Glück des Augenblicks (Ellin Carsta)
2. Teil der Saga „Die Kinder der Hansens“
von Ellin Carsta
Kann man mit einem zweiten Band das Lesen einer Reihe starten? In diesem Fall klappt es, da die handelnden Personen im Roman meist noch einmal kurz und geschickt eingeflochten, vorgestellt werden.
Die Saga „Die Kinder der Hansens“ knüpft an „Die Hansens“, eine Familiensaga, die um die vorige Jahrhundertwende spielt und in acht Bänden erzählt wird, an. Die neue Reihe beginnt Mitte der 20er Jahre.
Amala, die Hauptperson, ist aus den USA nach Deutschland gekommen, um hier die Familie ihrer verstorbenen Mutter Luise kennenzulernen, die, bevor sie mit ihrem Mann auswanderte, in Hamburg aufwuchs. Hier will sie sich als Schauspielerin und Tänzerin beweisen. Als Farbige (ihr Vater Hamza stammt aus Kamerun) wirkt sie exotisch, hat es aber aufgrund ihrer Hautfarbe gleichzeitig schwerer…
In Hamburg lebt sie seit ihrer Ankunft vor einigen Monaten in der Familienvilla mit ihrem loyalen und warmherzigen Großonkel Georg zusammen. In den ersten Monaten hat sich Amala auf den Hamburger Bühnen schon einen Namen gemacht und wird in ihrer Hauptrolle auf der Bühne gefeiert! Doch was kommt danach? Der Film ruft! Ob es ihr gelingen wird, sich auch dort zu beweisen?
Aber auch andere Familienmitglieder kämpfen um Anerkennung und Erfolg. Da ist Augusta, eine von Georgs Enkelinnen seiner Tochter Frederike. Sie hat sich als Frau erfolgreich durch ihr Studium der Ingenieurwissenschaften gekämpft, ungewöhnlich genug zu dieser Zeit. Nun sucht sie bei ihrem Großvater in Hamburg Zuflucht: schwanger, ohne Kindsvater. Die Eltern im heimatlichen Schwarzwald stehen zu ihr, aber fürchten um ihren Ruf. Wie soll ihre Zukunft nun aussehen? Amala und Augusta freunden sich an, die Atmosphäre im Haus ist harmonisch, zumal inzwischen auch Haushälterin Bertha Amala als neues Familienmitglied ins Herz geschlossen hat.
Aber in jeder Familie gibt es schwarze Schafe, auch bei den Hansens! Da ist Georgs Sohn Richard, der bereits sein vorgezogenes Erbe verspielt hat, von der Hand in den Mund und den gelegentlichen Zuwendungen seines Vaters lebt und keiner Tätigkeit nachgeht. Als ein Reporter ihn zu Amala und seiner Familie befragt, ist ihm Geld wichtiger als Loyalität…
Auch die in Hamburg lebende Tante Martha gehört zu dieser Spezis. Als personifizierte Bosheit hat sie das Talent, es sich im Laufe der Zeit mit wirklich allen zu verderben. Ha, ein Glück, dass es in (fast) jeder Familie so eine Person zu geben scheint!
Selbst ihr sympathischer Sohn Eduard kann seine Mutter nur in kleinen Dosen ertragen…Er arbeitet viel und hat sich bei seinen Geschäften im Spirituosen-Handel mit der Halbwelt Berlins eingelassen. Langsam begreift er, wie schwierig es ist, sich aus diesen Fängen zu befreien…
In Wien geht Onkel Georgs Schwester Therese in ihrem Kaffeehaus auf, was sie erneut übernommen hat. Ihr Sohn Franz, der es davor führte, wollte es schließen, ist nun aber in seiner neuen Tätigkeit in der familiären Eisenwarenfabrik um einiges glücklicher. Mit seiner netten Frau und zwei süssen Töchtern könnte sein Leben perfekt sein – wären da nicht die Schatten des 1. Weltkrieges, die ihn verfolgen. Sie sind Ursache für seine psychischen Probleme, die er zunächst vor seiner Familie verbirgt. Bis ein Erlebnis alles verändert…
Wer jetzt Angst hat, bei den doch einigen vorkommenden Personen den Faden zu verlieren: Es gibt am Anfang des Buches einen sehr hilfreichen Familienstammbaum, wie alle mit allen zusammenhängen – ich fand ihn sehr hilfreich und habe immer mal nachgeschaut.
Insgesamt sind die verschiedenen Handlungsstränge sehr lebendig beschrieben und spannend zu lesen. Wie wird das Leben der verschiedenen Familienmitgliedern wohl weitergehen? Ich bin gespannt!
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Gretes Fazit
(für alle, die…mögen) :
+ mehrteilige Familiensagas
+ bunte Mischung persönlicher miteinander verflochtener Schicksale
+ Geschichten mit historischem Setting in den 20er Jahren
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Über die Autorin
Ellin Carsta ist das Pseudonym der Autorin Petra Mattfeld. Sie hat bereits verschiedene historische Romane geschrieben, die zu Bestsellern avancierten, darunter die anfangs erwähnte Reihe „Die Hansens“, die als achtteilige Familiensaga die Vorgeschichte der neuen mehrteiligen Saga bildet. Die Autorin liebt es, ihren Lesern mit den Schilderungen ihrer Figuren und deren Schicksalen ein Gefühl für die jeweilige Zeit zu geben. Eine weitere wichtige Motivation beim Schreiben ihrer historischen Romane ist für sie, Menschen den Zugang zu Geschichte zu vermitteln.
Die gebürtige Bremerin entdeckte ihre Lust am Schreiben schon früh.
Nach anderen beruflichen Stationen arbeitet sie seit 2013 erfolgreich als freiberufliche Autorin.
Der Roman „Das Licht des Augenblicks“ ist als zweiter Teil der Familiensaga „Die Kinder der Hansens“ , nach dem 1. Teil „Schritt ins Licht“ erschienen – beide im Verlag „Tinte und Feder“. Hier kann man den Roman bestellen. Inzwischen gibt es auch diese weiteren Teile:
3. Teil „Tanz ins Leben“
4. Teil „Zauber des Neuen“
5. Teil „Kraft der Veränderung“
Textauszug 2. Teil (S.9-20):
…
Hamburg, Sonnabend, 28. März 1925
Es ist, als sei ich von einer Welt in eine andere, ganz neue getreten. Und jeden Tag staune ich, was es hier für mich alles zu entdecken gibt.
Amala Hansen
Amala öffnete das Fenster, atmete die Frühlingsluft tief ein und schloss kurz die Augen. Es war in den letzten Tagen immer wärmer geworden und das satte Grün der austreibenden Pflanzen und die zunehmenden Blüten an den Büschen und Sträuchern boten einen immer bunteren Anblick, an dem Amala sich jeden Tag erfreute.
Sie ließ das Fenster weit geöffnet und setzte sich an den kleinen Tisch in ihrem Schlafzimmer, das sie nun schon seit über einem halben Jahr bewohnte. Es war dasselbe Zimmer, in dem ihre Mutter hier in der Villa gelebt und das sie sich mit ihrer Schwester Martha geteilt hatte, als die beiden noch Kinder waren. Es hingen sogar noch einige Kleider ihrer Mutter im Schrank, und zwei davon hatte Amala anprobiert, nur um zu sehen, ob sie ihr passten. Tatsächlich saßen sie wie angegossen, doch sie hatte sich nicht getraut, sie auch außerhalb des Schlafzimmers zu tragen. Aus welchem Grunde, wusste sie selbst nicht genau, vor allem weil Onkel Georg, der genau genommen ihr Großonkel war, es ihr ausdrücklich angeboten hatte.
Aber da war eine Hemmschwelle, das Gefühl, dass sie mit dem Tragen des Kleides womöglich einen Schritt zu weit ginge, als wollte sie in die Fußstapfen ihrer Mutter treten. Doch daran lag ihr nichts, ganz im Gegenteil. Sie wollte ihren eigenen Weg finden, wollte als die wahrgenommen werden, die sie war, so wie ihre Eltern es ihr immer geraten hatten. Sie wollte Amala Hansen sein, nicht Luise. Schon deshalb, weil sie tief in ihrem Innern überzeugt war, ihrer Mutter nicht das Wasser reichen zu können.
Luise Hansen, ihre verstorbene Mutter, war den Menschen in Hamburg noch immer ein Begriff, obwohl sie bereits vor mehr als achtundzwanzig Jahren von hier aufgebrochen und bis zu ihrem Tod nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt war. Doch etwas von ihr schien in dieser Stadt zurückgeblieben zu sein, wie ein Windhauch, der noch immer sanft durch die Straßen wehte. So stellte es sich Amala jedenfalls vor, und dieses Bild gefiel ihr über die Maßen. Hier in der Villa war ihre Mutter ohnehin noch immer zu spüren, nicht nur in diesem Zimmer, in dem Amala sogar noch ihren Duft wahrnehmen konnte, sondern auf dem gesamten Anwesen, und sei es auch nur in ihrer Einbildung. Doch der Gedanke hatte etwas Tröstliches, und so hielt Amala an ihm fest.
Sie hatte die tote Hülle ihrer Mutter auf Hawaii zurücklassen müssen. Doch hier in Hamburg schien es Amala, als sei sie noch immer bei ihr, direkt an ihrer Seite, und stehe ihr bei all den Herausforderungen, denen sie sich hier zu stellen hatte, bei. Dabei waren es vor allem zwei Dinge, die sie von ihrer Mutter mitbekommen hatte und die sie durchs Leben trugen: Liebe und Stärke. Und manchmal, wenn sie sich vergewissert hatte, dass niemand in ihrer Nähe war und sie hören konnte, sprach sie sogar mit ihrer Mutter, erzählte ihr davon, was sie erlebt und gedacht hatte, ganz so, wie sie es früher getan hatte, als die Mutter noch am Leben war.
Ja, sie fehlte ihr, Tag für Tag. Vielleicht wurde es irgendwann besser, doch das konnte noch eine Weile dauern. Besonders schlimm war es am 3. Dezember des vergangenen Jahres gewesen. Da wäre ihre Mutter fünfzig Jahre alt geworden, doch diesen Jubeltag hatte sie nicht mehr erlebt. Es war der erste Geburtstag, an dem Amala der Mutter nicht hatte gratulieren können. Und so albern der Gedanke auch sein mochte, sie hatte an diesem Tag nicht nur der Mutter gedacht, sondern sich eigenartigerweise schuldig gefühlt, dass sie nicht auf Hawaii gewesen war, um dort mit Bruder und Vater zusammen zu sein. Sie wusste natürlich, dass es nicht im Geringsten geholfen hätte, sondern dass für sie alle die Trauer vermutlich kaum zu ertragen gewesen wäre.
So hatte sie den 3. Dezember mit Onkel Georg verbracht und war gerührt gewesen, weil er vom Steinmetz einen kleinen Findling mit dem Schriftzug Luise hatte versehen lassen, den der Handwerker mit seinem Gehilfen dann unter der großen Eiche platziert hatte. Seitdem war Amala viele Male dort gewesen, hatte mit der Mutter geredet und gestern sogar lächeln müssen, als sie sah, dass rund um den Stein einige Gänseblümchen ausgetrieben hatten.
Nun nahm sie die silberne Schreibfeder zur Hand und griff nach einem Briefbogen. Sie hatte ihrem Bruder und ihrem Vater schon seit Tagen schreiben wollen, doch irgendwie hatte sie immer zu viel zu tun gehabt, und es war ihr erst wieder ein- gefallen, als sie bereits im Bett lag. Doch ab heute hatte sie für eine Weile frei, was sie einerseits freute, andererseits aber auch ein wenig unruhig machte, da man als Schauspielerin nie sicher sein konnte, wie es nach einem Engagement weiterging. Aber sie glaubte fest an sich und wusste auch um die Hilfe Jean-Paul Gerbers, der ihr neben dem Engagement in dem Theater seiner Familie nun schon seit einem halben Jahr mit Rat und Tat zur Seite stand und ihre Bemühungen, als Schauspielerin Fuß zu fassen, tatkräftig unterstützte.
Jean-Paul war ein sehr guter Verhandlungspartner, der es verstand, Konditionen für sie herauszuholen, die weit über ihren eigenen Vorstellungen lagen. Dass er dann zehn Prozent ihrer Einnahmen für sich beanspruchen durfte, fand Amala vollkommen in Ordnung; am Ende blieb schließlich für sie noch immer eine hübsche Stange Geld übrig, die sie direkt auf ihr Bankkonto einzahlte, das sie mithilfe von Georg eingerichtet hatte. Bisher hatte sie noch nicht eine einzige Abhebung vorgenommen, einfach weil es nichts gab, was sie zu bezahlen hatte. Sie wohnte kostenfrei in der Villa, obwohl sie Onkel Georg mehrfach angeboten hatte, etwas beizusteuern.
Doch das lehnte er rundweg ab. Auch für ihr Essen durfte sie nicht aufkommen, er hatte sogar recht harsch reagiert, als sie ihn zum wiederholten Mal darauf angesprochen hatte, sodass Amala das Thema schließlich nicht mehr erwähnte. Es war irgendwie rührend, wie sehr Onkel Georg sich um sie und ihr Wohl bemühte. Er hatte ihr auch schon mehrmals versichert, wie sehr er es genoss, dass sie nun bei ihm lebte. Mit ihr sei endlich das Leben in die Villa zurückgekehrt, meinte der Großonkel, und tatsächlich machte er auf Amala einen viel fröhlicheren Eindruck als im vergangenen September, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte.
Sie hatten seither so viel zusammen unternommen, und ihr Großonkel war ihr nicht nur immer vertrauter geworden, sondern ihr richtiggehend ans Herz gewachsen. Er hatte sie zum Essen ausgeführt, war mit ihr in Museen gegangen, hatte sie auf besondere Bauwerke Hamburgs hingewiesen und war mit ihr durch die Straßen geschlendert, um ihr einerseits zu zeigen, wo ihre Mutter aufgewachsen war, und sie andererseits auch selbst für Hamburg zu begeistern. Und das war ihm gelungen.
Zwar war Amala erst wenige Monate in Hamburg, doch sie hatte sich von Herzen in die Stadt, in der ihre Mutter geboren war, verliebt. Alles hier war anders als New York – kleiner, kompakter. Und doch war da dieses besondere Flair, die Weltoffenheit, der Anspruch auf Kultur und Geschichte und der offensichtliche Wunsch, bei- des zu vereinen. Amala konnte sich gut vorstellen, für eine sehr lange Zeit hierzubleiben. Genau genommen mochte sie gar nicht daran denken, Hamburg und die Menschen hier überhaupt wieder zu verlassen.
Doch da war immer das schlechte Gewissen, ihren Vater und ihren Bruder in der Trauer allein zu lassen und sich nicht darum zu kümmern, wie die beiden mit dem Tod der geliebten Ehefrau und Mutter zurechtkamen. Amala hoffte, dass sie den richtigen Zeitpunkt erkennen würde, wenn ihre Anwesenheit auf Hawaii vonnöten war. Doch ebenso sehr hoffte sie, dass bis dahin noch viel Zeit verginge. Sie blickte auf die silberne Schreibfeder, die sie während ihrer Überlegungen in der Hand gehalten hatte, und setzte sie nun entschlossen aufs Papier.
Hamburg, 28. März 1925
Geliebter Vater,
lieber Robert!
Wie geht es Euch? Ich weiß, ich habe mich länger nicht gemeldet. Bitte seid mir nicht böse, es liegt nur daran, dass hier jeden Tag so unglaublich viel passiert. Selbst seit meinem letzten Brief, den ich Euch vor etwa sechs Wochen geschickt hatte, haben sich die Ereignisse schon wieder überschlagen. Meine Tage hier sind so voller Leben, so voller Ereignisse, dass ich mich jeden Abend nur fragen kann, wo die Stunden geblieben sind.
Bestimmt geht es Euch ähnlich, ich weiß ja schließlich, wie viel Ihr immer zu tun habt. Umso glücklicher war ich, als ich Euren Brief erhielt und darin lesen durfte, dass es Euch gut geht. Ich habe ihn auch Onkel Georg vorgelesen, und wir haben danach über Euch gesprochen. Ich habe ihm die Farm so ausführlich beschrieben, dass er sich hoffentlich ein Bild machen konnte. Zumindest ist er so neugierig geworden, dass er tatsächlich sagte, er würde am liebsten einmal dorthin reisen und Euch besuchen kommen. Gemeinsam haben wir dann besprochen, dass er mich begleiten will, wenn ich von hier aus eines Tages den Heimweg antrete. Bestimmt wundert Ihr Euch, schließlich ist er bereits sechsundsiebzig Jahre alt. Doch tatsächlich kann ich Euch versichern, dass man ihn zehn oder gar fünfzehn Jahre jünger schätzen würde, wenn man sein wahres Alter nicht kennt.
Wie schon in meinen letzten Briefen kann ich nur davon schwärmen, wie wohl ich mich hier fühle und wie sehr ich meine Zeit in Hamburg genieße. Heute ist ein besonders aufregender Tag für mich, der mir zu einem Karrieresprung verhelfen kann, allerdings wage ich kaum, die Möglichkeit tatsächlich zu Ende zu träumen. Wie ich Euch ja schon schrieb, war mein Engagement bis zum 27. März, und damit bis gestern, befristet. Es war ein schönes Gefühl, am gestrigen Abend, als der letzte Vorhang fiel, den anhaltenden Jubel der Zuschauer zu erleben. Der Intendant hat mir am Ende noch einen großen Blumenstrauß überreicht, mir gedankt und danach noch gesagt, was für ein großer Erfolg das Stück doch war.
Und ich weiß, dass es nicht nur freundliche Worte waren, denn das Theater war jeden Abend ausgebucht. Alle wollten sie wohl Hamburgs schwarze Tochter, wie sie mich in den Zeitungen nennen, auf der Bühne sehen. Irgendwie gefällt mir, dass sie mich so nennen. Andererseits hatte ich aber auch manchmal das Gefühl, dass meine schauspielerische oder tänzerische Leistung nicht zählte, sondern es eher um mich als exotische Person ging. Aber ich denke, das ist Klagen auf hohem Niveau. Oder wie Jean-Paul sagt: »Es ist doch egal, ob sie kommen, um dich anzustarren oder dich tanzen zu sehen. Sie bezahlen, um sich fast zwei Stunden von dir unterhalten zu lassen. Nur das ist von Bedeutung.«
Irgendwie glaube ich, er hat recht. Seit die vielen Zeitungsartikel über mich erschienen sind, kamen die Angebote wie von selbst, und ich habe seit September so viel gespielt, gesungen und getanzt wie nie zuvor. Deshalb bin ich auch ein wenig erleichtert, dass gestern mein letzter Auftritt war und Jean-Paul nun zunächst die vorliegenden Angebote prüft, bevor ich einen neuen Vertrag schließe. Ich muss schon sagen, dass ich mir kaum noch vorstellen kann, wie ich zuvor ohne Jean-Paul ausgekommen bin. Versteht mich bitte nicht falsch – ich schwärme nicht für ihn. Doch ich finde es großartig, wie sehr er mir zur Seite steht und bei den Verhandlungen immer das Beste für mich herausholt. Durch ihn habe ich nach dem Engagement im Theater seiner Familie weitere Auftritte zugesagt bekommen, sodass ich durchgehend gebucht war.
Auch Onkel Georg hält viel von ihm, wobei er immer wieder betont, dass ihm die Welt des Theaters und der Varietés vollkommen fremd ist. Aber er war bei jeder meiner Aufführungen. JEDER! Auch wenn ich ihm gesagt habe, dass es doch nicht notwendig ist, so hat er sich nicht davon abbringen lassen. Und ich gebe zu, dass ich mich wirklich von Herzen darüber gefreut habe.
Heute nun, und das ist es, was ich Euch unbedingt erzählen möchte, steht ein sehr wichtiger Termin für mich an. Für den späten Nachmittag hat Jean-Paul ein Treffen mit Arnold Fanck vereinbart, den ich gestern nach meiner Vorstellung kennenlernen durfte. Keine Sorge, Onkel Georg wird natürlich ebenfalls dabei sein. Sicher wird Euch der Name Arnold Fanck nichts sagen. Mir jedoch ist er sehr gut bekannt. Fanck ist der Regisseur des Films Der Berg des Schicksals mit Luis Trenker, einem hier sehr berühmten Schauspieler. Und eben dieser Arnold Fanck möchte nun einen Film machen, in dem es um eine junge Tänzerin geht, in die sich zwei Bergsteiger verlieben. Einer der beiden soll von Luis Trenker gespielt werden, der andere von Ernst Petersen. Und nun ratet, wen Herr Fanck sich in der Rolle der Tänzerin vorstellen kann? Genau: mich! Ist das nicht unglaublich? Herr Fanck war auf Einladung von Jean-Paul in dem Revuestück, in dem ich die Hauptrolle hatte. Er hat mich spielen und tanzen sehen und denkt, ich könnte die Richtige sein.
Ich! Glaubt mir, ich habe mein Glück kaum fassen können. Das alles hat sich erst in den letzten Tagen ereignet, sodass ich Euch nicht früher davon erzählen konnte. Eigentlich würde ich Euch gern bitten, mir die Daumen zu drücken, doch natürlich wird das Treffen, wenn Euch dieser Brief erreicht, schon wieder Wochen her sein. Aber ich werde Euch sofort schreiben, wenn feststeht, ob ich die Rolle bekomme oder nicht, und Euch alles haarklein berichten. Ach – ich könnte die ganze Welt umarmen.
Doch erzählt mir bitte in Eurem nächsten Brief auch wieder von Euch, wie es Euch geht und was so alles passiert ist. Und auch wenn nichts weiter passiert ist, dann schreibt mir eben das. Denn ich bin immer so glücklich, wenn ich von Euch höre.
Nun schließe ich, denn bestimmt wartet Onkel Georg bereits unten im Esszimmer auf mich. Ich möchte Euch noch sagen, wie glücklich ich bin, auch wenn Ihr das vermutlich ohnehin aus meinen Zeilen herausgelesen habt.
Ich danke Dir, lieber Vater, dass Du mir die Reise hierher ermöglicht hast. Bitte meldet Euch, sobald es Euch möglich ist. Ich umarme Euch und sende Küsse.
In Liebe Eure Amala
Sie legte die Schreibfeder zurück in die dafür vorgesehene Schale, stand auf und trat ans offene Fenster. Die beiden fehlten ihr, und das weit mehr als damals, als sie noch in New York gelebt hatte und auch von dort nur selten nach Hause gereist war. Was ihr zu schaffen machte, war nicht die Entfernung, sondern das Gefühl, ihren Bruder und Vater nach dem Tode der Mutter irgendwie im Stich gelassen zu haben. Auch wenn ihr klar war, dass sie gar nichts anderes hätte tun können, als auf der Farm herumzusitzen.
Doch sie spürte, dass sie im Lauf der letzten Monate wieder ruhiger geworden war, ganz anders als in der Zeit kurz nach ihrer Ankunft hier in Hamburg. Da war ihr Nervenkostüm noch stark angegriffen gewesen, und sie hätte bei der kleinsten Schwierigkeit oder auch nur beim Gedanken an ihre verstorbene Mutter, an ihren Vater und Bruder oder auch an Hawaii und das Leben dort in Tränen ausbrechen mögen. Doch das war jetzt nicht mehr so. Es ging ihr besser, sie war wieder mehr sie selbst. Sie schlief die Nächte durch, lachte wieder, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Vor allem aber freute sie sich jeden Tag aufrichtig auf das, was vor ihr lag. Und es fühlte sich gut an, zu wissen, dass sie für ihren Großonkel Georg wichtig war und sie ihm durch ihre Anwesenheit ein Stück Lebensfreude zurückgegeben hatte, wie er immer beteuerte. Ja, es schien sich alles bestens zu entwickeln, und zwar jeden Tag noch ein wenig mehr.
Sie überlegte, ihrer Tante Elsa und ihrer Cousine Marie ebenfalls noch Briefe zu schreiben, weil auch sie eine wichtige Rolle in Amalas Leben spielten. Marie war sieben Jahre älter als sie, und zu den wenigen Gelegenheiten, als Tante Elsa, Onkel John und Marie zu Besuch nach Hawaii gekommen waren, hatten sie sich trotz des Altersunterschieds bestens verstanden. Für Amala war Marie fast wie eine große Schwester, und sie erinnerte sich noch genau, wie hübsch sie ihre Cousine gefunden hatte, als sie diese das erste Mal gesehen hatte. Amala fragte sich, wie alt sie selbst damals gewesen war. Ja, sie war acht gewesen, denn Claus Spreckels, der Tante Elsa und Marie damals mitgebracht und den Kontakt zu ihnen hergestellt hatte, verstarb wenige Monate später, im Dezember 1908.
Da war Marie fünfzehn gewesen, und Amala wusste noch genau, dass sie nach ihrer ersten Begegnung geschwärmt hatte, sie wolle später genauso aussehen wie die Cousine. Natürlich war ihr schon damals klar gewesen, dass dies allein aufgrund der unterschiedlichen Hautfarbe ausgeschlossen war. Doch das hatte Amalas Wunsch nicht geschmälert.
Von dem Zeitpunkt, da Luise und Elsa den Kontakt wieder aufgenommen hatten, hatten die beiden Frauen ihn nie mehr abreißen lassen, wodurch Amala immer über Maries Leben auf dem Laufenden war. Als Amala schließlich erwachsen wurde, war Marie schon längst Mutter.
Tante Elsa, Onkel John und Marie waren auch dabei gewesen, als Amala zum ersten Mal auf der Bühne gestanden hatte. Es war ein wunderbarer Abend gewesen. Ihre Mutter, ihr Vater und ihr Bruder Robert waren ebenfalls im Publikum gewesen, und als am Ende des Stücks der Vorhang fiel und die Schauspieler danach für den Schlussapplaus noch einmal auf die Bühne kamen, um sich zu verbeugen, standen die sechs Schulter an Schulter in der ersten Reihe und jubelten ihr frenetisch zu. Wenn sie sich jetzt an dieses glückliche Ereignis erinnerte, traten Amala immer Tränen in die Augen. Ja, sie würde Tante Elsa und auch Marie schon bald wieder schreiben, denn sie waren so tief in ihrem Herzen verankert, dass sie die Verbindung auch über den großen Ozean hinweg spürte.
Doch nicht jetzt sofort. Dafür fehlte ihr in diesem Moment die Ruhe, also schloss sie das Fenster, warf noch einen Blick in den Spiegel und verließ dann das Schlafzimmer. Heute wartete ein aufregender Tag auf sie, und Amala schwankte zwischen überbordender Freude und dem bangen Gefühl, ob ihre Erwartungen, Wünsche und Träume womöglich enttäuscht würden.
Sie trat auf den Flur und lief dann die Treppe hinab. Unten kam gerade Bertha, die Haushälterin, aus der Küche. Die Tage nach ihrer Ankunft in der Villa war sie Amala noch mit einer gewissen Distanz begegnet. Doch das hatte sich rasch gelegt. Inzwischen war das Verhältnis zwischen ihnen überaus freundlich, ja sogar herzlich, und Amala war froh, dass von den anfänglichen Spannungen nichts mehr zu spüren war.
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