Die Hurdy-Gurdy Girls

 In Landleben, Unkategorisiert

Ein Gastartikel von Jana Beck

Ein nahezu unbekanntes Stück deutscher Geschichte führt uns ins ländliche Hessen zu Eltern, die Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Töchter als Hurdy-Gurdy-Girls in die Fremde verkauften. Wie groß muss die Not damals gewesen sein? Auf welche Versprechen sind sie hereingefallen? Es klingt verdächtig ähnlich dem heutigen Mädchenhandel, bei dem junge Frauen in die Prostitution gezwungen werden. Wobei es sich bei den Hurdy-Gurdy-Girls um Mädchen handelte, die vorgeblich gegen Geld „nur“ mit Männern tanzen mussten. Doch welches Leben erwartete sie tatsächlich?

Interessanterweise waren fast ausschließlich Mädchen aus Hessen in Amerika und anderen Teilen der Welt als Hurdy-Gurdy-Girls tätig. Nicht Kriege und Seuchen verursachten ab ungefähr 1850 in Hessen Not, das Gegenteil sorgte für Hunger: Das fast völlig fehlen derselben führte zu einem Bevölkerungswachstum, sodass es immer schwieriger wurde, alle mit Nahrung zu versorgen. Im ländlichen Bereich kam dazu, dass die Bauernhöfe aufgrund der Erbteilung immer kleiner wurden und alle dort Lebenden nicht mehr versorgt werden konnten. Für Mädchen vom Land war es schwierig, anderweitig Arbeit zu finden. Haushalte oder Hotels wollten oft keine Bauerntöchter in Stellung nehmen. Eine Möglichkeit bot sich ihnen jedoch in einem anderen Geschäftszweig: Sie konnten sich bei sogenannten „Landgängern“ verdingen.

Ursprünglich verkauften die Landgänger handgefertigte Fliegenwedel auf Märkten. Zunächst in der näheren Umgebung, doch ihr Radius erweiterte sich immer mehr und schließlich zogen sie bis England. Bald bemerkten sie, dass ihre Waren sich besser verkauften, wenn Mädchen neben ihrem Stand sangen und tanzten. Somit warben sie junge Frauen an, die mit ihnen „ins Land gingen“. Mit der Zeit entwickelte sich ein Teil der Landgänger zu Mädchenhändlern, sogenannten „Seelenverkäufern“. Sie verkauften junge Frauen bis nach Kalifornien und Britisch Kolumbien, im heutigen Kanada gelegen. Dort wurden sie als Hurdy-Gurdy-Girls bekannt und mussten in Tanzhallen und den Saloons der Goldgräberstädte arbeiten.

Pastor Ottokar Schupp, der bis 1868 im hessischen Landgängerdorf Espa tätig war, erhielt von einem seiner Pfarrkinder einen Brief zu lesen, der an den von ihr geliebten Mann gerichtet war, und den er später aus dem Gedächtnis niederschrieb. Darin drückte eine junge Frau ihre Ängste aus:

„Weißt Du auch schon, daß der alte Fink, der Seelenverkäufer, wieder im Dorfe ist. Es wundert mich nur, daß so einen schlechten Menschen das Meer nicht verschlingt. Er war in Californien und hat erstaunlich viel Geld mitgebracht. … Ach, Du lieber himmlischer Gott, wenn doch meine Eltern nicht auf den Gedanken kommen, mich auch zu verschachern. – Ich glaube, ich würde es nicht erleben.“

In den Verkauf der Mädchen durch die Eltern waren oft die Bürgermeister und manchmal auch andere honorige Personen, wie die Lehrer der Dörfer, involviert. Die Landgänger selbst waren oft aus der Gegend oder gar mit den Mädchen verwandt. Den Vätern wurden hohe Summen angeboten, um einen Vertrag zu unterzeichnen, der ihre minderjährigen Töchter auf drei Jahre an den Seelenverkäufer band. In einem Brief aus dem Jahr 1864 spricht Konsul H. Hanssmann von tausend Gulden, die für die jungen Frauen bezahlt wurden. Damals eine unvorstellbar hohe Summe. Zudem erhielten die Mädchen freie Kost und Kleidung, auch die Überfahrt in die Neue Welt, und wieder zurück – so sie stattfand –, wurde ihnen finanziert.

„… mein Vater saß nicht umsonst die Tage her so oft und so lange mit dem Bürgermeister und dem alten Fink im Wirthshaus und hatte nicht umsonst mit meiner Mutter so viel heimlich zu verkehren. Dazu kommt noch vorgestern Abend Försters Anna zu mir geschlichen und sagt: »Weißt Du auch etwas Neues? Wir sind veraccordirt: ich, Du, Fuchse Greth, Schulheimbuk’s Lisbeth, Zimmers Dine und Treppe Dorth. In drei Wochen geht es nach Californien. Sie freuen sich schon Alle über den Staat und die Herrlichkeit. – Die schlechten Dinger! An das Andere denken sie nicht. Ich habe mir schon fast die Augen aus dem Kopf geheult.“

Laut Pastor Schupp verschacherten auch vermögendere Bauern und Pächter ihre Kinder, die nach Nord-, Südamerika und Australien verschifft wurden, hauptsächlich aber nach Kalifornien.

In der Neuen Welt waren die hessischen Mädchen unter dem Namen Hurdy-Gurdy-Girls bekannt. Eigentlich ist „Hurdy“ ist ein alter englischer Ausdruck für Gesäßbacken oder Hüften. In diesem Fall kommt der Name für die jungen Frauen allerdings von einem Musikinstrument, dem „Hurdy-Gurdy“, das im Deutschen Drehleier genannt wird. Es sieht einer Geige ähnlich, hat jedoch Tasten und eine Kurbel mit der sie gespielt wird. Ursprünglich haben die Mädchen zur Musik so eines Hurdy-Gurdys getanzt. Dieses Instrument gibt es übrigens heute noch und manch moderne Sängerin begleitet ihre Lieder damit.

Das Leben der Dorfmädchen, die sich in einem fremden Land wiederfanden, indem sie weder die Sprache beherrschten, noch mit der Kultur vertraut waren, muss hart gewesen sein. In einer Ausgabe der Gartenlaube aus dem Jahr 1865 schildert ein Auswanderer, wie es in den Saloons bei den Tanzabenden der Hurdy-Gurdy-Girls zuging:

„Halbangetrunkene, rohe Goldgräber, theilweise in Hemdärmeln und mit dem Hute auf dem Kopfe, mit geladenen Revolvern und langen Messern im Gürtel und die Hosen meist in die Stiefelschäfte gesteckt, zerren die Mädchen im Tanze umher und stoßen sich dieselben mitunter gegenseitig zu, trinken mit ihnen vergiftete Getränke, führen schmutzige Reden und erlauben sich alle möglichen handgreiflichen Freiheiten und Frechheiten, wofür sie ja zahlen – zahlen, mit blankem Golde!“

Ein Tanz kostet die Männer laut deutschen Quellen einen viertel bis halben Dollar. In der Goldgräberstadt Barkerville, in Britisch Kolumbien, mussten die Männer dafür einen Dollar auf den Tisch legen. Damals kostete dort eine Gallone Milch, also nicht ganz vier Liter, 1.50 Dollar. Um den gleichen Betrag erhielt man im nahegelegenen Cameronton im Pioneer Hotel ein Mittagessen samt Getränk.

Leider gibt es keine genauen Aufzeichnungen darüber, wie viel ein „Boss Hurdy“ an einem Mädchen pro Abend verdiente, doch schon damals wurde vermutet, dass das Geschäft mit den Hurdy-Gurdy-Girls sehr einträglich war. Schätzt man, dass ein Mädchen an einem Abend 30 bis 40 Tänze absolvierte, so entsprach ihr Tageseinkommen – das an den „Boss Hurdy“ ging – dem monatlichen Verdienst eins Hausmädchens der damaligen Zeit in Amerika. Zusätzlich zum Tanzen waren die Hurdy-Gurdy-Girls zudem angehalten, die Männer zum Trinken zu animieren, wobei die Einnahmen daraus mit dem Wirt geteilt wurden.

Offiziell galten die Hurdy-Gurdy-Girls als anständige deutsche Mädchen. Besonders in den Goldgräber-Gebieten, in denen deutlich mehr Männer als Frauen lebten, waren sie als Tanzpartnerinnen heißbegehrt. In einem Artikel des Wochenblattes Cariboo Sentinel aus dem Jahr 1866 meinte der Verfasser: „They are … from “poor but honest parents” and morally speaking, they really are not what they are generally put down for.“

Allerdings ist es jedoch sehr wahrscheinlich, dass Prostitution zu den Tätigkeiten der Mädchen gehörte. Ihr Ruf als Hurdy-Gurdy-Girls war nicht der Beste. Sie galten als Frauen, „… die jegliches Schamgefühl verlernt zu haben scheinen“. So stand es damals in der Gartenlaube zu lesen. Viele hielten die jungen Frauen für hartherzig und geldgierig, wie James Anderson, der in seinen Liedern das Leben der Goldgräber der Cariboo Goldfields schilderte und einen Song über die Hurdy-Gurdy-Girls verfasste: „They danced at nicht in dresses light … their hearts were hard as flint. … The Dollar was their only love …The didna care a flea for men … The German hurdy-gurdies, O!

Es gibt eine Fotografie von vier deutschen Hurdy-Gurdy-Girls, die 1865 vor einem Haus in Barkerville posierten. An ihren Gesichtern ist abzulesen, wie hart ihr Leben gewesen sein muss. So wie die hessischen Dorfmädchen in Amerika angekommen waren, wurden sie von den „Seelenverkäufern“ an die „Boss Hurdys“ weiterverkauft. Der Verfasser des Artikels in der Gartenlaube erzählt, dass sie dabei „wie Waare von grundsatzlosen Menschenhändlern an den Meistbietenden verdingt werden“. Interessant ist, dass auch Frauen in das Geschäft mit den Mädchen involviert waren. So wie Rose Austin aus Barkerville in Britisch Kolumbien, die zusammen mit ihrem Ehemann als „Boss Hurdy“ tätig war.

Seit 1863 war der Handel mit den Mädchen in Kalifornien gesetzlich verboten, sodass diese Übergabe der Mädchen illegal stattfand. Auch ihre Tätigkeit als Hurdy-Gurdy-Girl war damals dort bereits unter Strafe gestellt, sowohl für die „Boss Hurdy“  – aber auch für die Mädchen. Viele erfuhren vermutlich nie, dass der von ihren Eltern abgeschlossene Vertrag in Kalifornien null und nichtig war. Dem„Boss Hurdy“ drohten Geldbußen zwischen fünfzig und fünfhundert Dollar, oder Gefängnisstrafen, den Mädchen Strafen bis hundert Dollar. Konsul Hanssmann, der davon dem Königlichen Ministerpräsidenten nach Berlin berichtete, bezweifelte allerdings, dass sich das Gesetz zeitnah durchgreifend würde exekutieren lassen.

So verbrachten die hessischen Mädchen in der Regel die vertraglich festgelegten drei Jahre in der Fremde. Danach hätten sie theoretisch nach Hause zurückkehren dürfen. In der Praxis geschah das allerdings selten. Gerade in den Goldgräber-Gegenden, wo Frauen rar waren, heirateten die ehemaligen Hurdy-Gurdy-Girls häufig. Etliche werden in der Prostitution gelandet sein. Manche von ihnen setzen ihr Leben als Hurdy-Gurdy-Girl fort – allerdings auf eigene Faust. Sie schlossen sich in Gruppen von drei bis sechs Frauen zusammen und zogen, meist unter der Leitung eines älteren ehemaligen Hurdys, übers Land und verdienten sich durchs Tanzen ihren Lebensunterhalt. Konsul Hanssmann meinte dazu: „Die Freiheit der alleinstehenden Tanzmädchen artet in der Regel in Zügellosigkeit aus, die oft schlimmere Resultate hat als die Abhängigkeit, denn sie fallen Gefährtinnen in die Hände, die mit allen  Wegen des Lasters vertraut sind“.

Zwischen 1860 und 1870 ereilte hunderte aus Hessen stammende Mädchen das Schicksal, als Tanzmädchen nach Kalifornien und Britisch Kolumbien verkauft zu werden. Obwohl es wenig Aufzeichnungen über das Leben dieser Frauen gibt, sind dennoch einige namentlich bis heute bekannt, wie Elisabeth Feiling, Rebecca Fick oder Margette Braun, die es nach Barkerville in Britisch Kolumbien verschlagen hat. Von Elisabeth Feiling weiß man zudem, dass sie dort heiratete.

Luise Ludwig aus Langenhain-Ziegenberg ist eine der wenigen, die nach Hessen zurückgekehrt ist. Ihre Lebensgeschichte schildert die Autorin Irene Stratwerth, die zu dem Thema intensiv recherchiert hat, in ihrem Roman „Hurdy Gurdy Girl: Eine weite Reise durch die Nacht“. Somit gerät das Schicksal dieser jungen Frauen nicht völlig in Vergessenheit. Vielleicht schlummern noch Briefe von Hurdy-Gurdy-Girls unerkannt auf Dachböden oder in Antiquariaten. Sie könnten uns mehr über ihr Dasein verraten und weitere Einblicke in ihr Leben ermöglichen. Im Moment müssen wir uns mit Fragmenten und den allgemein bekannten Lebensbedingungen der damaligen Zeit begnügen und es obliegt unserer Vorstellungskraft, und der von Autorinnen und Autoren, die Lücken zu schließen.

Über die Autorin:

Jana Beck, geboren in Linz/Donau, ist Mutter zweier Söhne. Als Geschichtslehrerin brachte sie ihren Schülern Ereignisse früherer Jahrhunderte nahe: alte Münzen wanderten von Hand zu Hand und es wurde an Gewürzen aus dem Orient geschnuppert. Ihre Leidenschaft für historische Ereignisse und starke Frauen findet sich in vielen ihrer Erzählungen wieder. Wenn sie nicht gerade liest, sammelt die ehemalige Turniertänzerin auf Reisen neue Ideen für ihre Romane.

In ihrer Trilogie „Unter fernem Himmel“ verarbeitet sie ihre Recherchen zu den Hurdy-Gurdy Girls.

Quellen:

Originale

  • 13-seitiger, handschriftlicher Brief des preußischen Konsul Hanssmann an den Ministerpräsidenten von Bismarck, Bundesarchiv Berlin (Abschrift dankenswerterweise zur Verfügung gestellt von Irene Stratenwerth)
  • Ottokar Schupp: „Hurdy-Gurdy: Bilder aus einem Landgängerdorf“, 1867
  • Cariboo Sentinel, Barkerville, Jahrgang 1868
  • Die Gartenlaube, 1865, Heft 20, S. 311–313, Artikel „Die rheinischen Hurdy Gurdys in Amerika. Noch ein Capitel vom deutschen Menschenhandel.“

Zeitschriften, Fachbücher und Romane

    • Raincoast Chronicles 20: Lilies & Fireweed, S. 28-33, Artikel „Miners‘ Angels and Dance Hall Queens“, Harbour Publishing 2004
    • Irene Stratenwerth: „Hurdy Gurdy Girl – Eine weite Reise durch die Nacht“, PalmArtPress Berlin, 2020
    • Richard Thomas Wright: „Barkerville and the Cariboo Goldfields“, Heritage House Publishing 2013

Weitere Links:

Historischer Roman:

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