Das wahre Motiv (Uta Seeburg)

 In Historischer Krimi

Der wahre Grund – Kriminalroman von Uta Seeburg

Vorgestellt wird der zweite Band der Reihe um den preußischen Major Wilhelm Freiherr von Gryszinski, der sich auch ohne Kenntis des ersten Bandes gut lesen lässt.

Das wahre Motiv

heißt der 2. Band rund um den Kommissar Major Wilhelm Freiherr von Gryszinski, seines Zeichens preußischer Sonderermittler, der kurz vor der Jahrhundertwende angesiedelt ist. Ein Preuße in München – kann das gut gehen? Eine wichtige Voraussetzung ist im Haushalt schon mal vorhanden: Die hervorragende Köchin Frau Brunner, bei deren plastisch beschriebenen Kochkünsten nicht nur Major G. das Wasser im Munde zusammenläuft! Herrschaftszeiten – so eine Köchin hätte ich auch gerne!

Entsprechend gerne frönt der Kommissar auch der bayrischen Hausmannskost – ob von Frau Brunner gekocht oder an einem der Stände am Viktualienmarkt gekauft. Bevor er wieder los muss! In diesem Band einen Mörder in Künstlerkreisen jagen, der es auf junge Männer -manche davon Modelle- abgesehen hat, die er bizarr drapiert und tot fotografiert! So muss Gryszinski undercover in Künstlerkreise eintauchen, die in diversen Lokalitäten im berühmt berüchtigten Stadtteil Schwabing verkehren. Hilfreich ist ihm dabei Ehefrau Sophie, die sich neuerdings schriftstellerisch betätigt, und für ihren ersten Kriminalroman (natürlich) schon einen Verleger gefunden hat, der sie in Begleitung ihres Gattens in Münchens Künstlerszene einführt.

Im Laufe seiner Recherchen läuft unserem preußischen Major des öfteren der Prinzregent über den Weg. Ob bei den Festen der Malerfürsten Stuck und Lenbach oder in der Kutsche in den Straßen der Stadt – überall ist Prinzregent Luitpold präsent, der übrigens tatsächlich ein großer Förderer von München als Kunst- und Kulturstadt war!

Als Gryszinski von einem preußischen Gesandten aufgesucht wird, der eine Verschwörung gegen den Kaiser wittert und ihn um Mithilfe bittet, oder soll man sagen, zwingt, macht er gute Miene zum bösen Spiel und recherchiert weiter in der Bohéme-Szene. Als es zum Handeln schon fast zu spät ist, macht er dort eine Entdeckung, die das bayrische Königreich aus den Fugen bringen könnte…

Schon der erste Band der Reihe „Der falsche Preuße“ von Autorin Uta Seeburg hatte mir gut gefallen – insbesondere die wirklich fantasievolle Handlung und die treffende Beschreibung der Charaktere, darunter –wie auch in diesem Band- einige typische bayrische Originale. Das Münchner Leben zu Belle Époque wird in den Bänden gut und mit dem richtigen Schuss Humor dargestellt – und es fehlt auch nicht an Spannung.

Deshalb freue ich mich auf eine Fortsetzung!

Textauszug (S.33-43):

Den ganzen Abend über hatten Sophie und er ihre Gäste den Großteil des Gesprächs bestreiten lassen und sich nur hin und wieder verstohlene Blicke zugeworfen. Er war sich nicht ganz sicher, ob sie nun Streit hatten oder Sophie eher auf die gesellschaftlichen Konventionen an sich wütend war. Gleichzeitig beschäftigte ihn noch eine andere Frage:

Warum nur hatte sie ihm überhaupt nichts davon erzählt, dass sie an einem Buch schrieb? Offenbar hatte es eine immense Bedeutung für sie, ihre Tage waren damit ausgefüllt gewesen, und am Ende hatte das Manuskript sogar seinen Weg zu einem Verleger gefunden. Dass sie ihm nichts darüber berichtet hatte, verletzte ihn.

Die kleine Gesellschaft schwieg immer noch, als Frau Brunner ihren Fuß in das verbale Vakuum setzte. Vor sich balancierte sie die zart duftenden Mandelkränze, die sie nun zu einem kühnen Berg aufgetürmt hatte, gekrönt von einem fragilen Gespinst aus einer Creme und gesponnenem Zucker. Aus Gryszinskis Perspektive war nur noch die Spitze des Dutts zu sehen, der auf ihrem Kopf festgezurrt war. Er schob eine kleine hübsche Vase, die Sophie erst an diesem Morgen erstanden hatte, ein Stück zur Seite und musste dabei unwillkürlich an den Tag zurückdenken, als das Telephon im Flur zum ersten Mal geklingelt hatte. Da hatte seine hauseigene Jeanne d’Arc der Süßspeisen einen ganz ähnlichen Scheiterhaufen präsentiert. Ein kleines Grinsen konnte er sich nicht verkneifen, als er sich daran erinnerte, wie Sophie zur Mitte der Tafel gehechtet war, um ihre Etagere vor den fliegenden Salzburger Nockerln zu retten, als sich die kleine Assoziation leider als prophetische Eingebung erwies, denn genau jetzt wiederholte sich die ganze Geschichte. Unter den Schreckensschreien ihrer Gäste stürzte Gryszinski zum Telephon.

Die Stimme aus der Vermittlung kündigte ihm den Anruf eines Oberwachtmeisters Gschwend aus der Polizeidirektion an. Selbiger meldete sich kurz darauf persönlich. Es klang wirklich, als würde er direkt hinter ihm stehen, wie Gryszinski leicht schaudernd bemerkte.

»Wir haben einen Toten in der Nähe des Gärtnerplatzes«, informierte ihn Gschwend. »Der diensthabende Gendarm aus der Polizeistation Isarvorstadt hat die Meldung gemacht, es handelt sich nach einer ersten Inaugenscheinnahme um Mord. Polizeidirektor Welser persönlich hat angeordnet, dass wir Sie verständigen sollen, Herr Major.«

»Gut.« Gryszinski strich sich übers Gesicht. Im Hintergrund lamentierte die Wurmbrand, wenn auch offenbar eher im Scherz, über die unliebsamen Flugkünste süddeutschen Feingebäcks, die sie in gewohnter geistiger Stringenz mit dem Erdbeben zu Chili in Verbindung brachte. »Ich komme gleich. Verständigen Sie auch die Wachtmeister Eberle und Voglmaier. Und, ah!« Eben fiel ihm sein Kutscher wieder ein. »Ähem, meine Droschke erwartet in der Schrammerstraße weitere Instruktionen. Gustav soll mich in der Liebigstraße abholen und meinen Koffer mitbringen.«

»Ja, Chef!«

»Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando?«

(Hans Groß: Handbuch für Untersuchungsrichter, Polizeibeamte, Gendarmen usw., 1. Auflage, 1893)

Der Tatortkoffer war in den Kreisen der Königlich Bayerischen Gendarmerie bereits zu Gryszinskis Markenzeichen geworden. Der Major hielt ihn auch jetzt in der Hand, als er die Wohnung im dritten Stock eines Mietshauses in der Klenzestraße betrat. Diesen Koffer hatte sein Mentor Hans Groß konzipiert. Er enthielt alles, was der moderne Ermittler zur Besichtigung des Tatorts und für die Spurensicherung benötigte, zum Beispiel trockene Socken für den unangenehmen Fall, dass man sich auf einem feuchten Stück Land bewegen müsste und nasse Füße bekam. Dazu gab es verschiedene Bögen Schreibpapier unterschiedlicher Größe und Beschaffenheit, Pauspapier, eine Schreibfeder sowie ein Fläschchen Nigrosin – ein schwarzes Pulver, aus dem man unter Zugabe einiger Tropfen Wasser eine brauchbare Tinte zaubern konnte. Außerdem: ein Fläschchen Gips und ein Fläschchen Öl, um Fußabdrücke abzunehmen. Eine Lupe, einen Zirkel, einen Zollstock und einen Schrittzähler.

Letzterer war sehr praktisch, um beim Abschreiten von Entfernungen mit den Gedanken schon bei anderen Dingen sein zu können, während das kleine Gerät, nicht größer als eine Taschenuhr, die Arbeit machte. Groß empfahl, den Zähler nicht in der Westentasche, sondern direkt im Stiefel zu tragen, weil er so zuverlässiger funktionierte. Kerzen, falls ein düsterer Raum mehr Beleuchtung brauchte. Auch an ein Kruzifix war gedacht worden, für den Fall, dass man einem Sterbenden noch eine letzte Aussage unter Eid abnehmen musste. Und natürlich Bonbons, um die Vernehmung verängstigter Kinder einfacher zu gestalten. Diese durften unter keinen Umständen mit den Sublimatspastillen verwechselt werden, aus denen man eine Lösung herstellen konnte, in der man die Hände desinfizierte. Diese Pastillen waren hochgiftig und sahen den Bonbons leider zum Verwechseln ähnlich. Gryszinski hatte daher auf das betreffende Röhrchen einen großen Totenkopf gemalt, der ihm jedes Mal, wenn er den Koffer öffnete, bedrohlich entgegenstarrte.

Er sah sich um. Vom Eingang aus blickte man direkt in die gute Stube, die mit zierlichem Mobiliar vollgestopft war. Die Flügeltür, durch die man eintreten konnte, stand sperrangelweit offen, der Schlüssel steckte noch. Die Gryszinskis zeigten mit ihrem tagtäglich geöffneten Salon eine gewisse weltmännische Modernität, aber traditionellerweise schloss man die gute Stube nur für höhergestellten Besuch oder Familienfeste auf. Ansonsten blieb sie versperrt, vor allem in Familien mit kleinen Kindern und deren schmutzigen Händchen, die hier allerdings auch einigen Schaden hätten anrichten können.

Kein Sesselchen kam ohne Zierbänder oder Volants aus, alles war mit weichen Stoffen bezogen, das ganze Zimmer wie mit Garn ausgestopft. In einer Vitrine, die beim ersten Schritt in den Raum hinein klapperte, war stolz das gute Geschirr ausgestellt. Ein komplettes Service, weder passende Porzellanglöckchen noch die Schälchen für Schildkrötensuppe fehlten, alles fein bemalt mit Girlanden aus bunten Blumen, darüber ein goldener Schriftzug: Lebe in Frieden. Direkt neben dem Buffet hing eine Lithographie an der Wand, die Reproduktion eines Portraits des Prinzregenten, wie er sich selbst am liebsten zeigte: volksnah in Lederhosen und Lodenjacke, das Jagdgewehr geschultert, in die bayerische Landschaft blickend.

Ein großes Fenster aus altmodischen Butzenscheiben stand teilweise offen und gab den Blick auf die Seitenansicht des Theaters am Gärtnerplatz frei, die letzten Zuschauer der abendlichen Operette standen noch auf der breiten Treppe. Das Theater war glanzvoller Mittelpunkt eines gelb gestrichenen Häuserensembles, das einen Kreis um den Platz herum beschrieb, auf dem schmale Wege zwischen Blumenrabatten zu einem Springbrunnen führten. Gryszinski löste den Blick von dem großen Fenster und nickte dem Gendarmen zu, der neben der Tür zur Stube Wache hielt.

»Hier ist sie, Chef«, erklärte der Mann überflüssigerweise; die Leiche war sofort zu sehen gewesen. Gryszinski trat bis zur Schwelle des Zimmers, dessen Pracht ihn kalt anhauchte. Wie üblich wurde die gute Stube aus Sparsamkeit nicht geheizt. Auf einem Kanapee, das von Füßchen aus geschnitzten Margeriten getragen wurde, lag ein junger, auffallend schöner Mann. Er hatte die Haltung eines Schlafenden eingenommen, ruhte auf der Seite, den einen Arm leicht nach oben über den Kopf gewinkelt, während der andere Arm schlaff herunterhing. Der Tote war völlig nackt, nur ein Samtkissen mit Troddeln verdeckte etwas schamhaft seinen Schoß. Direkt darüber klaffte eine längliche Wunde, während der sichtbare Rest der Leicheunversehrt war. Gryszinski ließ seine Blicke durch das Zimmer wandern. Um das Kanapee herum herrschte peinlichste Ordnung.

In einer Ecke allerdings ging ein Riss durch das häusliche Glück. Dort standen zwei Stühlchen an einem kleinen runden Tisch – ein dreibeiniger Tisch, wie er für spiritistische Séancen genutzt wurde –, von der gewaltsam die bestickte Tischdecke, einige Kristallgläser und eine Karaffe gerissen worden waren. Eine Flüssigkeit besudelte Decke und Boden. Wie die ungestüme Kinderhand in Fritzis Laden war eine zornige Macht jäh aus dem Himmel heraus in diese Puppenstube gefahren.

Gryszinski drehte sich zu dem Gendarmen um. »Haben Sie irgendetwas berührt oder verändert?«

»Nein, Chef, natürlich nicht.«

Gryszinski nickte zufrieden. Zumindest die einfachsten Grundsätze der Kriminalistik waren allmählich in den Köpfen der Königlich Bayerischen Gendarmen angekommen. »Wissen wir schon etwas über die Identität des Opfers?«

»Oswald Strohmayer. Achtzehn Jahre alt. Lebte hier bei seiner Tante, Maria Strohmayer. Sie hat ihn auch gefunden, gegen halb fünf am Nachmittag. Sie ist in ihrem Schlafzimmer. Dr. Meyering ist bei ihr.«

Wieder nickte Gryszinski. Die Tante war vermutlich ganz aufgelöst, man würde sehen, wie viel sie heute Abend noch berichten könnte. In diesem Moment trafen Eberle und Voglmaier ein, sie konnten mit der Arbeit beginnen. Eberle, der unvoreingenommen war, jeden Sinn schnell erfasste und zudem eine besonders leserliche Handschrift hatte, war sein ständiger Schriftführer. Das Spatzl trug eine große Kiste, in der sich mehrere Stapel kleinerer Kistchen befanden. Er stellte die Kiste am Eingang zur Stube ab und verschwand dann wieder, um die anderen Bewohner des Hauses einer ersten Befragung zu unterziehen, mit ihm gingen zwei jüngere Gendarmen.

Gryszinski griff sich einige der kleineren Kisten und betrat vorsichtig das Zimmer, bei dem es sich vermutlich um den Tatort handelte – er durfte von vornherein nichts als gegeben ansehen, alles musste zunächst geprüft werden. Die Stube verfügte über wenig Licht, es gab einen elektrischen Anschluss, an dem eine schummrige Stehleuchte hing. Ansonsten spendeten mehrere Petroleumlampen einen warmen Schein.

Gryszinski zog seinen Notizblock aus der Innentasche seines Mantels und schrieb auf, dass er die Tante befragen musste, ob die Lichter bereits gebrannt hatten, als sie das Opfer gefunden hatte, um auszuschließen, dass nicht doch irgendein übereifriger Gendarm tätig geworden war und für mehr Helligkeit gesorgt hatte. Er konzentrierte sich zunächst auf die unordentliche Ecke um den dreibeinigen Tisch herum und stülpte mehrere kleine Kisten über die Spuren, damit diese geschützt waren: die Gläser und die Karaffe, die am Boden lagen, die Reste der Flüssigkeit auf dem dicken Teppich. Cognac, dem Geruch nach zu urteilen. In der Karaffe befand sich noch ein kleiner Rest, auch die Gläser waren noch feucht. Man müsste, sobald die Lage der Gegenstände dokumentiert war, sofort ein paar Tropfen auffangen und auf Gift testen lassen. Hinter dem Tischchen entdeckte er Erbrochenes. Auch das würde man in mehreren Röhrchen verschließen und mitnehmen, zuvor aber musste der Gerichtsarzt es in Augenschein nehmen. Manchmal konnte dieser auf den ersten Blick die Blätter einer giftigen Pflanze entdecken, auch wenn Gryszinski auf etwas anderes tippte. Langsam lief er weiter durch den Raum, deckte weitere Gegenstände ab, diktierte Eberle seine Eindrücke.

Der schwäbische Wachtmeister würde als Nächstes einige Skizzen anfertigen. Zunächst einen Grundriss, auf dem alle Spuren samt der Leiche verzeichnet waren; dafür musste ein festes Stück Papier so zugeschnitten werden, dass es genau den Proportionen des Raumes entsprach, um keine Verzerrung des Maßstabs zu riskieren. Später würde er das Papier mit einer Mischung aus Stearin und Kollodium übergießen, um die Lageskizze länger haltbar zu machen, denn diese würde immer wieder zur Hand genommen werden, nicht zuletzt bei Gericht. Gryszinski ordnete außerdem die Erstellung einer Kreuzprojektion an, also eine dreidimensionale Skizze von Boden, Raum, Decke und den Wänden, die man so zusammenstecken konnte, dass man den Tatort als kleinen Schaukasten vor sich hatte; ein schauriges papiernes Puppenhaus.

Gryszinski kam nun zur Leiche und ihrem penibel aufgeräumten Umfeld. Sein erster Eindruck war, dass alles irgendwie hergerichtet wirkte. Er stellte sich vor das Kanapee, um die gesamte Szenerie auf einen Blick vor sich zu haben. Als er seine Augen auf den Boden richtete, entdeckte er einen merkwürdigen Abdruck, auf den er fast seine Füße gesetzt hätte. Er bückte sich und sah genauer hin. Drei kleine Kuhlen, jede etwa daumendick, im Dreieck angeordnet, hatten sich, noch schwach sichtbar, in den Teppich gegraben. Stirnrunzelnd griff er sich seinen Zolstock, maß die Einbuchtungen und ihre Entfernungen zueinander aus und deckte sie danach mit den Kisten ab.

Er wandte sich wieder dem Toten zu. Für einen Achtzehnjährigen war dieser sehr muskulös, der Körper hatte den androgynen Jüngling bereits hinter sich gelassen und war in das Stadium der Männlichkeit eingetreten. Die Gesichtszüge dagegen, so klassisch gefällig sie auch waren, wirkten kindlich auf ihn. Die Stirn war leicht gerunzelt, der Mund sacht verzogen. Der Ausdruck erinnerte ihn an Fritzis Gesicht, wenn dieser zu weinen begann, so untröstlich traurig von einem Moment auf den anderen, wie es nur ein Kind sein kann. Die plötzliche Verbindung zu seinem eigenen Kind machte Gryszinski betroffen. Er musste sich zusammenreißen, um nicht die Hand zu heben und diesem toten Jungen, dem in der Sekunde des Todes die heißen Tränen der eben erst hinter sich gelassenen Kindheit in die Augen geschossen waren, nicht übers Gesicht zu streicheln.

Gryszinski räusperte sich. Er musste aufpassen, dass nicht alles so auf ihn einstürmte. Um sich zu fangen, zückte er seinen Notizblock – Hans Groß empfahl einen kleinen Block und kein Notizheft, damit man alles, was erledigt oder verworfen war, einfach herausreißen und wegwerfen konnte, da man sonst in der Fülle des Unwichtigen das Wesentliche übersehen würde. Er atmete durch und notierte jenen goldenen Juristenspruch, den sein Mentor ihm einst eingebläut hatte: Wer, was, wo, womit, warum, wie und wann? Er dachte über die einzelnen Punkte nach. Das Wer? konnte er bislang nur mit dem Namen des Opfers beantworten, er schrieb ihn auf und setzte daneben ein Mörder noch unbekannt. Dann notierte er: Was? Mord. Neben das Wo? kam die Adresse des Fundorts. Ob dieser wirklich der Tatort war, würden sie noch zweifelsfrei klären. Bei allen anderen Fragen musste er passen.

Er steckte den Block wieder ein und zog dafür aus einem Innenfach des Tatortkoffers einige weiße Blätter Papier nebst mehreren feinen Bögen Strohpapier, die beidseitig mit blauer Indigomasse bestrichen waren. Mit diesem Papier ließen sich sehr gute Kopien erstellen, so brauchte er seine schriftlichen Befehle, die an mehrere Gendarmen verteilt werden sollten, nur einmal niederzuschreiben.

Er stapelte immer abwechselnd das weiße und das blaue Papier auf einen kleinen Tisch im Vorraum der Stube, zückte einen harten Bleistift und schrieb so seine Anweisungen, wobei er besonders stark aufdrückte und sich gleichzeitig um Lesbarkeit seiner leider recht unsauberen Schrift bemühte. Die nähere Umgebung musste schnellstmöglich nach einem spitzen Gegenstand mit Blutspuren abgesucht werden. Außerdem sollten, zusätzlich zu den Nachbarn, die Voglmaier bereits aufsuchte, jene Mitglieder der Gesellschaft befragt werden, die man oft übersah, während sie andersherum die Augen der Straße waren: Postboten, Milchmänner, Mietkutscher, Prostituierte. Man wusste nie, wem etwas Ungewöhnliches aufgefallen war.

Hinter ihm kam jetzt etwas in Bewegung. Der Tatortphotograph, ein Mann mit einer etwas albernen Haartolle namens Dornauer, trat durch den Eingang, ziemlich außer Atem, da er seine schwere Ausrüstung die Treppen hochgeschleppt hatte. Gleichzeitig erschien Dr. Meyering aus einem hinteren Teil der Wohnung. Er nickte Gryszinski zu.

»Die Tante ist außer sich«, erklärte er leise. »Aber für ein paar Fragen können Sie jetzt zu ihr gehen, wenn Sie so weit sind. Danach werde ich sie wohl zur Ader lassen.«

»Gut.« Gryszinski übergab Eberle die eben verfassten Befehle mit der Bitte, diese an die unten wartenden Gendarmen zu verteilen. »Und Sie können sich um den Toten kümmern, sobald Dornauer diesen photographiert hat«, wandte er sich wieder an den Gerichtsarzt, der bereits seinen eigenen Koffer öffnete. »Bitte nehmen Sie auch eine Probe aus der Karaffe und den Gläsern«, fügte Gryszinski hinzu. »Und testen Sie die Leiche sofort auf Arsen.«

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***

Gretes Fazit

(für alle, die…mögen) :

+ fantasievolle Handlung mit Spannung

+ Das Flair von München zur Prinzregentenzeit

+  gut gezeichnete Charaktere mit Lokalkolorit

 

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Über die Autorin

Uta Seeburg ist Berlinerin und lebt in München. Sie arbeitete bereits als Werbetexterin, Drehbuchautorin und Redakteurin, widmet sich aber heute ausschließlich der Schriftstellerei. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin wohnt mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in Haidhausen.

 

 

 

Der Kriminalroman „Das wahre Motiv“ ist der 2. Band der Reihe rund um den preußischen Major Wilhelm von Gryszinski – erschienen sind beide Bände im Verlag HarperCollins.

In diesem Überblick findet Ihr alle bisher vorgestellten historischen Krimis – die Handlungen sind u.a. in Wien, Berlin und Norddeutschland angesiedelt.

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