Rosenmontag (Lorenz Stassen)

 In Historischer Krimi

Inhalt:

Der historische Krimi spielt im Winter 1822/23.  Zum ersten Mal soll wieder Karneval gefeiert werden, wenn auch unter preußischer Besatzung. Doch es gibt Mächte, die dies verhindern wollen – z.B. der preußische Polizeipräsident von Struensee. Dabei wäre ein freilaufender Mörder als Gefahr für den Umzug hilfreich! Am Anfang des Buches wird eine übel zugerichtete Männerleiche im Rhein gefunden. Kommissar Zabel, selbst Preuße, aber mit einer überzeugten (Wahl)-Kölnerin verheiratet, ermittelt! Der Mörder ist bald gefunden – ein stadtbekannter Krimineller, der die Unterwelt beherrschte. Viele sind froh, ihn hinter Gittern zu sehen. Aber war er es wirklich? Im Verlauf der Handlung kommen Zweifel auf. Und da wäre noch das gestohlenes Domkreuz. Hat es etwas mit dem Mord zu tun?

Der Kommissar zweifelt und befragt dazu die Dirne Cécile, deren Zuhälter der Verdächtige war. Doch auch sie wird in den Strudel der Ereignisse gezogen…

Zabel ist – nicht zuletzt durch und wegen seiner Frau- gut in den Kölner Klüngel, der auch die Karnevalsgesellschaft bildet, integriert. Mit seinen Ermittlungen innerhalb dieser Bürgerschaft macht er sich jedoch zunehmend unbeliebter. Sein enges Verhältnis zum in Düsseldorf residierenden preußischen Prinzen Friedrich sorgt dabei auch nicht für einen weiteren Vertrauensvorschuss.

Zum Schluss wird der Mörder gefunden und der Karneval findet statt – so viel sei an dieser Stelle verraten. Im Buch wird ab und zu Kölsch gesprochen, aber es ist gut in die hochdeutsche Sprache integriert und sorgt für Lokalkolorit. In die Handlung sind historische Kölner Persönlichkeiten verflochten und man erfährt einiges über die Ursprünge des Rosenmontagzugs.

Textauszug (S.83-97):

Kapitel 7

Von Wittgensteins Gäste trugen Abendgarderobe. Eva hatte sich für ein außergewöhnliches Kleid entschieden, es war aus dunkelblauer Seide und bis zum Hals geschlossen. Besonders waren wie so oft ihre Ärmel. Früher reichten sie den Damen noch bis zu den Fingern, waren lang und schmal, heutzutage trug man sie kürzer, und sie waren deutlich ausladender. Evas Modegeschmack erschien Zabel mitunter ein bisschen gewagt, was er sich aber zu sagen verkniff. Ihre umstehenden Freundinnen und auch deren Männer sahen das anders als er und machten seiner Frau Komplimente. Zabel trug wie fast alle Männer im Raum Frack und Zylinder in Schwarz, dazu ein weißes Hemd mit hohem Stehkragen und glänzend polierte Lederschuhe.

Von Wittgenstein bewohnte die erste Etage in dem Haus, das seiner Familie gehörte, Trankgasse Nummer 6, direkt gegenüber der Nordseite des Doms. Der Salon bestand aus mehreren großen Räumen, die zusammenhängend waren, große Durchgänge in den Wänden ließen tagsüber die Sonne von morgens bis abends herein. Inzwischen dämmerte es, die Öllampen und Kerzen erhellten die Räume. In der rot leuchtenden Abendsonne umgab den Dom ein beinah göttlicher Schimmer. Sollte die Kathedrale jemals fertiggestellt werden, wäre der Ausblick aus dem Salon umso imposanter. Im Moment leider schaute man auf die halb fertigen gezackten Türme und den Baukran, der von dieser Blickrichtung besonders hervorstach, wie die unheilvolle Vorsehung, dass man den Tag der Fertigstellung womöglich niemals erleben würde.

Sie standen zusammen mit zwei Pärchen, die Männer waren bedeutende Fabrikanten, ihre Frauen untereinander befreundet. Eva redete viel, Zabel dafür umso weniger, und er hielt sich an seinem Glas Rotwein fest, während im Hintergrund dezent ein Pianist am Klavier spielte. Es waren wohlklingende Melodien, die so eingängig waren, dass Zabel mehr Lust verspürte, der Musik zu lauschen, als an dem Gespräch teilzunehmen. Eva warf ihm einen Blick zu, der andeutete, dass er ruhig etwas mehr Konversation betreiben könnte. Zabel kannte den Pianisten vom Sehen, sie waren sich bei einer Feier nach von Wittgensteins Rückkehr aus Wien über den Weg gelaufen, ohne einander vorgestellt worden zu sein. Eva wusste seinen Namen auch nicht, wohl aber, dass er als Musik- und Hauslehrer arbeitete und auch erst seit Kurzem in Köln lebte.

Der letzte Akkord verklang, die Gäste applaudierten dem Musiker, Zabel ganz besonders laut. Der Pianist stand vom Klavier auf, um sich eine Pause zu gönnen. Er war nicht groß, schmal gebaut und hatte eine etwas seltsame Gesichtsform. Die nach hinten gekämmten schwarzen Haare betonten seine hohe, gerade Stirn, und die Nase bildete im Profil fast eine gerade Linie nach unten. Er wirkte eher blass und bekam von einer Bediensteten ein Glas Rotwein gereicht. Dann schaute er sich suchend nach einem Gesprächspartner um. Zabel nutzte die Gelegenheit, löste sich von der Gruppe und ging auf ihn zu.

»Guten Abend! Gustav Zabel.« Sie gaben sich die Hand.

»Christian Samuel Schier«, stellte sich der Pianist vor. »Guten Abend!«

»Darf ich fragen, was Sie da eben gespielt haben?«

Schier lächelte. »Muzio Clementi, einen italienischen Komponisten. Es waren nur ein paar Sonatinen, die ich vorgetragen habe. Hat es Ihnen gefallen?«

»Sehr sogar. Was sind Sonatinen?« Zabel kannte sich nicht gut mit Musik aus, abgesehen von Märschen.

»Vereinfachte Sonaten, ideale Übungsstücke, weil die Melodien eingängig sind und so den Schülern das Instrument schmackhaft machen.«

»Sie sind Klavierlehrer?«, hakte Zabel nach.

»Unter anderem. Ich bin Hauslehrer, auch für andere Fächer als Musik. Und Sie?«

»Kommissar.«

Sein Gegenüber war plötzlich wie vom Blitz getroffen. »Gustav Zabel?« Er klang regelrecht euphorisch. »Natürlich. Von Wittgenstein hat doch von Ihnen erzählt. Sie haben in der Völkerschlacht gekämpft, richtig?«

Zabel nickte. Er wollte nicht über den Krieg reden, nicht heute, nicht mit einem Zivilisten, und senkte demonstrativ den Kopf.

»Ich auch«, sagte Schier.

Zabel schaute verdutzt auf.

Schier nickte. »Als Lieutenant im Jägerdetachement des 16. Preußischen Linien-Infanterieregiments.«

Zabel war verblüfft, es fiel ihm schwer, sich diesen Feingeist in einer Uniform vorzustellen, die zarten Finger, wie sie ein Gewehr hielten.

Schier fragte neugierig. »Und Sie?«

»Ich habe unter Generalfeldmarschall von Blücher gedient.«

Schier schaute spontan zum Boden, aufs Zabels Schuhe. »Die sehen aus wie Blücher?«

Zabel nickte. »Ja. Ich habe sogar noch meine Stiefel von damals.«

Schier war im Bilde. »Sehr ungewöhnlich damals. Ein Generalfeldmarschall, der für seine Soldaten besondere Stiefel anfertigen ließ.«

Zabel fügte hinzu: »Aus einem Stück Leder, damit Wasser und Kälte nicht eindringen können. Deshalb gibt es sie heutzutage auch als Halbschuhe für Zivilisten.«

»Ich weiß«, grinste Schier. »Denn ich habe mir auch welche gegönnt.«

Einen Moment lang sahen sie sich an. Zabel hätte es nicht für möglich gehalten, bei dieser Einladung einen Kriegskameraden zu treffen. »Sie sind nicht aus Köln?«

Schier schüttelte den Kopf. »In Erfurt geboren. Und nach meiner Militärzeit und dem Studium in Jena hat es mich nach Amerika verschlagen.«

»Amerika?«

Schier nickte. »New York. Ich habe dort als Privatlehrer und Musiker gearbeitet, ich spiele auch Harfe. Aber …« Er zögerte kurz. »In meinem Herzen war ich nie in der Ferne angekommen. Es hat mich zurückgezogen in das Land, für das ich gekämpft habe.«

Schier sprach Zabel aus dem Herzen, er spürte schon jetzt eine tiefe Verbundenheit mit seinem Gegenüber, obwohl sie sich erst seit wenigen Minuten kannten.

»Und Sie?«, fragte Schier.

»Geboren in Potsdam. Genau an dem Tag, als Napoleon in Köln einmarschiert ist.«

»Also am 6. Oktober 1794.« Schier grinste erneut. »Ein amüsanter Zufall. Am Tag Ihrer Geburt stand also schon fest, dass Sie die Franzosen irgendwann aus Köln verjagen würden.«

Sie lachten beide.

»Warum sind Sie nach New York gegangen?«

»Gott hat mir zweimal das Leben geschenkt. Einmal bei meiner Geburt, einmal durch das Schicksal, dass ich die Völkerschlacht überleben durfte.«

Sie sahen sich an. Zabel verstand, was Schier meinte, hatte aber auch ein Gespür dafür, wenn jemand versuchte, einer Frage auszuweichen. »Und was hat Gottes Wille mit New York zu tun?«

Schier lächelte. »Darauf wollte ich gerade kommen. Ich hatte das Gefühl, die Welt sehen zu müssen. Es war so ein innerer Drang, der nach meiner Militärzeit aufkam und noch mehrere Jahre reifen musste, bis ich diese Idee in die Tat umgesetzt habe.«

»Aber es hat Ihnen dort nicht gefallen?«

»Zuerst schon, aber dann spürte ich dieses Bedürfnis zurückzukommen und habe Köln als neue Heimat ausgewählt.« Nun war Schier an der Reihe, Fragen zu stellen. »Und was hat Sie hierher verschlagen, die Liebe?«

Zabel schüttelte den Kopf. »Die Pflicht. Die Liebe habe ich hier gefunden. Meine Frau ist Eva, die Cousine von Friedrich Wilhelm Brügelmann.«

Zabel zeigte zu dem Cousin seiner Frau, der auch hier war und genüsslich eine Zigarre paffte, mit einem anderen Gast ins Gespräch vertieft war.

Da trat Heinrich von Wittgenstein an die beiden heran. »Ihr habt euch bereits selbst vorgestellt?« Er hob das Glas, Zabel und Schier folgten. Sie tranken, dann sah von Wittgenstein zu Schier. »Jetzt brauche ich deine Unterstützung.«

Schier verabschiedete sich von Zabel und folgte dem Gastgeber. Der Pianist nahm wieder an dem Klavier Platz und ließ mehrere laute Akkorde ertönen, bevor er einen beidhändigen schnellen Lauf vom tiefen A bis zum höchsten C folgen ließ.

Alle Gespräche erstarben augenblicklich, und der Hausherr trat vor seine Gäste. Eva kam zu ihrem Mann, stellte sich neben ihn und schaute mit verliebten Augen zu ihm auf. »Ich habe gesehen, dass du dich gut unterhalten hast mit dem Pianisten.«

»Christian Samuel Schier«, sagte Zabel. »Ich erzähle dir später von ihm.«

»Liebe Gäste«, ergriff von Wittgenstein das Wort. In der offiziellen Begrüßung vor einer Stunde hatte er eine Überraschung angekündigt, auf die alle warteten. Er verstand es, Neugierde bei seinen Gästen zu schüren, es redete wirklich keiner mehr, alle lauschten gebannt.

Von Wittgenstein erhob sein Glas. »Das Jahr klingt aus, in zwei Tagen feiern wir den heiligen Silvester. Was erwartet uns im nächsten Jahr? 1823. – Wir haben alle unsere guten Vorsätze, nehme ich an, und mein Vorsatz lautet …« Er machte eine kurze Pause, und alle Gäste starrten ihn an. Was würde nun kommen?

»Mein Vorsatz lautet …« Er legte wieder eine Sprechpause ein, und allmählich kam Unruhe bei den Gästen auf.

Von Wittgenstein lächelte. »Ich werde Karneval feiern. Am zehnten Februar, am Rosenmontag, wird es einen großen Maskenumzug geben.«

Die Gäste applaudierten laut und brachen in jubelnde Begeisterung aus. Am meisten Eva, sie klatschte so laut, wie sie konnte. Zabel hielt sich etwas zurück. Die Überraschung war für ihn nicht allzu groß, schließlich hatte er gestern bereits von dem Polizeipräsidenten davon erfahren.

»Ja, meine lieben Gäste. Es ist so weit«, fuhr von Wittgenstein freudestrahlend fort. »Ihr wisst, wie sehr ich darum gekämpft habe, euch dies verkünden zu können. Die Preußen aus Berlin haben es genehmigt, und dagegen kann auch unser hochverehrter Polizeipräsident Karl Philipp von Struensee nichts machen. Wir dürfen nächstes Jahr, am zehnten Februar, zum ersten Mal in unserer geliebten Stadt einen neuen Karneval feiern, mit einem Maskenumzug, der seinesgleichen suchen wird.«

Zabel dachte darüber nach, dass die polizeiliche Verordnung noch nicht vorlag und diese eben von Struensee unterschrieben werden musste. Es war nicht davon auszugehen, dass der Polizeipräsident sich dem Beschluss aus Berlin widersetzte, aber ausgeschlossen erschien es Zabel nicht. Dies behielt er aber für sich, um niemandem die Freude zu verderben.

Von Wittgenstein war bester Laune und fuhr lauthals fort. »Einige von uns, wie auch mein verehrter Freund Matthias DeNoël, haben es sich nicht nehmen lassen, bereits mit den ersten Vorbereitungen zu beginnen, aber jetzt, da es offiziell ist, gibt es viel zu tun. Ich möchte daher die Herren der Schöpfung auffordern, sich dem Festordnenden Komitee anzuschließen. Im neuen Jahr werden wir uns jeden Sonntag im Weinhäuschen neben der Kirche St. Ursula treffen, um den Maskenumzug zu organisieren. Steht auf, wenn ihr Kölner seid. Jeder Mann ist dazu aufgerufen, seiner Pflicht zu folgen, die Liebe zu seiner Stadt zu beweisen und mitzuwirken.«

Eva schaute zu ihrem Mann auf. »Du hast es gehört.«

»Ich bin kein Kölner«, erwiderte er.

»Doch, bist du«, sagte sie in einem Tonfall, der keine weiteren Widerworte zuließ.

Kapitel 8

Zabel war gerade dabei, seine Hose anzuziehen, als es an der Tür klopfte. Er hörte, wie Eva, die bereits in der Küche war, um einen Kaffee aufzusetzen, durch den Flur schritt und öffnete.

Dann ertönte ihre Stimme: »Gustav.«

Er kam aus dem Schlafzimmer und sah einen jungen Polizeisergeanten in Uniform im Treppenhaus stehen. »Herr Kommissar. Sie müssen dringend kommen. Es ist …« Er schaute zu Eva, dann wieder zu ihm.

»Nun reden Sie schon«, herrschte Zabel ihn an.

Der Mann stotterte. »Es ist … ist – etwas Furchtbares passiert.«

»Was denn?«

»Eine Leiche im Hafen. Im Sicherheitshafen, draußen vor der Stadtmauer. Es sieht nach einem Mord aus.«

»Ich ziehe mich noch schnell an.«

Zabel schloss die Tür und kehrte eilig ins Schlafzim-
mer zurück. Eva folgte ihm, sah zu, wie er sich warm einpackte.

»Das Jahr fängt ja gut an«, sagte Zabel, gab ihr einen Kuss zum Abschied und verschwand mit Mantel und Hut von der Garderobe.

Die Kälte erzeugte ein sanftes Prickeln auf seiner Haut, als er auf die Straße trat. Er streifte sich die Handschuhe über, die in seinen Manteltaschen steckten. Der Polizeisergeant saß auf dem Bock eines Zweispänners. Zabel stieg in den Wagen und legte sich eine Decke über die Beine. Sie fuhren durch die Stadt nach Norden, durchquerten die Stadtmauer am Eigelstein-Thor. Der Sicherheitshafen befand sich gleich hinter der Stadtmauer. Zwei Einspänner waren bereits vor Ort, sie standen in der Nähe des Ufers, wo mehrere Boote festgemacht hatten. Der Polizeisergeant stoppte die Kutsche. Zabel stieg aus und kam nach vorne zu ihm. »Ich habe einen Auftrag für Sie.«

Der Sergeant schaute zu ihm herab, nickte.

»Fahren Sie nach Bonn zur Universität, und überbringen Sie dort dem Medizinprofessor Theodor Staade eine Nachricht. Bestellen Sie ihm einen schönen Gruß von mir, und sagen Sie, dass es in Köln Arbeit gibt.«

Der Sergeant wiederholte. »Professor Staade? Es gibt Arbeit in Köln?«

Zabel nickte. »Er wird es verstehen, ansonsten sagen Sie gar nichts. Und behalten Sie diesen Auftrag für sich. Verstanden?«

Der Sergeant setzte mit einem Zügelschlag die Kutsche in Bewegung. Fritz Bartmann kam auf Zabel zu. Er schien etwas eilig das Haus verlassen zu haben, ihm fehlten Handschuhe und Mütze. Er fror und sah sichtlich übermüdet aus.

»Jode Morgen«, sagte er mit einem Gähnen, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. »Die Naach kaum jeschlofe un dann fröh geweck woode.«

»Guten Morgen! Was haben wir?«, fragte Zabel.

Bartmann machte eine Handbewegung, dass er ihm folgen sollte. Sie schritten am steil abfallenden Ufer entlang. Die Besatzungen der meisten Boote standen an Deck und schauten alle in dieselbe Richtung, in die Bartmann und Zabel gingen. Am Ufer lag ein Körper, man hatte einen braunen Leinensack über sein Gesicht gelegt, und ein uniformierter Polizeisergeant stand daneben, der nach vorne gebeugt war und sich übergeben musste.

Zabel ahnte, warum. Er nahm den Leinensack weg. Der Anblick war furchtbar. Ekelerregend. Zabel hatte im Krieg schon viel gesehen, aber es schmerzte hinzuschauen. Das Gesicht des Mannes war weiß gefroren, und jede seiner Verletzungen stach deutlich hervor. Ihm fehlten beide Augen. Knochen traten im Gesicht an mehreren Stellen heraus, dort, wo die Haut aufgeplatzt war. Er hatte noch seine Kleidung an, der Mantel war zur Seite geschlagen.

»Haben Sie ihn schon durchsucht?«

»Nä«, sagte Bartmann. »Ich wollt nix überstürzen. Der läuf uns jo nit fott.«

Zabel ging neben dem Leichnam in die Hocke und griff in die Innentasche, holte ein nasses, halb gefrorenes Stofftaschentuch heraus. Zabel zog den Stoff auseinander, so gut es ging, da fiel etwas heraus. Ein kleiner Flakon, auf dem eine rote Blume aufgedruckt war. Zabel erkannte sofort, dass es ein Fläschchen des Parfümeurs Johann Maria Farina war. Eva benutzte dieses Kölnischwasser ebenfalls. Zabel öffnete den Flakon und roch daran, es war genau der Duft, den Zabel von zu Hause kannte. Er reichte Bartmann den Flakon.

»Parfüm von Farina. Eingewickelt in ein Taschentuch.«

Zabel faltete das nasse, teils gefrorene Tuch weiter auseinander, da entdeckte er an einer Ecke eingestickte Initialen in roter Schrift: »J. K.«

»Dat is doch schon mal wat. Wenn der bei Farina käuf, vielleich kennen die en do.«

Zabel nickte. »Wurde der Tote im Wasser gefunden, oder lag er am Ufer?«

»Im Wasser.« Bartmann zeigte in die Richtung von zwei Männern, die von einem weiteren Polizeisergeanten bewacht wurden. »Die Zwei han en rausjefischt.«

Bartmann gab Zabel den Flakon zurück, der steckte ihn zusammen mit dem Tuch in die Innentasche seines Mantels. Sie gingen zu den beiden Zeugen. Der eine war schmächtig, der andere massig.

Zabel achtete darauf, dass er einen gestochen scharfen einschüchternden Tonfall auflegte. »Guten Morgen! Die Namen!«

»Lambert Schmitz«, sagte der Schmächtige.

»Boudewijn DeVries«, sagte der andere, der dem Klang seiner Sprache nach aus Holland stammte. »Ik ben schipper op de Boot. Aus Milligen.« Der Holländer zeigte auf Lambert. »Hij fand den. Ik hab gesehen, wat hij macht was.«

Zabel schaute zu dem Schmächtigen. »Was haben Sie gemacht?«

Lambert war eingeschüchtert, deutete zu der Angel und den zwei Fischen, die auf dem Boden lagen. »Ich habe geangelt.«

»Dat is verboten«, sagte Bartmann sofort.

Zabel hob die Hand, dass das jetzt nicht wichtig sei. »Erst mal Nebensache, und weiter?«

»Ich wollte meine Sachen zusammenpacken, weil es hell wurde, und dann war da was im Wasser, der Mann. Ich habe ihn mit der Angel herangezogen. Und plötzlich stand der da.« Er schaute zu dem Holländer. »Mit einem Enterhaken.«

»Einem Enterhaken?« Zabel sah zu dem Holländer. »Wo ist der?«

DeVries deutete zu einem Polizisten. »Ik heeft hem da gegeben.«

»Ich habe mich zu Tode erschreckt«, sagte Lambert.

»Und dann? Haben Sie die Leiche gemeinsam aus dem Wasser geholt?«

Lambert nickte.

»Haben Sie ihn umgebracht?«, fragte Zabel ganz direkt.

Lambert erstarrte. »Nein. Ich war das nicht.«

»Das werden wir erst noch herausfinden.« Er schaute zu dem Holländer. »Oder waren Sie es?«

DeVries blieb ganz ruhig. »Ik sliep. Op de Boot. Met mijn Frau.«

Zabel glaubte ihm, schaute wieder zu Lambert. »Gab es Streit? Wegen der Fische?«

»Nein«, sagte Lambert und fing an zu zittern. Zabel wusste nicht, ob wegen der Kälte oder weil er Angst hatte.

»Wieso wollten Sie ihn aus dem Wasser holen?«

Lambert stammelte. »Ich dachte, … ich dachte, dass er vielleicht … ein paar Groschen dabeihat.«

»Sie wollten ihn also beklauen«, blaffte Zabel ihn an.

Lambert hielt dagegen. »Aber er war doch schon tot.«

»Leeren Sie Ihre Taschen aus. Sofort!« Er sah zu dem Holländer. »Sie auch.«

Beide stülpten ihre Taschen nach außen. Es fiel nichts Nennenswertes heraus, keine Thaler oder Silbergroschen.

Zabel führte das Verhör fort. »Sie geben also zu, dass Sie den Toten beklauen wollten?«

Lambert zitterte jetzt am ganzen Körper. »Es tut mir leid. Ich wollte nicht, aber …«

»Aber was?!«, schrie Zabel ihn an. Wenn Lambert etwas mit dem Tod des Mannes zu tun hatte, würde er bald einknicken, da war der Kommissar sich sicher.

Lamberts Stimme bekam etwas Flehendes. »Wir haben doch nichts mehr. Wie sollen wir durch den Winter kommen?« Er zeigte zu den zwei Fischen auf dem gefrorenen Boden. »Wie soll man davon satt werden?«

Zabel schaute zu Bartmann, die beiden wandten sich ab, gingen ein paar Schritte.

Zabels Tonfall war wieder ganz normal und ruhig. »Was glauben Sie?«

»Dat et akkurat so war. Dä wullt nur en paar Jröschelche kläuen, nit mehr. So wie dä Duude … ich meine der Tote aussieht, muss der Mörder kräftich jewesen sein.«

»So wie der Holländer?«

Bartmann nickte. »Dat schon eher. Ävver woröm sullt der so blöd sein und dä Tote aus däm Wasser fischen? Wann er op seinem Boot jeblieben wär, hätten m’r en nie jefunden.«

Zabel sah es genauso. »Lassen Sie uns den Fall zusammen bearbeiten«, schlug er vor.

»Dann kümmer isch mich öm dat Jrobe, un Sie maache de Schreibkram. Isch sorge daför, dat dä Duude he fott kütt.«

»Moment«, intervenierte Zabel. »Ich habe nach Professor Staade aus Bonn geschickt, dass er herkommt.«

Bartmann verstand sofort. »Leichenfledderei?«

»Haben Sie Einwände?«

Bartmann lächelte wieder. »Janz und jar nit. Wo wollen Sie dä Duude denn hin han?«

»Fort II. Dort sind mehrere Kerker frei, der ideale Ort.«

Bartmann nickte. »Isch kümmere mich daröm. Un Sie?«

»Ich fahre zu Farina.«

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***

Gretes Fazit

(für alle, die…mögen) :

+ Fans von Köln und vom Karneval

+ Krimis mit historischen Persönlichkeiten

+ Whodunit – Handlung

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Über den Autor

Lorenz Stassen, geboren 1969, wuchs in Solingen auf und wurde zunächst Chemielaborant. Er wechselte ins Film- und Fernsehgeschäft und arbeitet seit 1997 als freischaffender Drehbuchautor und Schriftsteller. Lorenz Stassen lebt in Köln und ist Mitglied bei den »Roten Funken«.

 

 

 

 

Der Kriminalroman ist 2022 im Ullstein Verlag erschienen (Ullstein Taschenbuch, 416 Seiten, ISBN 9783548064154).

In diesem Überblick findet Ihr alle bisher vorgestellten historischen Krimis – die Handlungen sind u.a. in Wien, Berlin und Norddeutschland angesiedelt.

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