange hinziehenden künstlerischen Anfangsschwierigkeiten, entwickelte sich sein folgender Karriereaufstieg umso schneller.
Dem 32-Jährigen gelang im Sommer 1867 endlich der lang ersehnte Eintritt in die Meisterklasse Pilotys, zu dessen Schülern damalige berühmte Namen, wie Franz Lenbach, Eduard Grützner, Eduard Kurzbauer und Defreggers Ateliergenossen Hans Makart und Gabriel Max zählten. 1876 wurde Defregger Pilotys Nachfolger.
Bereits sein akademisches Erstlingswerk „Der verwundete Jäger“ (1867), das ihn erstmals einem größeren Publikum bekannt machte, brachte ihm im Münchner Kunstverein den ersten Achtungserfolg sowie die verhältnismäßig hohe Summe von 700 Gulden ein. Mit „Speckbacher und sein Sohn Anderl“ (1869), seinem Auftaktbild zu einer Reihe von Werken zum Thema Tiroler Befreiungskampf, gelang ihm der nationale wie internationale Durchbruch.
Kurz nach seiner Vollendung wurde es vom Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum erworben. In dichter Folge entstanden Meisterwerke für die Sammlungen großer Museumshäuser: „Der Ringkampf “ (1870) in Köln, „Das letzte Aufgebot“ (1874) in Wien, „Das Tischgebet“ (1875) in Leipzig, „Abschied von der Sennerin“(1877) in Dresden, „Andreas Hofers letzter Gang“ (1878) und „Die gebissene Gans“ (1880) in Königsberg, „Die Erstürmung des roten Turmes (1880) in München „Holzknechte in der Sennhütte“ (1880) in Hamburg, „Heimkehr der Sieger“ (1876) und „Der Salontiroler“ (1880) in Berlin und viele mehr.
Das Jahr 1873 zählte dabei zu den entscheidendsten in Defreggers Leben. Auf der von mehr als 7 Millionen Menschen besuchten Wiener Weltausstellung konnte der Maler nicht nur sein Werk „Ball auf der Alm“ (1872) für beachtliche 20000 Florin (Goldmünze in Österreich bis 1892) verkaufen, sondern gewann die Goldmedaille für „Das Preispferd“.
Wenn Kunst ein Medium der Selbstvergewisserung ist, dann verarbeitete Defregger vermutlich auch eigene Fremdheits- und Integrationsserfahrungen. Das großformatige Gemälde verleitet zu der verführerischen These, es handle sich hierbei um ein Schlüsselwerk, lesbar als allegorisches Freundschaftsbild, das die beiden Nachbarländer Tirol und Bayern vereint. Von den Bewohnern eines Tiroler Dorfes wird ein kräftiger Hengst bewundert, der bei der Viehschau auf dem Münchner Oktoberfest einen Preis gewonnen hat.
Das Werk befindet sich heute im Milwaukee Art Museum. Es gastierte im vergangenen Jahr im Innsbrucker Ferdinandeum im Rahmen der großen Retrospektive „Defregger – Mythos, Missbrauch, Moderne“.
Breiten Raum nahmen in der Ausstellung neben seinen populären Werken auch Defreggers weniger bekannte Gemälde ein: Interieurs, Landschaften, Aktdarstellungen, Porträts seiner Freunde und Familienbilder.
Die Vielzahl der Porträts seiner Frau und Kinder, die teilweise auch nach Fotografien entstanden, sind private Erinnerungsbilder.
Vieles bleibt unvollendet und wirkt skizzenhaft auf diesen Gemälden, die nicht für den Verkauf gedacht waren.
Als Untermieter bei Josef und Anna Müller in München lernte Defregger deren Tochter Anna, seine spätere Frau, bereits als 6-jähriges Mädchen kennen. Das Paar heiratete 1872. Die Hochzeitsreise führte an den Tegernsee und nach Bad Tölz. In diese Zeit datiert seine impressionistisch anmutende Ölskizze die „Sommerfrische“ .
Noch im selben Jahr übersiedelte Defregger aus gesundheitlichen Gründen mit seiner 16 Jahre jungen Frau ins wärmere Bozen. Von seiner rheumaähnlichen Erkrankung, ausgelöst durch Verkühlung bei einem Ausflug ins Isartal, erlöste ihn der Dölsacher Bauerndoktor Franz Obersteiner. Mittels Baunscheidtismus, einem der Akupunktur vergleichbarem Verfahren, brachte dieser Defregger wieder auf die Beine. Aus Dankbarkeit schenkte ihm der genesene Maler sein berühmtes Werk “Der Zitherspieler”. Es zählt zu den meistkopierten Werken Defreggers.
Seiner Heimatgemeinde stiftete Defregger sein Dölsacher Altarbild „Heilige Familie“, das er in München auf dem Krankenbett 1872 vollendet hatte. Vollständig genesen kehrte er 1875 mit Frau und seinem in Bozen erstgeborenen Sohn Robert nach München zurück. Im Schönfeldviertel der heutigen Maxvorstadt hatte er bereits im Sommer 1874 ein zweistöckiges Haus am Englischen Garten gekauft, das er sechs Jahre später durch einem palazzoartigen Neubau nach den Plänen seines Freundes Georg von Hauberrisser ersetzen ließ. Sein erweitertes mehrräumiges Gartenatelier war zugleich Arbeitsstätte und gut besuchter Showroom.
Zu den zahlreichen Atelierbesuchern zählte auch der bürgernahe bayerische Prinzregent Luitpold, bekanntlich ein Kunstmäzen und passionierter Jäger, den Defregger auf zwei Gemälden im Jagdgewand vor Alpenlandschaft porträtierte.
Die auf Tradition und Identität verweisende Tracht wurde salonfähig, seit Monarchen der Herrscherhäuser Habsburg und Wittelsbach sich darin präsentierten. Was in der Kleidermode durch wechselseitigen Austausch von Stadt und Land entstanden war, mutierte zur Tourismus fördernden Uniform.
Wie ein Zeitungsfoto von 1910 nahelegt, präsentierte sich Defregger, der selbst über einen Fundus regional unterschiedlicher Tiroler Trachten verfügte, bei öffentlichen Auftritten (hier gemeinsam mit seinen Söhnen Hermann und Friedrich beim Volkstrachtenfest des Künstler-Sängervereins) im Trachtenkostüm.
Mit Fug und Recht kann Defregger als Mitbegründer des um 1900 aufblühenden Alpen- und Trachtenfolklorismus gesehen werden.
Dies unterstreicht auch ein Foto, das den 65jährigen Defregger mit Zigarre elegant im schwarzen Anzug zeigt, umgeben von einer Truppe Berliner „Salontiroler*innen“. Es entstand beim informellen „Bierabend“ mit Zithermusik und Schuhplattler im Berliner Künstlerhaus am Vorabend der Eröffnung seiner bis dato größten Einzelausstellung (mit 150 Werken), organisiert vom Verein der Berliner Künstler. Wie die Allgemeine Zeitung berichtete, kommentierte der mit seiner Frau angereiste Maler die von den Mitgliedern des Berliner Alpenvereins aufgeführten Tänze scherzhaft:
„Um echte Tiroler zu sehn, muss ma nach Berlin gehn“.
Wissenschaftliche Erforschung und touristische Erschließung gingen im Zeitalter der neuen Mobilität durch den rapiden Ausbau des staatlichen Eisenbahnnetzes Hand in Hand, als 1869 – sieben Jahre nach dem Österreichischen – der Deutsche Alpenverein und die Berliner Sektion gegründet wurden. Bezeichnenderweise war die Berliner Hütte, die in den Zillertaler Alpen 1879 errichtet wurde, der erste und lange Zeit auch komfortabelste Hüttenbau des Deutschen Alpenvereins, ausgestattet mit Telefonanschluss, Dunkelkammer für die Entwicklung von Fotomaterial, später auch mit Postamt und einer Schusterwerkstatt.
Wer damals den Spuren Defreggers in Südtirol folgte und die höchst gelegene Schutzhütte in den Stubaier Alpen, das Becherhaus (auch bekannt als Kaiserin-Elisabeth-Schutzhaus) besuchte, konnte im ursprünglichen Speisesaal ein von Defregger in Öl gemaltes Scheibenbild entdecken: mit der Darstellung einer Sennerin im tete à tete mit einem Jäger vor Alpenkulisse.
Seiner Hommage in Berlin folgte 1901 die Einzelausstellung in Wien, organisiert von der Genossenschaft. Im Künstlerhaus wurden von Defregger 121 Werke gezeigt, darunter auch Studien und Skizzen, die, wie zuvor in Berlin, eine Neuentdeckung des mehr oder weniger totgesagten Malers bedeuteten. Einen Perspektivwechsel läutete auch die Berliner Jahrhundertausstellung 1906 ein, bei der Defreggers weniger bekannte Frühwerke gezeigt wurden, darunter auch die Landschaft „Ederplan“. Unterhalb der Bergkuppe Ederplan nahe seines Geburtsortes Stronach schuf Defregger 1882 für sich und seine Familie ein Refugium der Sommerfrische, ein Blockhaus, das er 1887 dem Österreichischen Touristenclub stiftete.
Eine Alm oberhalb von Spinges nahe Brixen wurde für den publikumsscheuen Defregger fortan zum neuen Rückzugsort abseits von Autogrammjäger*innen, Ausstellungen, akademischem Lehrbetrieb, Galeristenforderungen und gesellschaftlichen Verpflichtungen.
Bereits zu Lebzeiten wurde Defregger, dessen Werke sich bereits bei Bestellung beim Meister im hochpreisigen Segment bewegten, kopiert und gefälscht. Defregger kopierte sich auch selbst, was bei Kunstkritikern und Kollegen nicht unbemerkt blieb. Zahlreiche Kopien seiner Historienbilder einschließlich seines Selbstbildnisses entstanden unter seiner Aufsicht für einen Defregger-Saal im Innsbrucker Landesmuseum Ferdinandeum. Die ausführenden Künstler waren Joseph Moroder-Lusenberg, Ludwig Schmid-Reutte, Albin Egger-Lienz sowie die Künstlerinnen Emma Müller, Edle von Seehof und Marie Simm-Mayer.
Der Schweizer Theologe Arthur-Augustin Taponier stellte diesbezüglich fest, dass Innsbruck nicht mehr Innsbruck sei, sondern „Defreggeropolis“. Je schneller das lange 19. Jahrhundert sich auf sein Ende hinzubewegte, rückte der Name Defregger zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik. Dabei spielten, wie sein Landsmann Albin Egger-Lienz vermutete, auch pekuniäre Gründe eine entscheidende Rolle:
„Die wahre Schwäche des Malers Defregger ist der Oekonom Defregger. Er verfährt wie ein auf das Theaterpublikum angewiesener Theaterdirektor, setzt nur Gangbares auf sein Repertoire, um erstens gegen den allgemeinen Geschmack nicht zu verstoßen und zweitens, um ein volles Haus zu haben“,
bemerkte Egger-Lienz anlässlich Defreggers 80. Geburtstages und fand einleitend auch bewundernde Worte für den Meister:
„Als ich das erste Mal, als Siebzehnjähriger, Defregger in seinem Münchener Atelier besuchen durfte, hatte ich ungefähr das Gefühl, das der Katholik hat, wenn er vor dem Papst steht. Er war für mich ein Heiliger. Worte fand ich nicht, mein bewegtes Herz zu erleichtern, so griff ich in der Verwirrung nach seiner Hand und küsste sie.“
Der 80jährige Defregger reagierte jovial und schrieb dem eine Generation jüngeren Maler eigenhändig folgende erhellende Briefzeilen (originale Schreibweise):
„Lieber Herr Kollege!
Ihr Aufsatz in dem Tiroler Anzeiger der mir zugeschickt wurde hat mich sehr interessiert. Ich war erstaunt u zugleich erfreut. Daß ich bei Ihnen solche Anerkennung fände hätte ich nicht gedacht. Aber diese Obiecktivität wird Ihnen sicher nicht zur Unehre gereichen, denn was einem gut erscheint, in welcher Form, u in welcher auffaßung es auch gehalten sein mag, soll u muß man gelten lassen was aber leider nur die wenigsten tun. Was in Ihren Aufsatze den zweiten Theil, den ökonomischen anbelangt den Sie besprechen u mit Recht kritisieren; Sie werden dabei die Fabrikation der vielen Köpfe im Auge haben; so entsprang dieselbe nicht einer Geldmacherei wie Sie meinen, sondern einer gewissen Nachgiebigkeit u Bequemlichkeit. Wenn man ersucht wird, eine Tirolerin oder einen Tiroler zu liefern weil man nicht viel Geld ausgeben kann u will, so nimmt man eine solche Bestellung an, weil es bequemer ist als das Bilder malen. Denn wenn man alt wird, rafft man sich nicht so leicht mehr auf, auf Reisen zu gehen um neue Eindrücke u Studien zu sameln. Einträglicher wäre wohl das Bilder malen.
Mit besten Gruß ergebenst F. Defregger“
In den Jahren davor war der Künstler durchaus gerne gereist. So besuchte er 1904 Rom, wo er sich beim Zusammenstoß seiner Droschke mit der elektrischen Straßenbahn den rechten Arm brach. 1907 folgte er der Einladung des deutschen Kaisers Wilhelm II. nach Trondheim.
1910 begleitete er seine Familie nach Spanien und Marokko und war im Jahr darauf in Palästina. In seinem Nekrolog (Nachruf) ließ Hermann Roth Defreggers Reiseaktivität im fortgeschrittenen Alter nicht unerwähnt:
“Der 76jährige ist reiselustig, sportlich und ein ausdauernder Reiter […] bei einer Orientfahrt hatte er […] einen etwa zwölfstündigen Ritt unternommen, nachdem die anderen wie gebrochen aus dem Sattel stiegen, während sich Defregger keine Müdigkeit anmerken ließ.”
Defregger starb am 2. Januar 1921 in seinem 86. Lebensjahr in seiner Münchner Villa. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Münchner Nordfriedhof.
Über die Autorin:
Die gebürtige Berlinerin Angelika Irgens-Defregger studierte Archäologie, Psychologie und Kunstgeschichte in München und schloss mit einer Arbeit über Die Architektur des Deutschen Museums München ab. Nach ihrer Tätigkeit im Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege arbeitet sie heute als freie Kulturjournalistin.
Die Ausstellung Der andere Defregger, 2010 in München war der Auftakt, sich mit dem Maler, der ihr Tiroler Schwiegerurgroßvater ist, zu beschäftigten. Es folgten zahlreiche Publikationen und die Arbeit im Kuratorenteam der großen Defregger Retrospektive 2020 im Landesmuseum Ferdinandeum in Innsbruck.
Beim Münchner Allitera Verlag ist 2021 das von ihr herausgegebene Buch „Franz von Defregger“ – Lebenserinnerungen eines „Malerfürsten“ erschienen, hier zu bestellen. Das Buch mit vielem unveröffentlichten Bild- und Quellenmaterial versteht sich als Einladung, das Gesicht des Künstlers hinter der Ikone zu entdecken.
Eine Künstlerin, die gleichfalls eine ganze Reihe von Bildern rund um das Leben auf dem Land in Norddeutschland schuf, deren Stil konträr war und die zu ihren Lebzeiten kaum ein Bild verkaufte, ist die Malerin Paula Modersohn, hier der Link zum Gastartikel von Uwe M. Schneede über sie.
Wer sich für das Landleben Anfang des 20. Jahrhunderts interessiert, findet hier die Einführung mit weiteren Links.