Aufbruch in die Moderne – Paula Modersohn-Beckers einzigartige Kunst

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Ein Gastbeitrag von Uwe M. Schneede

Als Paula Modersohn-Becker am 20. November 1907 im Alter von 31 Jahren nach der Geburt ihrer Tochter Mathilde starb, hinterließ sie ein beeindruckendes, umfangreiches Werk: mehr als 700 Gemälde und über 1000 Zeichnungen. In seiner vollen Bedeutung für die moderne Kunstgeschichte wird es erst seit kurzem international anerkannt. Vor wenigen Jahren waren gewichtige Ausstellungen in Humlebaek bei Kopenhagen und in Paris unerwartet erfolgreich. Letztes Jahr lief eine große Übersichtsausstellung in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt, und in den nächsten Jahren sollen die ersten amerikanischen Einzelschauen in New York und Chicago folgen.

Was ist es, das diese künstlerische Bedeutung ausmacht? Dazu muss man sich ihren Werdegang und ihre Stellung in der Zeit vor Augen führen. Paula Becker wurde in Dresden geboren, war dann mit ihrer gutbürgerlichen Familie nach Bremen umgezogen und schließlich nach ersten privaten Zeichenstunden in Berlin  – die staatlichen Akademien waren Frauen damals noch verschlossen – von der Bürger- in die Künstlerwelt übergetreten: Sie ließ sich als 22-Jährige in der damals beliebten Künstlerkolonie Worpswede nicht weit von Bremen nieder. In solchen dörflichen Gemeinschaften sammelten sich Gleichgesinnte, um ein einfaches, möglichst urwüchsiges Leben abseits der großen Städte zu führen und im Einklang mit der Natur zu schaffen.

Paula Becker wurde hier halbwegs heimisch, aber ihre nun eifrig betriebene Kunst wurde von den männlichen Kollegen nicht wahrgenommen, allenfalls von dem elf Jahre älteren Maler Otto Modersohn, den sie 1901 heiraten sollte.

Sie war noch gar nicht ganz in Worpswede angekommen, da hatte sich bereits gezeigt, dass sie ihren Handlungsspielraum nach der Lösung vom Elternhaus und vom bürgerlichen Leben nun erst recht auszuweiten gedachte. „In der Ferne“, schrieb sie gleich am ersten Worpsweder Tag, „glüht, leuchtet Paris“, Paris sei ihr „stillster, sehnlichster Wunsch“. Die Worpsweder Künstler schienen ihr auch bald zu provinziell, zu sehr rückwärtsgewandt, nicht wirklich zukunftsorientiert, wie sie sich die  Kunst in der Moderne vorstellte.

Die Weltstadt der Kunst versprach den Weg in diese Moderne, das ersehnte Zukünftige. So brach sie in der Silvesternacht 1899 dorthin auf, erst mit der Postkutsche nach Bremen, dann 17 Stunden per Bahn im Damenabteil. Am Neujahrstag betrat sie zum ersten Mal Pariser Boden. Es muss ein ungewöhnlich starker Antrieb gewesen sein, der die 23-jährige, privat ausgebildete Malerin aus der Provinz in den Stand setzte, auf volles Risiko allein zu reisen (normalerweise versicherten sich allein reisende Frauen einer weiblichen Begleitung). Was sie in Paris erwartete, war ein neues Jahrhundert, das Jahrhundert der Moderne und der künstlerischen Aufbrüche.

Paula Modersohn-Becker lebte und arbeitete zwischen zwei Generationen deutscher Künstler; die jüngere brach radikal mit der voraufgehenden. Die beherrschende ältere Generation wurde von den aus dem Spätimpressionismus hervorgegangenen Malern Max Liebermann und Lovis Corinth angeführt.

Sie hielten nach Modersohn-Beckers Urteil zu stark an der Vergangenheit fest. Dagegen wollte sie eine Künstlerin sein, die, wie sie schrieb, „die Convention bewusst von sich thut“ . Aber die Neuerer der jüngeren Generation, die eben dieses Vorhaben auf vielfältige Weise verfolgten – Ernst Ludwig Kirchner, Max Beckmann, Franz Marc oder Wassily Kandinsky –, waren noch nicht in Sicht und daher keine Stütze

Erst gegen Ende der 1910er Jahre, nach dem Tod von Modersohn-Becker, traten die Avantgarden mehr oder minder lautstark in Erscheinung. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts aber pausierte die Kunst in Deutschland. So suchte sie sich die Vorbilder und Anregungen wie zwangsläufig in Paris. Sie war es schließlich, die in den wenigen Schaffensjahren, die ihr bis 1907 blieben, die Lücke zwischen dem 19. und dem 20 Jahrhundert künstlerisch mit einem eigensinnigen Werk ausfüllte und damit zugleich den Weg für die jungen Neuerer bahnte.

Aber sie fand keine Strukturen vor, die sich für Neuerer wie sie offen zeigten. Noch fehlten die wirksamen Fürsprecher, die Galeristen, die Sammler, die Mäzene der Avantgarden. Nur zwei Mal hat Paula Modersohn-Becker zu ihren Lebzeiten ein paar Bilder ausstellen können, beim ersten Auftritt in Bremen gab es einen so vernichtenden Verriss, dass sie ihre Arbeiten sogleich zurückzog. Gerade vier Werke konnte sie verkaufen, zwei von ihnen an Freunde wie den Dichter Rainer Maria Rilke und den Worpsweder Künstler Heinrich Vogeler. Auf sich gestellt, musste sie ihren Weg allein finden. „Im ganzen geschah alles in unerhörter Einsamkeit“, hat die Schwester der Künstlerin, Herma Weinberg, bezeugt.

Mit nicht nachlassender Neugierde vergewisserte sich Modersohn-Becker auf Reisen durch Deutschland, die Schweiz, Österreich und bei mehreren Aufenthalten in Paris der alten Kunst und suchte dabei zugleich die Bestätigung für ihren eigenen Künstlergeist.
In Paris ließ sie sich zudem auf fremde Kulturen ein, ging wieder und wieder in den Louvre, ihren Lieblingsort, besuchte auf der Weltausstellung von 1900 mehrfach die großen internationalen Kunstausstellungen und befasste sich schließlich beim Besuch von Privatgalerien vor allem mit den allerjüngsten Produktionen französischer Kollegen. So war sie bald auf dem Laufenden, was die alte und die aktuelle Kunst anging.

Sie blieb Worpswede verhaftet, kehrte dorthin zurück, bis sie sich 1906 von ihrem Mann und von der Künstleridylle trennte und nach Paris umzog. Kaum einer der vielen deutschen Künstler, die Paris inspirationshalber besuchten, hat diesen Mut aufgebracht. So ging sie in ertrotzter Unabhängigkeit ihren eigenen Weg. Der Kritik aus der Familie, sie handele zu eigensinnig, widersetzte sie sich selbstbewusst:

„Ihr müsst mich schon alle mit meinem Egoismus nehmen, ich werde ihn nicht los, er gehört zu mir wie meine lange Nase.“

Auch mit ihren Bildmotiven blieb sie in Worpswede verankert. Allerdings ging sie, wenn sie Landschaftsmotive, Kinder oder Armenhäusler malte, ganz anders vor als ihre dortigen Kollegen. Ihr ging es immer um die große einfache Form, und so unterblieben heimatliche oder sentimentale Details; das Wesentliche wurde aufgegriffen. Sie porträtierte nackte Birken, als seien es widerständige Individuen, sie gab Kinder stark vereinfacht unkonventionell als Inbilder des ungewissen Kommenden wieder, und sie zeigte die sonderlichen Armenhäuslerinnen in ihrer fremd anmutenden Naturhaftigkeit. Auch die dunklen, oftmals dennoch leuchtenden Farben bezog sie aus der norddeutschen Gegend. Der französische Impressionismus mit seinen lichten Farben war ihr fremd.

So ist ihre Kunst eine seltene Verbindung aus Worpswede und Paris. Denn mochten die Motive auch aus der Provinz stammen, ist die Auffassung vom Bild doch den vielen Anregungen zu verdanken, die sie in Paris empfing, in Museen, Galerien, Privatsammlungen und auch in Ateliers namhafter Kollegen.

Mit ihrer Kunst war sie in ständiger Bewegung. In einer zweiten Phase malte sie Kinder frontal aus der Nähe und dennoch entrückt, im weiteren Verlauf wurden sie mit Attributen wie Blumen, Früchten oder Gefäßen beeindruckend in eine rituell anmutende Bildwelt parallel zur Wirklichkeit versetzt.

Ein besonderes Kapitel bedeuten die (wenigen) Bildnisse von Freunden und die (zahlreichen) Selbstbildnisse. Mit ihnen kam es zu einer säkularen Entwicklung innerhalb weniger Monate im Jahr 1906. Aufgrund erster Erfahrungen mit der Befreiung der Bildmittel von der direkten Abbildung und Ähnlichkeit, zugleich angeregt durch afrikanische Masken und Skulpturen, die sie im Pariser ethnographischen Museum beeindruckt hatten, konnte sie ihren spezifischen Darstellungsmodus ausbilden – die neue „große Einfachheit der Form“. Das geschah zeitlich parallel zu maskenartigen Veränderungen, die Picasso seinen Gestalten zufügte, was zu seiner grundlegend neuen Auffassung von der kubischen Durchdringung der Figuren und Gegenstände und damit zum kubistischen Bild führte.

Vom Sommer 1906 bis hinein ins Jahr 1907, das ihr letztes sein sollte, entstand eine Reihe von Selbstbildnissen, die herausragen und die in der Kunstgeschichte der Moderne alleinstehen. Auch sie wurden in Paris geschaffen. Als sie in ihrer Jugend jemanden porträtiert hatte und dem das Resultat so sehr missfiel, dass er, wie sie berichtete, „mit rachsüchtigen Gedanken von uns schied“, notierte sie im April 1893: „Seitdem zeichne ich mein eures Spiegelbild, und das ist wenigstens tolerant.“ Die Idee vom duldsamen Spiegelbild führte tatsächlich dazu, dass sie sich von nun an die Freiheit nahm, ihre eigenen Konterfeis umzugestalten, auch um ihnen eine zusätzliche Bedeutungsebene hinzuzufügen.

Die oft schmalen Hochformate der Selbstbildnisse aus diesen beiden letzten Jahren lassen an die ägyptischen Mumienbildnisse aus den Fayum denken, die Paula Modersohn-Becker voller Bewunderung im Louvre kennengelernt hatte. Sowohl diese eindringlichen hochkulturellen Bilder als auch die afrikanischen Stammeskulturen führten sie zu hieratisch wirkenden, zuweilen männlich anmutenden Selbstbildnissen. In ihnen wird nicht das Äußere akribisch wiedergegeben, sondern ein symbolisches Ich entworfen, das vom kühnen Selbstverständnis der Künstlerin in der Moderne zeugt, vor allem von ihrem Selbstbewusstsein als gleichberechtigte Schöpferin auf dem Terrain der neuen Kunst.

Paula Modersohn-Becker war eine Einzelgängerin, aber sie war auch ein singulärer Teil des Pariser Aufbruchs in die Moderne. Zu dem, was sie in der Hauptstadt der Kunst lernte, gehörte auch, sich nicht um ein mögliches Publikum zu scheren. Beharrlich ging sie ihren Weg. In dem Jahrzehnt, in dem überall in den Pariser Ateliers um die Autonomie des Bildes gerungen wurde, suchte auch sie formal und inhaltlich neue Möglichkeiten für eine eigengesetzliche, aber stets figürliche Malerei.

Dabei feilte sie nicht an einem ureigenen Stil, vielmehr erprobte sie unausgesetzt die vielen stilistischen und malerischen Mittel ihrer Zeit, die sich schließlich eigneten, Figuren zu überhöhen und so eine eigene bedeutungsvolle Ikonographie herauszubilden. Das stille Worpswede blieb zwar ihr motivischer Ausgangspunkt, aber das (in ihren Worten) „gährende“ Paris wurde ihr künstlerisches Zuhause.

Malte sie als Frau anders? Ihre Frauen sehen anders aus, ihre Kinder und ihre Alten sehen anders aus: entrückt, aber selbstbewusst eigenständig in ihrer rituellen Stärke. Darin liegt ein Programm. Die Frauen sind keine Gefahren für den Mann wie bei Edvard Munch, keine Musen wie bei Ernst Ludwig Kirchner und keine gesellschaftlichen Konstrukte wie bei Max Beckmann. Paula Modersohn-Beckers Gestalten bilden einen eigenen Stand ohne Geschlechtlichkeit. Es sind Wesen, die alles enthalten, was die Malerin formal und inhaltlich erprobte. Sie entsprechen ihrem Kunstverständnis und sind deshalb als Verkörperungen einer nachdrücklich auftretenden, gegen Konventionen gerichteten, in die Zukunft weisenden Kunst zu verstehen: „Eine üppige, neugebierende“ Kunst, hatte sie im April 1902 notiert, „die denkt nur an das Zukünftige“. So personifizieren diese Wesen das Selbstverständnis einer Künstlerin, die innerhalb weniger Jahre eigensinnig in die Moderne aufbrach.

Über den Autor

Uwe M. Schneede
1991 bis zur Pensionierung 2006 Direktor der Hamburger Kunsthalle, davor Professor für die Kunstgeschichte der Moderne an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2015 bis 2017 wissenschaftlicher Gründungsdirektor des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste. 2017 Ausstellung Paula Modersohn-Becker. Der Weg in die Moderne im Bucerius Kunst Forum Hamburg.

Autor von Büchern zur modernen Kunst, darunter Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert. Von den Avantgarden bis zur Gegenwart (2001), Die Kunst des Surrealismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film

(2006) und Die Kunst der Klassischen Moderne (2009, 3. Aufl. 2020).

Die Monographie „Paula Modersohn-Becker. Die Malerin, die in die Moderne aufbrach“ ist 2021 beim C. H. Beck Verlag erschienen.

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