Die Lichtmalerin und der Kaiser (Kristina Wacker)

 In Historischer Krimi

Inhalt:

Der Krimi spielt in Berlin im berühmten „Dreikaiserjahr“ 1888, in dem das deutsche Reich von drei Kaisern regiert wird. Der „Kaiserwechsel“ ist ein durchziehender roter Faden der Handlung.
Es geht dabei um eine vertauschte Fotoserie, die ein Beweis für eine brisante Verschwörung am kaiserlichen Hof darstellt.

Aber von vorne: Die junge adelige Frederike hat eigentlich eine Serie vom Berliner Zoo für das Kaiserpanorama des Unternehmers Fuhrmann kreiert, bekommt aber vom Fotografen eine ganz andere Serie zurück. Mit Freundin Henriette, die im Gegensatz zu ihr, selbst ihr Geld verdienen muss und bei Pflegeeltern lebt, begibt sie sich auf die Suche nach „ihren“ Bildern und die Freundinnen geraten dabei in höchste Gefahr! Denn der Fotograf wird in seinem Atelier ermordet und alle Bilder sind verschwunden!
Zum Glück haben beide Frederikes resolute Erbtante Adele an ihrer Seite, für welche die Bildersuche eine willkommene Abwechslung aus ihrem eher eintönigen Witwendasein darstellt. Ja, Adele ist ein gutes Beispiel für die berühmte lustige Witwe, die sich (da sie finanziell unabhängig ist), nicht um Konventionen scheren muss und (fast) alles tun kann, was ihr beliebt.

In weiteren Rollen ist ein Auftragsmörder mit eisblauen Augen unterwegs, ein junger Kommissar muss sich profilieren, setzt aber öfter mal auf die falsche Fährte und ein schwules Pärchen versucht, Profit aus ihrer Rolle bei der Verschwörung zu ziehen. Sie wollen mit erpresstem Geld fliehen, aber wird es gelingen? Das Leben im Berlin dieser Zeit wird nebenbei lebendig erzählt, auch die damalige Schwulenszene, die durchaus existierte – dabei werden authentische Ereignisse geschickt eingeflochten. Die Handlung wird aus der Sicht der verschiedenen Protagonisten erzählt und dabei geschickt Spannung aufgebaut – man möchte wissen, wie es weiter bzw. am Schluss ausgeht! Das wird hier natürlich nicht verraten.

Textauszug (S.57-68):

Das Geständnis

Haus Klagenbeck in der Breiten Straße

19–20 Uhr

Der Ausflug in den Zoologischen Garten war ein voller Erfolg gewesen. Nicht nur die exotischen Tiere waren ein Publikumsmagnet, auch die aktuelle Völkerschau des Unternehmers Hagenbeck sorgte für volle Kassen. Wie erwartet hatten sich vor dem Freigehege Menschenmassen versammelt und ein Raunen war durch die Reihen gegangen, als ein fellbekleideter Mann eine Robbe aufschnitt und das rohe Fleisch an seine Kinder verteilte, die sich die Delikatesse genüsslich in den Mund schoben. Friederike hatten sich so viele Motive geboten, dass alle Trockenplatten schon nach zwei Stunden belichtet gewesen waren. Auf dem Rückweg hatte sie die Platten in einem Fotoatelier an der Friedrichstraße zur Entwicklung abgegeben. Sie hatte mit ihrer Freundin einen tollen Tag erlebt, in Erinnerungen an unbesorgte Stunden ihrer Kindheit geschwelgt und ständig gekichert. Die Zeit war so schnell vergangen, dass sie den Besuch bei ihrer Lieblingstante auf den nächsten Tag verschieben musste.

Nach diesen schönen Stunden fiel ihr der Gang, der ihr nun bevorstand, besonders schwer. Sie verharrte vor der geschlossenen Tür des Esszimmers und starrte auf das schwarze Holz der Türklinke. Gedämpfte Geräusche drangen an ihr Ohr und die Bilder dazu stellten sich automatisch ein. Gertrude, die wie Tausende anderer Dienstmädchen nur Minna genannt wurde, hatte gerade begonnen die Suppe aufzutragen. Friederike wusste, wie schwer sich das erst 15-jährige Mädchen beim Auftragen der Speisen tat. Vor allem die Suppenterrine, ein kostbares Familienerbstück aus Meißner Porzellan, jagte ihr jedes Mal eine Heidenangst an. Kein Wunder, denn das gute Stück kostete mehr, als Gertrude in zehn Jahren verdienen würde. Bis auf das Geräusch der Kelle, die mit einem leisen Plätschern die Suppe in den Teller entließ, war es still im Esszimmer der Familie. Eine Stimmung, die nicht dazu einlud, die Klinke herunterzudrücken. Erst als Friederike das leise Klirren des Deckels auf der Suppenschüssel hörte, nahm sie ihren Mut zusammen und öffnete die Tür.

Der Speiseraum war ein Museum mit Stücken aus der längst vergangenen Zeit des Biedermeiers, die als Erbstücke in der Familie weitergereicht wurden und die ihre Gäste immer wieder polarisierten. Die einen stießen Rufe des Entzückens aus bei der Betrachtung der behaglichen und schlichten Eleganz der Stühle, Vitrinen und Sofas, die sich mit ihrem Mahagoniholz effektvoll von der grünen Seidentapete des Raumes abhoben. Die anderen konnten nur schwer ihre Irritation verbergen, wenn sie an die private Zurückgezogenheit und sentimentale Naturverbundenheit dieser Epoche vor der Revolution dachten.

Zur Aufbruchsstimmung unserer Zeit passen die Möbel zwar nicht, zum Leben meiner Eltern aber schon, dachte Friederike, als sie die verkniffenen Gesichter sah, die ihr entgegenblickten. Ihre Mutter trug wie immer ein eng anliegendes Kleid in einem dunklen Braunton, das so wenig Haut sichtbar werden ließ wie irgend möglich. Friederike hatte nie verstanden, warum sie sich im Kreise ihrer Familie der Tortur eines dermaßen eng geschnürten Korsetts unterzog, durch das sie nur kerzengerade auf den vorderen Zentimetern des Stuhls sitzen konnte und jeder Bissen des Mahls Überwindung kosten musste. So steif, wie sie dasaß, hatte das Mädchen heute besonders viel Kraft beim Schnüren aufgewendet. Ihre Mutter strahlte noch mehr Unbehagen aus als sonst. Der Gegensatz zu ihrem Vater hätte nicht größer sein können, der mit seiner kleinen untersetzten Gestalt an der anderen Stirnseite der Tafel saß. Von ihm ging wie üblich ein Gefühl der Gemütlichkeit und des Wohlbefindens aus. Er nickte Friederike kurz zu und widmete sich anschließend wieder seiner Vorspeise. Ihr Bruder Ferdinand, ganz der unordentliche Student, saß zwischen den Eltern, fuhr sich durch sein strubbeliges Haar und zwinkerte ihr zu.

»Du kommst zu spät!« Die Missbilligung in Martha von Klagenbecks Stimme ließ den Raum augenblicklich kälter werden.

Davon unbeeindruckt grinste Ferdinand seine Schwester weiter an und platzierte seine Stoffserviette auf dem Schoß. Friederike sah, wie seine Nasenflügel vor Spannung zuckten, weil er den unweigerlich kommenden Familienzwist nicht erwarten konnte. Aber noch musste er sich gedulden, denn beim Essen wurde nur das Notwendigste gesprochen. Selbst wenn mitten in Berlin eine weitere Revolution ausbrechen würde – im Hause Klagenbeck wurde zu Ende gespeist. Zumindest bis zum letzten Gang, denn beim Dessert wurde eine leichte Konversation geduldet. Noch nie hatte sich Friederike weniger auf den Nachtisch gefreut als heute.

Das gleichmäßige Ticken der schweren Standuhr und das leise Kratzen des Bestecks auf dem Porzellan durchbrach unangenehm die Stille, während sie den Hauptgang zu sich nahmen. Heute gab es Ente mit Apfelperlen, weil sich ihre Mutter in den Kopf gesetzt hatte, Gerichte, die ihr Lieblingsschriftsteller Theodor Fontane in seinen Romanen erwähnte, nachkochen zu lassen. Jeder im Hause wusste, dass Martha gerne Romane las, obwohl sie dies heimlich tat.

Jeder Bissen schmeckte Friederike gleichermaßen fahl. Sie suchte verzweifelt nach einer glaubhaften Geschichte, die nicht als Lüge, sondern als gefilterte Wahrheit gelten konnte. Irgendwie würde sie Farbe bekennen und offenlegen müssen, wo und vor allem mit wem sie heute den ganzen Tag verbracht hatte. Denn eines schickte sich auf keinen Fall für eine junge Dame der gehobenen Gesellschaft: ohne Anstandsdame oder männliche Familienbegleitung stundenlang in der Stadt herumzustreifen. Schon die Andeutung eines Skandals hätte fatale Folgen. Der Vater würde von seinen Geschäftspartnern gemieden werden, die akademische Laufbahn des Bruders wäre vorzeitig zu Ende und ihre Mutter würde wochenlang mit Migräne an ihrem Riechfläschchen hängen. Henriette hat es da leichter, dachte Friederike und bekam sogleich ein schlechtes Gewissen. Sie wusste sehr gut, dass sie trotz dieser Einschränkungen auf der Sonnenseite des Lebens stand.

Gerade als sie ihren Löffel in eine Nachspeise namens »Birne Helene« steckte, hielt ihre Mutter die Schonfrist für beendet.

»Wo warst du seit den frühen Morgenstunden? Zehn Stunden lang wusste niemand von uns, wo du bist! Ich verlange eine vollständige und lückenlose Erklärung!« Marthas hoch aufgetürmte Frisur schwankte bedrohlich.

Der sonst so furchtlose Ferdinand blickte konzentriert auf seine hellgelbe matschige Birnenhälfte. Friederikes Vater Hermann hielt sich gewöhnlich aus häuslichen Themen heraus und überließ alles seiner Frau.

»Es tut mir leid, wenn ihr euch Sorgen gemacht habt. Aber bevor ich alles erkläre, möchte ich euch erst etwas zeigen.«

Erstaunt hoben auch die Männer am Tisch ihren Kopf. Friederike holte den Holzkasten aus dem Flur und setzte ihn mitten auf das weiße Tischtuch.

Ferdinand stand auf, trat hinter sie und schaute ihr neugierig über die Schulter, als sie den Deckel anhob. »Was ist das? Ein Fotoapparat mit zwei Linsen?«, fragte er und befühlte das Metall des Objektivs.

»Ja, das ist eine Stereokamera, die solche Bilder aufnimmt, wie August Fuhrmann sie in seinem Panorama zeigt.«

Auch Hermann trat nun hinzu, setzte seine Brille auf und beugte sich über den Kasten. »Und wie funktioniert das?«

»Ganz einfach. Es werden zwei Bilder gleichzeitig belichtet. Da unsere Pupillen ungefähr sechs Zentimeter auseinanderliegen, haben auch die beiden Objektive diesen Abstand. Ein Motiv wird deshalb aus zwei leicht versetzten Perspektiven aufgenommen. Präsentiert man die Fotos dann in diesem Abstand und setzt ein Okular für jedes Auge davor, erscheinen die abgebildeten Objekte plastisch, stereoskopisch eben.«

»Faszinierend«, murmelte Hermann und war so vertieft, dass er die schnellen Atemgeräusche seiner Frau nicht wahrnahm.

»Hermann!« Martha wedelte hektisch mit ihrer Serviette und bekam kaum noch Luft.

Auf eine solche Reaktion waren sie gefasst, denn jeder Familienkonflikt nahm den gleichen Verlauf. Gemächlich ging Ferdinand zur Anrichte und nahm ein kleines Fläschchen Riechsalz herunter, schraubte den Deckel ab und hielt es der fast Ohnmächtigen unter die Nase. Hermann schenkte seiner Frau kommentarlos ein Glas Branntwein ein und stellte es vor ihr auf den Tisch.

Er setzte die Brille ab und blickte seine Tochter ernst an. »So, und jetzt noch einmal langsam, Friederike. Wo hast du diesen kostspieligen Apparat her?«

»Von dem Unternehmer August Fuhrmann persönlich. Besser gesagt von seinem Sekretär Lohmann, aber das läuft auf das Gleiche hinaus. Ich habe mich heute als Fotografin für sein Kaiserpanorama beworben und darf in zwei Wochen Probeaufnahmen abgeben.«

Für einen kurzen Moment war nur das Ticken der Standuhr zu hören. Doch das schockierte Schweigen hielt nicht lange.

»Auf gar keinen Fall! Nur über meine Leiche! Was für ein Benehmen! Du richtest die ganze Familie zugrunde!« Martha hatte wieder etwas Farbe im Gesicht und erhob sich schwer atmend vom Stuhl. Die Hände in die Hüften gestemmt baute sich vor ihrer Tochter auf. »Ist das der Dank, dass wir deinem Geburtstagswunsch entsprochen und dir die teure Kodak-Kamera geschenkt haben? Dieser Kasten hier kommt morgen Früh zurück. Ferdinand wird das besorgen, bevor er seine Vorlesung besucht. Und du, junge Dame, hast Stubenarrest und wirst dich in nächster Zeit ausschließlich häuslichen Pflichten widmen. Und glaube nicht, dass du dich davonstehlen kannst! Ich werde mit Argusaugen über dich wachen!«

Hermann konnte nichts gegen dieses Gewitter ausrichten, selbst wenn er weit mehr Verständnis für die Leidenschaft des Fotografierens aufbrachte als Martha.

Donnerstag, 8. März 1888

Pauls Auftrag

Schlegelstraße, Admiralspalast

8 Uhr

 

Zum Glück hatte es sich Paul Gaßner zur Angewohnheit gemacht, immer bestens informiert zu sein. Deshalb konnte er auch gestern Abend direkt von der Schrippenkirche in die Schlegelstraße fahren, in der dieser Handlanger aus der Charité zur Untermiete wohnte und dem er so schnell wie möglich einen tödlichen Unfall bescheren sollte. Ein simpler Auftrag, aber dringend. Daran hatte der Unbekannte gestern keinen Zweifel gelassen. Simpel und doch unangenehm, denn der Mann, um den es ging, war ein Zwerg und damit eigentlich kein akzeptables Opfer für Paul.

Frierend hatte er in einem gegenüberliegenden Hauseingang gestanden und stundenlang die vorgezogenen Vorhänge im ersten Stock beobachtet. Solche Nächte waren lang. Irgendwann waren alle Lichter im Haus erloschen und der Schein der Gaslaternen blasser geworden.

Als die Straße am Morgen langsam zum Leben erwacht war, hatte Paul immer noch im dunklen Hauseingang gestanden. Der erste Pferdewagen mit Bolle-Milch war über die Pflastersteine gerumpelt und das Bolle-Mädchen hatte lächelnd die Milch in die Krüge der Hausfrauen gefüllt. Eine friedliche Szene, die absolut nicht zu Pauls Stimmung gepasst hatte. Diese hatte sich noch verschlechtert, als das Mädchen ihm direkt ins Gesicht geblickt und fragend ihre Kanne hochgehalten hatte. Sie würde ihn wiedererkennen, so viel stand fest. An seine eisblauen Augen erinnerte sich jede Frau. Wenn es notwendig wäre, würde er auch sie beseitigen. Skrupel waren ihm in dieser Hinsicht fremd, aber jede weitere Tat würde Spuren hinterlassen. Jedes neue Opfer brachte neue Schwierigkeiten.

Gerade als er sich von der Mauer abstoßen und den Namen des Milchmädchens hatte erfragen wollen, war er von hinten an der Schulter gepackt worden. Erschrocken war er herumgefahren und hatte in das runde Gesicht einer älteren Hausfrau geblickt.

»Da sin se ja endlich. Ick dachte, wir hätten uns für jestern verabredet. Dann komm se ma rin in die jute Stube.«

Paul war so verdutzt gewesen, dass er sich ohne Widerrede in den ersten Stock in ein möbliertes Zimmer hatte führen lassen.

»Fünf Mark die Woche mit Frühstück und Abendbrot. Samstag is Badetag. Von meene Hausmannskost warn bis jetze alle Mannsbilder bejeistert. Frauenbesuch duld ick nich. Det is en respektables Haus und det soll och so bleibn.«

Paul hatte die Vermieterin weiterschwafeln lassen und war an das Fenster des angepriesenen Zimmers getreten. Die Idee, seine Wohnstätte zu wechseln, war ihm bis zu diesem Moment gar nicht gekommen, vielleicht aber die Lösung einiger Probleme. Zumindest konnte es ihm dann egal sein, ob das Milchmädchen ihn wiedererkannte oder nicht. Denn so hätte er einen plausiblen Grund für sein Herumstehen. Außerdem lag die Wohnung nur wenige Gehminuten von allen Orten entfernt, die er in nächster Zeit aufzusuchen hatte. Über die eine Mark mehr in der Woche brauchte er sich zum Glück keine Gedanken zu machen, sein Verdienst war gut. Überdurchschnittlich gut sogar.

Ihm war ein Schauer über den Rücken gelaufen, als er an weitere kalte Stunden in dem zugigen Hauseingang gedacht hatte. Die Vermieterin hatte Pauls Reaktion gesehen und falsch gedeutet.

»Also det Fensterbrett mit de villen Rillen stammt von Ihrem Vormieter. Den hab ick ja nun ooch in de Wüste jeschickt. Damenbesuch hatte der. Von wejen Schwester! Det ick nich lache. Een Flitchen war dete. Wenn Ihnen det Fensterbrett stören tut, könnte der Tischler hier um die Ecke een neuet einsetzten. Denn müsst ick auf 5,50 Mark erhöhen.«

Das neue Fensterbrett hatte er abgelehnt, das Zimmer aber genommen.

Jetzt saß er hier seit zwei Stunden, und sein Messer schnitt neue Rillen in das trockene Holz am Fenster. Er konnte es sich nicht erlauben, das gegenüberliegende Zimmer aus den Augen zu lassen. Angeekelt blickte er auf die halb gefüllte Vase neben seinen Füßen. Nicht einmal den Gang in das Gemeinschaftsbad am Ende des Flurs hatte er sich gestattet. Dafür stand zu viel auf dem Spiel. Schlecht gelaunt blies er die Späne aus dem Holz, warf das Messer auf das Fensterbrett und schaute wieder durch die schmutzige Scheibe auf die andere Straßenseite.

Widerlich, einfach widerlich! Jetzt stand der Freund des Zwerges nackt am Fenster und hantierte mit einer Zeitung herum, bevor er die Gardinen zuzog. Wenn Paul etwas hasste, dann Männer, die sich wie dieser Schönling weibisch gaben.

Lange geschah nichts. Die Gardinen hingen bewegungslos am Fenster und verbargen alles, was sich dahinter abspielte. Paul widmete sich erneut dem Fensterbrett und wartete.

In dem Moment, als er sich im Zimmer nach einem neuen Gefäß für seine Notdurft umsah, weil die Blumenvase fast überlief, nahm er eine Bewegung im Augenwinkel wahr. Die Gardine gegenüber wurde aufgezogen. Sein Opfer und der Schönling griffen nach Hut und Mantel. Ausgerechnet jetzt! Paul sprang auf, schnappte sich seine Sachen und stürmte durch den Flur in das Gemeinschaftsbad. Wenn er nach so vielen Stunden die beiden Galgenvögel aus den Augen verlor, war die ganze Mühe umsonst gewesen. Unglaublich, wie lange das Wasserlassen dauern kann, wenn man es eilig hat, dachte er und rannte einen Augenblick später auf die Straße. Er hatte Glück! Die beiden standen noch vor dem Eingang, wechselten ein paar Worte und gingen dann in verschiedene Richtungen davon. Dass Paul seinem Opfer folgen musste, stand fest. Es könnte aber auch von Nutzen sein, zu wissen, was dieser Schönling so trieb. Paul angelte einen Groschen aus der Weste und winkte einen Straßenjungen heran.

Die Verfolgung eines Zwerges gestaltete sich schwieriger als gedacht. Paul bemerkte schnell, dass es einfacher war, die Reaktionen der Passanten zu beobachten, als den kleinen Mann im Auge behalten zu wollen. Dazu verschwand er im Gewühl der Menschen viel zu oft. Die erstaunten Blicke der Entgegenkommenden dagegen gaben Paul genau Auskunft, wo sich sein Opfer gerade befand. Der Zwerg hatte es eilig. Trotz seiner kurzen Beine war er so schnell, dass Paul kaum Schritt halten konnte.

Er war ganz verschwitzt, als der Kleinwüchsige endlich sein Ziel erreichte und die Stufen zum Admiralsbad in der Friedrichstraße hinaufkletterte. Er wurde von den Herren der Badeanstalt wie ein alter Bekannter begrüßt. Offensichtlich gehörte er zum Stammpublikum. Als Paul die taxierenden Blicke der Männer auf sich spürte, wusste er auch warum. Das hier war nicht nur ein Ort der Körperhygiene. Aber daran durfte er sich jetzt nicht stören, denn im undurchsichtigen Dampf der Sauna wäre es ein Leichtes, den dürren Hals des Zwerges zuzudrücken, bis er ohnmächtig wurde, und ihn dann langsam in das Wasserbecken gleiten zu lassen. Ein Badeunfall! Seine Auftraggeber würden zufrieden sein.

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Gretes Fazit

(für alle, die…mögen) :

+ Krimis mit realgeschichtlichem Hintergrund

+ Einblicke in verschiedene Milieus des alten Berlins

+  spannende, etwas blutrünstige Handlung

 

 

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Über die Autorin

Kristina Wacker, Jahrgang 1967, hat drei erwachsene Kinder und lebt nach 30 Jahren im Schwarzwald wieder in ihrer Heimatstadt Dresden, deren reichhaltiges kulturelles Erbe sie immer wieder aufs Neue fasziniert. Die studierte Bibliothekarin und Medienpädagogin arbeitete als freie Journalistin und Dozentin und ist heute als E-Learning-Managerin auch im Bereich digitaler Medien unterwegs. Sie veröffentlichte ein Kinder- und Sachbuch im Themenbereich Geschichte und Film. Mit dem Roman »Die Lichtmalerin und der Kaiser« erfüllt sie sich den  Wunsch, ihre große Leidenschaft für historische Welten und spannende Kriminalromane zu vereinen.

Der Kriminalroman ist 2022 im Gmeiner Verlag erschienen.

In diesem Überblick findet Ihr alle bisher vorgestellten historischen Krimis – die Handlungen sind u.a. in Wien, Berlin und Norddeutschland angesiedelt.

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