Flottenpropaganda am Rhein anno 1900:

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„Es wurde tüchtig getrunken und getafelt.“

Ein Gastartikel von Bernd Ellerbrock

Es war ein spektakulärer Propagandafeldzug. Im Sommer 1900 schickte Kaiser Wilhelm II. eine komplette Kriegsflotte von sieben Torpedobooten den Rhein hinauf – bis nach Karlsruhe und wieder zurück. Wo die „Schwarzen Gesellen“ mit ihren „Blaujacken“ an Bord – „stahlfeste Männer, die die brandende See zu Helden erzogen hat“ –  Station machten, wurden sie von einer marinebegeisterten Menge und den örtlichen Honoratioren voller Hurrapatriotismus enthusiastisch empfangen.

Die sechswöchige Fahrt tief ins Binnenland hatte das Reichsmarineamt von Vizeadmiral Alfred Tirpitz organisiert. Seine Strippenzieher in Berlin zogen sämtliche damals zur Verfügung stehenden Register der Massenbeeinflussung – und die Rheinfahrt einer kompletten Torpedobootsdivision war ihr genialster Coup. Es müsse „Stimmung im ganzen Land gemacht“ werden, hatte der Kaiser angeordnet. Es sollte Druck auf die Reichstagsabgeordneten ausgeübt werden, dem „Zweiten Flottengesetz“, mit dem das Wettrüsten zur See seinen unheilvollen Lauf nahm, zuzustimmen.

Die Festkomitees der insgesamt 49 Besuchsorte hatten veritable Festprogramme für die insgesamt 153 Mann starke Besatzung (darunter auch eine zehnköpfige Militärkapelle) ausgearbeitet, die den „Torpedos“ keine Zeit zum Durchatmen ließen: Veranstaltungen, Festumzüge, Besichtigungen, Einladungen, Empfänge und Kommerse den Rhein hinauf und wieder hinunter. Neben all den kulturellen Darbietungen, schneidigem Tschingderassabum und deutschtümelndem Liedgut, markigen patriotischen Reden und devoten Huldigungstelegrammen an den Kaiser wurden die Marineangehörigen vor allem mit Essen und Trinken beglückt – eine einzige Völlerei.

 

„In jeder Stadt herjeh’,

gab es ein groß’ Diner.

Bloß vierzig Mal gab’s Schinken

und Spargel und zu trinken.

Es war höchste Zeit, dass kam das End’,

es hott kääner mehr gekönnt!

Dick und rund sind sie nach Haus gekommen

man hat damals heimlich dann vernommen,

mancher würd’, weil zuviel gepickt,

nach Karlsbad zur Entfettungskur geschickt.“

(ein Binger Karnevalist)

Selbst im fernen Baltimore/Maryland (USA) war die Torpedobootsfahrt dem dortigen deutschsprachigen „Correspondent“ einen kurzen Bericht wert. Die Menschen an den Ufern des Rheins hätten der kleinen Kriegsflotte nicht nur zugejubelt, sondern auch „Wein in Humpen“, also in Bierseideln, angeboten. Wenn damit gemeint sein sollte, dass Rebensaft in überdimensioniert großen Mengen geflossen war, wurde den amerikanischen Leserinnen und Lesern ein durchaus zutreffendes Bild vermittelt.

Denn eine weinselige und von Alkohol geschwängerte Tour war die Stippvisite an den Rhein in der Tat – und zwar nicht nur, als abseits der Route am 19. Mai der Pfälzer Weinregion ein samstäglicher Besuch abgestattet wurde, der ein einziges Trinkgelage gewesen sein muss. Schon vormittags hatte man die Offiziere zu einem Dejeuner ins Mannheimer Offizierskasino und die Mannschaften ins Ludwigshafener Gesellschaftshaus eingeladen und fürstlich bewirtet. Um Punkt 14.30 Uhr stand dann ein Sonderzug der Pfälzer Eisenbahn im Bahnhof bereit, der erst am späten Abend und nach neunstündiger Fahrt durch die Weinberge wieder in der BASF-Stadt Ludwigshafen eintraf. Der Ausflug in die damals zum Königreich Bayern gehörende Pfälzer Enklave soll ein einziger „Triumphzug“ gewesen sein, berichtete die – freilich äußerst regierungsfreundliche – „Heidelberger Zeitung“: „Enthusiastischer und begeisterter wie in der Pfalz können die Gäste am ganzen Rhein nicht begrüßt worden sein.“

Im Dürkheimer Kurhaus wartete ein weiteres Festmahl auf die Gäste von den Torpedobooten. „Köstliche Weine edelster Sorten standen in großen Mengen auf den Tischen. Bald entwickelte sich ein fröhliches Bankett.“ Und auch in Deidesheim, der nächsten Station, war ein Imbiss im Kasino vorbereitet, begleitet von den „auserlesensten Weinen ältester Jahrgänge“, die von den örtlichen Weingutsbesitzern gestiftet worden waren. Nach nur einstündigem Aufenthalt lief der Sonderzug um 19.00 Uhr in Neustadt ein, wo zunächst die Kellereien des königlich-bayerischen Hoflieferanten Wilhelm Maucher besichtigt wurden, dem sich ein vierstündiges „Kellerfest“ anschloss, auf dem sich „bald ein fröhliches Leben und Treiben entwickelte.“  In welchem Zustand die „blauen Jungs“ gegen Mitternacht ihre Quartiere bezogen, ist nicht überliefert.

Doch der Spott blieb nicht aus. Den Besuch in der Kruppschen Rüstungsschmiede drei Wochen später soll die Division mit einem Telegramm angekündigt haben, über das sich das Satireblatt „Simplicissimus“ gleich doppelt lustig machte: „Werden auch in Essen ansaufen* (*anlaufen)“.  Der sozialdemokratische „Vorwärts“, der erbittert gegen die Flottenvermehrung zu Felde zog, brachte gespieltes Mitleid für die Mannschaften auf, weil sie von „Sauferei zu Sauferei“ geschleppt würden und die ganze Fahrt für sie nur eine „Probe auf die Trunkfestigkeit“ sein würde. Der „Berliner Lokalanzeiger“ sekundierte, dass „in Duisburg die Creme des rheinisch-westfälischen Kohlen- und Industriebezirks versammelt“ sein würde und sprach die Warnung aus: „Hütet euch, junge Seeleute, denn da findet ihr geübte Trinker!“  Ein Journalist vom „Schwäbische Merkur“ machte persönlich Bekanntschaft mit einigen Matrosen und berichtete: „Das Essen und Trinken wurde ihnen fast zu viel, namentlich seien sie die starken Weine nicht gewohnt, die ihnen gleich in den Kopf stiegen. Obwohl nicht wenige der Mannschaften dies sehr gespürt haben, so sei doch bis jetzt keine Ausschreitung vorgekommen.“ Mit anderen Worten: Man hatte einen über den Durst getrunken, wusste sich aber wohl zu benehmen.

Rüdesheims Bürgermeister Julius Alberti (1850 – 1922) war da ganz anderer Meinung: „Man sieht es den heiteren Gesichtern der Blaujacken auf den ersten Blick an, dass sie eine Rheintour zu den Annehmlichkeiten des Dienstes halten.“ Beim abendlichen Kommers hatte der örtliche Turnverein einige akrobatische Stellungen vorgeführt, der Fechtclub seine Künste in verschiedenen Waffengattungen gezeigt und der Gesangsverein „Cäcilia“ vaterländische Lieder vorgetragen. Nachdem auch der Turnergesangsverein seinen Auftritt hatte, natürlich auch mit vaterländischen Liedern, war die Freiwillige Feuerwehr dran. Ihr Brandmeister meinte eine Verwandtschaft „mit den Brüdern zur See“ zu verspüren. „Ein trockenes Hurrah war natürlich bei der Feuerwehr undenkbar und deshalb kreiste wiederum ein Riesenbecher und die Löscharbeit scheint auch diesmal eine gründliche gewesen zu sein“, kommentierte der „Rheingauer Anzeiger“ voller Spott.

Unfreiwillig komisch hingegen „bewunderte“ die „Heidelberger Zeitung“ die Mannschaften, wie „frisch“ sie nach den „Vergnügungsstrapazen“ der letzten Wochen noch ausgesehen hätten. In der Tat galten die Marinesoldaten im Kaiserreich als besonders trinkfest und feierfreudig. So war das im Heidelberger Schlosskeller bereitstehende Weinfass mit der Aufschrift versehen worden: „Fest auf Verdeck könnt ihr bei Sturm und Wetter stah’n. Ihr schwankt auf festem Grund wenn’s euch das große Fass hat angethan.“  Zu diesem Zeitpunkt hatte die Besatzung freilich noch vier weitere Wochen dieser „Vergnügungsstrapazen“ vor sich und konnte sich vor Begrüßungs- und Ehrentrunks, Frühschoppen, Festessen, Festmalen, Banketten und Bewirtungen kaum retten. Auch nicht vor so manch einer zweifelhaften Belustigung wie etwa in Boppard, wo im Gasthof „Hirschen“ – wohl zu später Stunde – mit „torpedoähnlichen“ Rheinweinflaschen „gut sitzende Schießversuche“ auf das Ziel „Hoch der Deutschen Flotte“ unternommen wurden.

In den Akten des Ludwigshafener Stadtarchivs finden sich die Rechnungen des Restaurantbetreibers Funk, der die Bewirtungen auf dem Festschiff ERNST MORITZ ARNDT und in dem von ihm betriebenen Gesellschaftshaus übernommen hatte. An der Ehrentafel am Abend des 17. Mai hatten 46 Personen Platz genommen, an die während des Dines insgesamt 112 Flaschen Wein, 31 Flaschen Champagner der Marke Moet & Chandon und 26 Flaschen Wasser ausgeschenkt wurden. Die Musikkapelle trank 65 Flaschen Bier. Für 30,25 Mark wurden Zigarren geordert, die zusammen mit den Getränken die stolze Summe von 994,85 Mark ergaben. Auf das Festschiff lieferte Funk 169 Liter Bier (davon 75 Liter für die „Musik“ und 15 Liter „für die Leute vom Bezirkskommando“), 158 Flaschen Wein, 376 Glas Bier zum „Frühschoppen“ für die Mannschaften, 67 Zigarren, sechs belegte Brote, 10 Mittagessen „für die Schutzleute“ sowie weitere 202 Mittag- und Abendessen.

In Köln mussten Matrosen beim Abschlussball ein drei Meter großes Blumenschiff in Gestalt des Divisionsbootes in den Saal schieben. Die tanzenden Paare entnahmen dem Schiff kostbare Blumen für die Damen und Erinnerungsfähnchen für die Herren. Das Blumenschiff wurde immer wieder nachgefüllt, denn an dem Ball nahmen immerhin 900 Personen teil. Es war auch eine der wenigen Veranstaltungen, an denen die reine Männerwelt aus Honoratioren, Mitgliedern patriotischer Vereine und Marineangehörigen nicht unter sich geblieben waren, sondern auch „die holde Weiblichkeit zu ihrem Rechte“ kam.

„Wir haben auf unserer Fahrt selten Gelegenheit gehabt, mit den verehrten Damen der rheinischen Gesellschaft zusammen zu sein. Umso größer ist unsere Freude, hier gleich am ersten Abend die werten Damen kennenzulernen,“ betonte Kommandant Funke in seiner Ansprache beim Festkommers in den Düsseldorfer Tonhallen, wo das Publikum im musikalischen Begleitprogramm den schauerlichen „Sang an Aegir“, getextet und angeblich auch komponiert von Seiner Majestät dem Kaiser persönlich ertragen musste („Oh Ägir, Herr der Fluten, dem Nix und Nex sicht beugt“).

Wenn die „anstrengende Rheinfahrt“ vorbei sei, so merkte Kommandant Funke in Godesberg augenzwinkernd an, könnten sich die Mannschaften im „Badeort“ ja von ihren „zerrütteten Nerven“ erholen. Selbst der Kaiser soll sich, als er in Mainz die Torpedoboote besuchte, in „liebenswürdiger Weise“ nach dem Befinden der Mannschaft erkundigt haben: „Es hat sich doch bisher keiner den Magen verdorben?“ „Nein Majestät“, sei die Antwort gewesen. Und als sich die Fahrt in Ruhrort allmählich dem Ende zuneigte, kommentierte die „Rheinische Volksstimme“ nur noch lapidar: „Im Übrigen ging’s wie überall: Es wurde tüchtig getrunken und getafelt.“

Allein auf der Fahrt bis Worms soll den Mannschaften insgesamt 26 Mal das Saisongericht „Spargel mit Schinken“ serviert worden sein, was ihnen neben dem Spitznamen „Teerjacken“ auch noch den der „Spargelfritzen“ einbrachte. So war man in Neuss ganz stolz darauf, genau das nicht getan zu haben: „Küche und Keller waren bei Frau Pelzer in besten Händen und ihr Verdienst ist es nicht allein, dass sie die Gäste von dem landesüblichen Jubiläums-Schinken mit Spargel’ verschont hat“, lobte die örtliche Presse. „Wir hörten von Torpedooffizieren, dass sie selten so reich und in der Art immer so ausgezeichnet gespeist hätten – und das will nach all den Festtagen viel heißen.“

Leisten freilich konnten sich solche Festessen wirklich nur die gut Betuchten, denn ein Preis von in der Regel 4 Mark für ein „trockenes Gedeck“ (also ohne Getränke) war für einen Arbeiter oder kleinen Angestellten kaum erschwinglich. „Zu einer großen Esserei ladet die Stadtverwaltung ein. Zweck des Essens ist, sich den Magen zu füllen aus Anlass der Rückkunft der Torpedoboote. Natürlich muss das ‚trockene’ Essen recht teuer bezahlt werden, so teuer pro Person, wie sich’s eine vielköpfige Arbeiterfamilie nicht einmal an den höchsten Festtagen erlaubt. Und was mag wohl an edlem ‚Nass’ durch die patriotischen Gurgeln gejagt werden!“ kommentierte die sozialdemokratische „Volkstribüne“ wohl nicht ganz unzutreffend.

Selbst im Deutschen Reichstag war die wochenlange Völlerei mit edlen Weinen und mehrgängigen Essen ein Thema, was aber eher zur Belustigung der Abgeordneten beitrug. So kommentierte Eugen Richter von der Freisinnigen Volkspartei und erklärter Gegner der Flottenrüstung, dass es „allerdings eine Erfindung der böswilligen Nörgler [sei], dass die Torpedobootsdivision deshalb ihre Fahrt rheinaufwärts hat einstellen müssen, weil die gute Verpflegung das Gewicht der Matrosen derartig verstärkt hat, dass der Tiefgang der Schiffe ein zu großer geworden war.“ Richter sprach als letzter anlässlich der Beratung der Flottennovelle in 2. Lesung. Das Protokoll verzeichnet: „Große Heiterkeit“, denn das große Divisionsführungsboot musste tatsächlich – allerdings wegen fallendem Rheinpegel – in Koblenz zurückgelassen werden.

Wenige Tage zuvor hatte die Düsseldorfer Firma Wilhelm Stein & Co. – Weingroßhandel und Likörfabrik – jedem Mitglied der Besatzungen eine Flasche ihres bekannten Magenbitters „Alter Schwede“ zukommen lassen mit der süffisanten Widmung „Zur Stärkung des angegriffenen Magens nach langer Festfahrt“, die am Samstag, den 16. Juni in Emmerich endete. Die Division wurde vom Kommandanten Funke mit einem letzten „Hurrah“ auf den Kaiser zwei Tage später in Wilhelmshaven aufgelöst.

Das Gesetz, mit dem sich die Anzahl deutscher Schlachtschiffe auf einen Schlag verdoppelte, war bereits am 12. Juni 1900 vom Reichstag verabschiedet und die noch heute existierende „Sektsteuer“ zur Finanzierung der Dickschiffe war gleich mit auf den Weg gebracht worden.

Über den Autor

Als ich in Kontakt mit Bernd Ellerbrock und dem Thema „Flottenpropaganda“ kam, war meine erste Reaktion: „Zum Thema Militär habe ich wenig Affinität“. Aber er überzeugte mich, denn das Militär spielte in der Kaiserzeit eine große Rolle – und damit natürlich auch im damalige Alltagsleben. Vollends überzeugt wurde ich durch seinen Artikel, der alleine durch die nüchterne Beschreibung der Geschehnisse die unfreiwillige Komik des übersteigerten militärischen Repräsentationsbedürfnisses gerade auch der bürgerlichen Schichten aufzeigt.

Bevor sich Bernd Ellerbrock als Autor und Fotograf selbstständig machte, war er 30 Jahre im Öffentlichen Dienst tätig. Verantwortlich für die Finanzierung des neuen Tiefwasserhafens in Wilhelmshaven wurde sein Interesse für die Seeschifffahrt geweckt. Er reiste auf Frachtschiffen mit, schrieb darüber Reportagen und veröffentlichte ein Sachbuch darüber. Dann wandte er sich der Binnenschifffahrt zu und veröffentliche zwei Bücher über das in der Kaiserzeit entstandene nordwestdeutsche Kanalsystem, die als Standardwerke gelten. Eine von Millionen in der damaligen Zeit populären Ereignis-Ansichtskarten machte ihn stutzig und neugierig: Was hatte eine ganze Flottille von Torpedobooten der Kaiserlichen Marine auf dem Rhein zu suchen? Wer hatte sie dorthin geschickt? Was war ihr Auftrag?

Dieser Artikel ist ein Auszug aus seinem neuesten Buch „Schwarze Gesellen auf dem Rhein – Flotten-Agitprop anno 1900“, in dem er nicht nur den Propagandafeldzug selbst mit vielen Details lebendig beschreibt, sondern auch dessen Hintergründe und Vorgeschichte ausführlicher als im Artikel erzählt. Erhältlich ist es hier.

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