Vom Rock zur langen Hose
Bilder von Hosenrock-Trägerinnen aus der Zeitschrift „Die Woche“ 1911
Zu den modischen Neuerscheinungen der Zeit gehört die lange Hose, von deren Existenz deutsche Bildpostkarten nicht ohne Aufregung berichten. Sie initiiert eine Diskussion über Beinkleider »zu einer Zeit, als vornehme Damen offiziell weder Beine noch ein Geschlecht hatten«.[1] Die Vorteile für die Trägerin liegen auf der Hand, sie kann sich frei bewegen, längere Strecken zurücklegen und sich von ihrem häuslichen Umfeld nach Belieben entfernen. Damit steht bei der Herrenhose mehr zur Diskussion als eine neue Mode. Wenn Frauen daran Gefallen finden, so fürchtet man, beginnt allmählich ihr Einzug in die Männerwelt.
Auf Abbildung 1 mit dem Titel »Mode 1911!« rangiert die lange Hose als eine der spektakulären Neuheiten. Das Ausrufungszeichen hinter dem Titel gibt die Überraschung und den sozusagen hinter vorgehaltener Hand geäußerten Spott der Neuen Photographischen Gesellschaft (NPG) wieder, aus deren Fundus das Atelierfoto stammt.
[1] Gundula Wolter: Hosen – weiblich. Kulturgeschichte der Frauenhose, Marburg 1994, S. 99.
Richtig elegant wirkt die junge Frau auf diesem Bild allerdings nicht. Die überweite, kleinkarierte Sporthose schlackert um die Beine, lässt die Knöchel frei und passt nicht zu dem schmalen, spitzenbesetzten Jäckchen, den dunklen Handschuhen und dem geschmückten Hut. Dafür zeigt der kräftige Ausfallschritt, wie gut sie auf unebenen Sandwegen laufen kann. Eine Wiese und ein von Birken umsäumter Pfad fordern sie zur Eroberung der Natur auf und eröffnen neue Wege, die sie gehen kann, wenn sie nur will. Der Gegensatz zur engen Rockmode könnte nicht größer sein.
Das aus der Männerwelt entlehnte Beinkleid in Kombination mit einem Jackett – ebenfalls die Adaption eines ursprünglich männlichen Kleidungsstücks – fördert die Angleichung des weiblichen Erscheinungsbilds an das ihres Partners. Auf Abbildung 2 ist es der Hosenrock, der explizit als Vorbote der Geschlechterkonkurrenz betrachtet wird und die Einnahme einer bisher nur Männern vorbehaltenen Bastion ankündigt.
Die Titelzeile mit dem unterstrichenen »wir« verdeutlicht den ironisch gemeinten Herrschaftsanspruch, der einem Fotomodell in den Mund gelegt wird. Die Frau trägt über der weißen Bluse mit Stehkragen und Schleife ein dunkles Jackett und dazu einen Wickelrock, dessen Rand hochgeschlagen ist und eine nach unten schmal zulaufende lange Hose sichtbar werden lässt. Der mit flauschigen Federn geschmückte Hut ist als Attribut verspielter Weiblichkeit verblieben, sonst überwiegen eher die maskulinen Züge. Ein verwunschen wirkendes, schlossähnliches Gebäude mit Ausblick auf einen fernen See ist die Kulisse, vor der die Frau sich in Positur stellt. Um Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Regeln zu demonstrieren, schminkt sie sich in aller Öffentlichkeit und überschreitet auch damit den von einer Dame zu erwartenden Anstand. Nach dem Willen des Fotografen soll sie »emanzipiert«, das heißt ungehörig und ein wenig provozierend auf den Betrachter wirken. Würden sich alle Frauen so zeigen, so die unterschwellige Befürchtung, dann wäre der Tag nicht fern, an dem sie sich an keine Regeln mehr hielten und den Männern auch in beruflicher und politischer Hinsicht Konkurrenz machten.
Dieser Gedanke ist nicht neu. Er deckt sich mit Ausführungen des einflussreichen Kulturkritikers Wilhelm Heinrich Riehl, der die lange Hose ablehnt und Frauenröcke als Bastion politisch konservativer Gesinnung betrachtet. Ein »ächter Socialist«, so meint er, müsse beim Anblick derselben »in die Zähne knirschen, denn solange es noch besondere Weiberröcke gibt, ist es auch noch nichts mit dem folgerechten Socialismus«.[2] Eduard Fuchs behandelt in seinem Standardwerk »Die Frau in der Karikatur«[3] den »Kampf um die Hose« ausführlich und bringt Belege dafür, dass dieser zu den »allerältesten Motiven« gesellschaftlicher Satire gehört und von jeher als Symbol des Kampfes zwischen Männern und Frauen um die Herrschaft im Hause gewesen ist.
Die eher tragbare Variante, eine Kombination aus langer Hose und rockartigem Überwurf, erobert als Demonstration freizügiger Lebensart auch das Unterhaltungstheater. Auf einer 1912 gelaufenen Karte mit dem Titel »Der Hosenrock« (Abb. 3) stellt sich ein kostümiertes Paar im Tanzschritt vor. Sie trägt – kaum erkennbar unter dem weiten, mit einer Bordüre verzierten Rockteil – ein oberhalb der Knöchel endendes Beinkleid.
[2] Wilhelm Heinrich Riehl: Die Familie, 9. Aufl., Stuttgart 1882, S. 15.
[3] Eduard Fuchs: Die Frau in der Karikatur, besonders S. 99–113.
Der »humoristische Rheinländer« mit der Überschrift »Fräulein Bock im Hosenrock« aus dem Jahr 1911 könnte dabei als Vorlage gedient haben«.[4] Vor dem Hintergrund einer weitläufigen Flusslandschaft posiert ein junges Paar, das im Begriff ist, zu einer Bootstour aufzubrechen. Ein Schiff ist zwar nicht in Sicht, aber immerhin hält der gut gekleidete Herr, wenn auch recht ungeschickt, schon ein Paddel in der Rechten. Seine Kleidung – Jackett mit Weste, Oberhemd mit steifem, hohem, vorne offenen »Vatermörder« und ein eleganter Hut – ist zwar wenig dafür geeignet. Aber ihm kommt wohl weniger die Rolle des Sportlers als die des Liebhabers zu, der die Partnerin lächelnd fixiert. Vermutlich gefällt ihm der Hosenrock, der – wie der Zudruck im Gegensatz zur Fotografie erklärt – den Blick auf ihre Beine »fast bis zum Knie« freigibt:
»Ein keckes Näschen
Ein Rock mit Höschen
Die Beinchen frei, fast bis zum Knie
Das nenn‘ ich Plis!«
Das ist Operettenjargon und hat mit Modebildern und -texten kaum etwas zu tun, und schon gar nichts mit Emanzipation. Er ist Teil einer Bühnenshow, in der die Darstellerin wohl kaum so keck agiert, wie im Begleittext versprochen. Auf dem Bild hat sie mit einer routinierten Geste den schürzenartigen Überrock angehoben und zeigt lächelnd ein wenig Bein, was – jedenfalls für die Verhältnisse des Jahres 1912 – frivol wirken soll, aber dieser ansonsten braven Präsentation nur wenig »Plis« verleiht.
[4] »Der Hosenrock« ist eine Stummfilmkomödie aus dem Jahr 1911 von Max Obal. Auf »Beka-Record«-Schallplatten findet sich das Couplet »Fräulein Bock im Hosenrock«, gesungen unter anderem von Hermann Wehling.
Zur Autorin: Kurzvorstellung und Fragen an Frau Prof. Dr. Sabine Giesbrecht
Sabine Giesbrecht, geboren 1938, war bis zu ihrer Emeritierung 2003 Professorin für historische Musikwissenschaft an der Universität Osnabrück. Daneben ist sie Sammlerin von historischen Postkarten. Seitdem sie ihre Sammlung 1980 für ein Schulbuchprojekt startete, war ihre Leidenschaft geweckt und die Sammlung wuchs! Zunächst durch Käufe auf Flohmärkten und Antiquitätengeschäften, inzwischen vorwiegend bei Online-Händlern. Damit begann auch ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit den Themen der Karten und sie verfasste dazu verschiedene wissenschaftliche Publikationen. 2017 erschien ihr Buch „Wege zur Emanzipation“, indem sie anhand der Frauendarstellungen auf Postkarten das Frauenbild im Kaiserreich und im 1. Weltkrieg untersucht. Der Gastartikel ist ein Auszug/Kapitel daraus.
Die Sammlung ist im Internet unter diesem Link einzusehen: Historische Bildpostkarten – Universität Osnabrück
In einem kurzen Interview habe ich sie dazu befragt:
Was war der stärkste Antrieb, diese Sammlung aufzubauen?
„Ich hatte immer mehr den Wunsch, eine bisher kaum bekannte, kulturgeschichtlich unendlich reiche Bildquelle ans Licht der Öffentlichkeit zu rücken, die mir die Welt meiner im Zweiten Weltkrieg umgekommenen Großeltern näher erschlossen hat.“
Gibt es bei den Karten ein Lieblingsthema, das Ihnen besonders am Herzen liegen und wenn ja, warum?
„Mein Hauptinteresse für mich als Vertreterin der Historischen Musikwissenschaft sind Musikkarten, die knapp die Hälfte des Archivbestandes der Universität Osnabrück ausmachen. Darunter befinden sich zum Beispiel Komponisten, Interpretinnen und Interpreten, z.B. Frauen am Klavier, verschiedene Orchesterensembles, Sängerinnen und Sänger, aber auch Lieder aller Art und Sängerfeste oder andere musikalische ‚Events'“
Die in der Kaiserzeit so populären Postkarten waren ein Spiegelbild der Gesellschaft. In ihrem Buch „Wege zur Emanzipation“ untersuchen Sie wie sich das Frauenbild während der Kaiserzeit veränderte. Der im Gastartartikel beschriebene Hosenrock als Auszug daraus ist dabei ein Symbol, wie sich die Kleidung der Frauen änderte. Welche weitere Veränderung der bürgerlichen Frauenrolle, die sich auch in den Postkarten manifestierte, fällt Ihnen spontan ein?
„Mit der bequemen langen Hose nehmen die Frauen Abstand von der geschnürten Taille und den einengenden langen Röcken. Sie gibt Bewegungsfreiheit und wurde als eine Form der Emanzipation begrüßt, denn sie ermöglichte die Erschließung neuer Räume zum Beispiel beim Wandern und Radfahren.“
Vielen Dank!