Was geschah im Februar 1911?
Karneval-Export
Wir starten mit Karneval! Helau und Alaaf! Schon damals (und schon lange) wurde der Karneval im Rheinland kräftig gefeiert, ob nun in Köln oder Düsseldorf, wie diese Artikel erzählen. Hier ein Bild von einem Karnevalsumzug mit Kölner Jecken.
Gut, die Kutschen bzw. „Zug (Zooch)-Gefährte“ waren damals etwas kleiner, aber die Karnevalisten darin sehen doch ganz ähnlich wie heute aus. Jedoch etwas ist komisch. Finde den Fehler! Richtig, die Zuschauer um die Kutsche herum sind nicht verkleidet! In den Karnevalshochburgen schon damals undenkbar.
Der Grund: diese Kutsche fuhr in Berlin herum- hier der Text aus der Zeitschrift „Die Woche“ dazu:
„Die erste „närrische Kappenfahrt“ durch Berlin hat der Klub der Rheinländer veranstaltet. Die Teilnehmer trugen die Narrenkappe, das Symbol der Karnevalstorheit.“
Aber nicht nur die Woche berichtete, auch die Sonntagszeitung war der Narrenexport ein (ähnliches) Bild mit einer Anmerkung wert und erzählte dass die Knappenfahrt „vom dortigen Alaaf-Klub der Rheinländer“ veranstaltet wurde. Immerhin
„…vierzig Wagen, mit Narren und Närrinnen aller Art besetzt, nahmen an der Fahrt teil, die natürlich viele Neugierige anlockte“.
Bei der Recherche zum „Klub der Rheinländer“ fand ich heraus, dass ein oder mehrere Vereine in den ersten 19er Jahren gegründet wurde. Höchstwahrscheinlich von Jecken aus dem Rheinland, die es nach Berlin verschlagen hatte und die auch dort ihren Karneval feiern wollten. Ab ca. 1906 gab es Veranstaltungen wie Sitzungen oder Karnevalsbälle. Der Export des Kölner Umzugs 1911 (wahrscheinlich die kleine Ausgabe) blieb aber wohl einmalig.
Im Laufe der Zeit gründeten sich in Brandenburgs Städten noch mehrere Rheinländer-Vereine, die entsprechende Karnevalsveranstaltungen organisierten – auf der Seite „Karnevalsverband Brandenburg“ der nunmehr existiert, kann man die Entwicklung bis heute nachlesen.
Die Pest – Seuchenalarm in China
Ein bisschen gleichen die Bilder denen, die zu Anfang der Corona-Pandemie in China kursierten. Eine in Schutzanzügen gehüllte Desinfektionskolonne ist in den Strassen Charbins (heute: Harbin), einer Stadt im Nordosten von China, unterwegs. Nur, dass hier die Ausbreitung der Pest bekämpft wurde.
Seuchen mit vielen Toten hat es durch die Jahrhunderte immer gegeben, ob Cholera, Pest oder später die spanische Grippe. Dass die Pest in den Januar- und Februar-Ausgaben der Zeitschriften ein Thema war, hatte zwei Gründe. Zum einen -wie in der Januar-Ausgabe nachzulesen- mußte der Kronprinz aufgrund des Pestausbruchs in der Mandschurei seine geplante Weltreise abbrechen. Zum anderen befürchtete man, dass die Pest in die deutsche Kolonie Kiautschau (damals deutsches Schutzgebiet genannt) eindringen könnte. Dazu hieß es in der Woche:
„…in Kiautschou sind alle Maßnahmen getroffen worden, die eine Einschleppung und Ausbreitung der Pest zu verhindern geeignet sind; vor alle sind in Tsingtau (der Haupststadt) eine Reihe bakteriologisch gut geschulter und in der Diagnose und Behandlung der Pest erfahrener Ärzte stationiert und der Zuzug von Chinesen aus der Nachbarschaft in unser Schutzgebiet vollkommen unterbunden worden. Durch Errichtung eines besonderen Krankenhauses außerhalb Tsingtaus ist auch Vorsorge getroffen, daß etwa doch in das Kiautschougebiet eingeschleppte Fälle sofort wirksam isoliert und damit unschädlich gemacht werden können.“
Und nicht nur das, natürlich gab es auch die Befürchtung, die Pest könne so wieder nach Europa eingeschleppt werden, so heißt es im Artikel zur Pest in der Woche:
„Mit einem Schlag ist es jetzt aber durch die Nachrichten aus Ostasien die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf diese mörderischste aller menschlichen Infektionskrankheiten gelenkt worden, der gegenüber sich Europa allmählich wieder in Sicherheit wiegen kann…“
Bis heute tritt die Pest auf und auch im Winter 1911 gab es außer diesem Vorkommen weitere bestehende Pestherde:
…trotzdem die Pest in Indien noch allwöchentlich etwa 5000 Opfer fordert und trotz ihres gelegentlichen Aufflackerns in Alexandrien und Odessa.“
Im Artikel wurde dann der damalige Stand der Forschung dargelegt und auch erzählt, wie die Übertragung stattfand.
Hier die Kurzfassung: es gibt mehrere Pestarten, als Hauptarten Lungen- und Beulenpest (auch Bubonenpest genannt).
Die Lungenpest ist die ansteckendere Art – über die Luft wird der Erreger übertragen, denn die Kranken husten die ansteckenden Bakterien aus (und die noch Gesunden atmen sie ein).
Ursprünglich übertragen wird die Krankheit hauptsächlich durch Ratten bzw. Flöhe. Es wurde nicht nur in China, sondern auch auf Schiffen und Hafenstädten beobachtet, dass einem Pestausbruch ein Rattensterben voranging. In den Hafenstädten kamen die Ratten von den Schiffen und man beobachtete den Ausbruch der Krankheit zuerst in den Hafenvierteln. Die Übertragung von Ratte zu Ratte wie auch auf den Menschen erfolgt meist nicht direkt, sondern über eine Flohart, die sowohl Ratten als auch Menschen sticht und Erreger über 14 Tage von Ratte zu Mensch übertragen kann. Als besondere Rattenart wird die Hausratte genannt, die in Deutschland schon damals mehr und mehr von der Wanderratte, die größer und widerstandsfähiger ist, verdrängt wurde. Während die Flohart, welche die Hausratte sticht, auch gerne den Menschen sticht, ist das bei den Flöhen der Wanderratte nicht der Fall und so die Übertragung (aufgrund des seltenen Vorkommen von Hausratten) auch weniger wahrscheinlich.
Schon damals war die Globalisierung im Vormarsch und so war eine Befürchtung, die Pest könne durch die sibirische Bahn auch nach Europa verschleppt werden – was dann glücklicherweise nicht der Fall war.
Für das Protokoll: Der Pest-Erreger konnte 1894 von dem französischen Arzt Alexandre Yersin identifiziert und der Übertragungsweg erklärt werden. Pestausbrüche gibt es bis heute, im Jahr 2017 z.B. auf Madagaskar (ca. 230 Tote) und 2020 Einzelfälle in China und der Mongolei. Die Krankheit kann heute mit Antibiotika gut behandelt werden, es gibt auch eine Impfung die aber selten eingesetzt wird.
Achtung einsturzgefährdet – ein Rathausturm knickt ein!
Oups! Schiefe Türme kennen wir ja einige, allen voran den in Pisa. In Nauen gab es kein Halten mehr – der Turm fiel ein, auf das Dach darunter. Und das während einer Magistratssitzung! Nein, nicht weil es in der Sitzung so hoch ging, sondern durch „einen orkanartigen Sturm, vom dem das Osthavelland heimgesucht wurde“. Keine Angst, die Sitzungsteilnehmer kamen nicht zu Schaden und dass, obwohl die Turmspitze in das Sitzungssaal ragte! Auch keine weiteren Personen kamen zu Schaden.
Aber Nauen (bei Berlin) bekam sicher einige Bekanntheit durch die Fotos!
Ein Schiff zum Heiraten
Heute kann man in allen möglichen Lokalitäten heiraten, in der Kaiserzeit war es eher klassisch das Standesamt, die Kirche oder beides. Auf einem Schiff zu heiraten, war schon sehr bemerkenswert. Die Schifferkirche gab es seit 1904 – zur Einweihung schaute sogar die Kaiserin vorbei. Sie war für die Binnenschiffer gedacht, die auf den Flüssen und Kanälen unterwegs waren. In der Schifferkirche fanden Gottesdienste, Taufen, Konfirmationen und eben auch Hochzeiten statt, gehalten vom 1902 eingestellten Schifferpfarrer. Sie hatte verschiedene Liegeplätze und war nicht nur in Berlin, wie auf dem Bild, sondern auch in Brandenburg unterwegs.
Getragen wurde die Schifferkirche vom „Verein zur kirchlichen Vorsorge für Fluß- und und Kanalschiffer e.V.“ – der allerdings seine Arbeit Ende 2017 eingestellt hat – wie auch die Zeitschrift „Gute Fahrt“, die immerhin schon seit 1903 erschien!
Aus dem Frauenleben:
Die Hose kommt – als Rock getarnt!
Modebeilagen und -seiten gab es in allen Familien- und Wochenzeitschriften. Auffällig: in den ersten Wochen und Monaten des Jahres 1911 häufen sich Fotos mit Frauen im Hosenrock!
So heißt es z.B. zu diesem Foto:
„Der Hosenrock, die etwas seltsam neue Schöpfung der alleinseligmachenden Pariser Mode, gewinnt ohne Zweifel ständig an Boden. Bei der Eröffnung des Hippodroms in Auteuil konnte man schon eine größere Anzahl von Damen mit geteilten Röcken sehen“.
Ja, schon zu dieser Zeit war die Pariser Mode führend und maßgeblich!
Genau das Foto war sogar Anlass zu einem ausführlicherem Artikel mit dem Titel „Aesthetik des geteilten Rockes“ geschrieben von Kurt Aram, der gleichzeitig Redakteur des „Berliner Tageblatts“ war. Er ist ein Befürworter der neue Mode und geht auf die verschiedenen Einwände gegen sie in.
Auch Aram meint aber zunächst, sie solle eher unauffällig daherkommen:
„Je ungewöhnlicher eine neue Mode ist, umso unauffälliger muß sie getragen werden, soll man sie nicht als unästhetisch und bald als lächerlich empfinden“
Interessant sind seine Ausführungen zu Hosen als Kleidungsstück beim Damensport:
„Nun ist uns der geteilte Rock durchaus nichts Fremdes. Wenn ihn Frauen beim Radfahren anhaben, achtet kein Mensch mehr darauf. Wenn wir Ski laufen, ist es uns ganz natürlich, dass beide Geschlechter Hosen tragen. Ebenso verhält es sich beim Rodeln und Turnen. Warum? Wir sagen, die Tracht ist praktisch und zweckmäßig.“
Er stellt fest, dass kein Mensch behaupten könne, was beim Sport praktisch sei, sei beim Gehen unpraktisch. Die Frage sei aber: Kann etwas, was praktisch ist, auch schön sein?
Er vergleicht dabei den Körper mit einem architektonischen Gebäude, was schließlich auch beides sein kann und meint:
„Eine Kleidung wird umso schöner sein, je mehr sie die Architektur des Körpers unterstützt, je weniger sie die Architektur stört…sie wird auch umso zweckmäßiger sein.“
Auf das Argument, ein Hosenrock wäre unweiblich meint er:
„Im Ernst kann man doch wohl nicht unweiblich finden, wenn solange auch Frauen zwei Beine haben, jedes von ihnen bekleidet wird.“
Seine fortschrittlichen Ansätze, Frauenkleidung auch von einem funktionalen Standpunkt zu betrachten, haben aber ihre Grenzen, denn am Schluss des Artikels statuiert er auf die Frage: „Also gehört dem geteilten Rock die nächste Zukunft?“:
„Das erscheint uns aus zwei Gründen unwahrscheinlich. Einmal setzt sie eine schlanke und hohe Architektur voraus, und zweitens ist sie viel zu vernünftig.“
Auch in der Sonntagszeitung wird man auf das neue Kleidungsstück aufmerksam und schreibt zu diesem Bild:
„Die neueste Sensation der Frauenmode ist der Hosenrock, der in Weltstädten jetzt seinen Einzug gehalten hat. Vorläufig ist die Gegnerschaft gegen die neue Mode noch sehr stark, in Madrid kam es sogar um des Hosenrocks willen zu Straßentumulten.“
Oh! In jedem Fall sorgte der Hosenrock für Gesprächsstoff und die Frauen, welche ihn trugen, zogen alle Blicke auf sich. Ein gewisser Mut wird also dazu gehört haben!
Wie es (tatsächlich) der Zufall so will, haben wir kürzlich diesen Artikel von Gastautorin Prof. Dr. Sabine Giesbrecht zum Thema Hosen in der Frauenmode veröffentlicht. Denn wie alle wichtigen Ereignisse waren Abbildungen der neuen Mode alsbald auch auf Postkarten zu finden – zu dieser Zeit das beliebteste Kommunikationsmittel, jährlich wurden viele Millionen von Postkarten verschickt.
Es sollte noch einige Jahre dauern, bevor sich die Frauenhose nicht mehr als Rock tarnen musste, aber am Ende setzte sich die Vernunft und Zweckmäßigkeit durch. Bis die Damenhose ein gesellschaftlich akzeptiertes Kleidungsstück wurde, sollte es aber noch mehr als zwei Jahrzehnte dauern.
Das kleinste Dorf Deutschlands – vor 110 Jahren und heute
Es sind oft die kuriosen Meldungen, die Neugier wecken. So geschehen bei diesem Bild des Dorfes Dürr-Ellenbach, abgebildet in einer Februarausgabe der Sonntagszeitung – der Untertitel dazu:
„Die kleinste Gemeinde im Deutschen Reiche: Das nur vier Einwohner zählende Dorf Dürellenbach“ (damals noch zusammen geschrieben).
Viel mehr ist dann auch nicht über das Dorf zu erfahren, es wird noch über das starke Wachstum der Bevölkerung im eigenen Reich (welche in den letzten fünf Jahren um fünf Millionen auf 65 Millionen wuchs) und (etwas hämisch) über die Stagnation der Bevölkerung in Frankreich berichtet.
Gerade in diesem Dorf war die Entwicklung aber gegenteilig. Erwähnt wurde Dürellenbach schon 1437.
Die dort lebenden Bauern betrieben durch die Jahrhunderte wohl vor allem Ackerbau und Viehzucht – das Tal eignete sich gut zum Weiden der Tiere und zum Heu machen.
Nicht dass es je richtig groß gewesen wäre, im Jahre 1845 findet sich im Lexikon sämtlicher Ortschaften der deutschen Bundesstaaten der folgende Eintrag:
„Ellenbach, auch Dürellenbach, Kleinellenbach genannt. — Dorf, zur reform. Pfarrei Waldmichelbach, resp. kathol. Pfarrei Ablsteinach gehörig. — 5 H. 52 E. — Großherzogth. Hessen. — Provinz Starkenburg. — Kreis Heppenheim. — Landgericht Fürth. — Hofgericht Darmstadt.“
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts zogen die meisten Bewohner jedoch weg. Wohin? Sie wanderten nach Amerika aus.
Denn es herrschte Armut im Odenwald und die Landbevölkerung hatte keine Perspektive. Übrig blieben nur die beiden Häuser, ein Forsthaus mit Backhaus und Scheune sowie eine weitere Scheune. Das kleine weiße Fachwerkhaus sieht wie das Backhaus aus.
Ob es das „Dorf“ heute noch gibt? Warum nicht einen Ausflug in den Odenwald unternehmen? Gesagt – getan.
An einem Wintertag im Januar, an dem es erst regnete und dann schneite, machte ich mich auf in das Ellenbachtal, an dessen Ende das Dorf zu finden sein soll. Es wurde ein idyllischer Spaziergang. Durch das Tal führt ein Naturlehrpfad, neben dem Ellenbach sprudelten am Weg allerlei Quellen, wild oder eingefasst. Heute ist das Tal ein Naturschutzgebiet – die Wiesen werden werden vom Forstamt regelmäßig entbuscht, gemäht und bewirtschaftet, um sie offen zu halten und den Charakter dieses Tales zu bewahren – so wird es auf einer Schautafel am Anfang des Weges erzählt. Wie man sieht, ist Dürr-Ellenbach noch bewohnt, wie es aussieht, ist die Anzahl der Bewohner sogar gestiegen! Die Anzahl der vorhandenen Fahrzeuge auf jeden Fall…
Ich kann das Tal und sein Ziel als Wanderung sehr empfehlen!
Ich wünsche Euch noch einen schönen Februar! Und falls Schneemangel herrscht: Wie wäre es mit einem Ausflug in verwunschene Täler oder zu Orten, die eine interessante Geschichte haben (natürlich!)? Auch immer eine Option – Museen zu besuchen (hier einige Tipps) und anschließend einen Kaffee im meist gemütlichen Museums-Café zu trinken…
Und wenn Euch die Decke auf den Kopf fällt, einfach mal etwas Verrücktes anziehen (was man sich sonst nicht traut) und damit eine Runde durch das Viertel drehen. Aber nicht dass es zu Straßentumulten kommt!
Herzlichst
Eure Grete
Wen interessiert, was in den Jahren davor im Februar so passierte – hier geht es zur jeweiligen Ausgabe von 1908 und 1909