Ein „Massenmedium“ schafft einen Mythos – Ludwig II. als Star der Postkarten

 In Gastbeitrag, Unkategorisiert, Zeitgeschehen

Ein Gastartikel von Marcus Spangenberg

Ansichtskarten des 19.Jahrhunderts bestimmen bis heute, wie wir König Ludwig II. von Bayern sehen

Ludwig II. von Bayern als tugendhafter Ritter gleich dem sagenhaften „Lohengrin“, in wallendem Hermelin als Schwertträger, als staatlicher Mann in Uniform oder angehimmelt von einer Bäuerin. Mit all diesen Motiven auf frühen Ansichtskarten wurde das Bild des „Märchenkönigs“ geprägt und weit über Bayern in die Welt getragen. Ludwig-II.-Biograf Marcus Spangenberg spürt dem Phänomen Ansichtskarte nach und verknüpft deren Entwicklung mit der Biografie des Monarchen.

Als „Deutsche Epidemie“ wurde im Ausland das im deutschen Kaiserreich ausgebrochene Sammelfieber von Ansichtskarten bezeichnet. Und zum aktiven Nutzen dieser im Sommer 1870 eingeführten neuen Form der Kommunikation fällt einem die Thomas Theodor Heine zugeschriebene Aussage ein: „Bei einem Eisenbahnunglück sucht der Franzose eine Frauenbekanntschaft. Der Engländer läßt sich in seiner Zeitungslektüre nicht stören, und ein Deutscher schreibt Ansichtskarten – notfalls sogar noch im Himmel.“

Bis heute können wir dem Simplicissimus-Zeichner und -Autor ausdrücklich zustimmen. Trotz aller Veränderungen in den mehr als 150 Jahren seit der Geburt der zunächst „Correspondenzkarte“ genannten Kurznachricht auf Papier haben die Deutschen ihr inniges Verhältnis zum Übermitteln solcher kurzen Grüße beibehalten. Ob als Nachricht aus dem Urlaub oder mal so zwischendurch oder eben als Sammelobjekt, von der Kühlschranktüre bis hin in eigens dafür produzierte Alben.

Zunächst bildlos, folgten sehr bald auf der Rückseite (!) – die Vorderseite war für die Adresse des Empfängers, Postwertzeichen sowie Aufgabe- und Ankunftsstempel reserviert – dieser „Correspondenzkarten“ die ersten, kleinen Darstellungen, meist von Bauwerken und Landschaften. Mit dem Fortschritt der Drucktechnik (Einsatz von Farbe, später der Druck von Fotografien) und dem sich steigernden Interesse an Abbildungen weitete sich das Angebot in schiere Unübersichtlichkeit und Attraktivität der Motive (wovon Sammler ein Lied singen können). Da aber das Beschreiben der Vorderseite der Adressangabe vorbehalten blieb, nutzten die Absender die Bildseite zum Beschriften. Häufig genügte der einfache handschriftliche Namenszug als Botschaft. Manchmal wurde aber auch der gesamte auf der Bildseite zur Verfügung stehende Platz genutzt, bis an den Rand des Motivs oder sogar in das Motiv hinein, um Türmchen und Wolken herum. Schließlich war der Versand einer Ansichtskarte günstiger als der eines Briefes.

 

Der mysteriöse Tod zum richtigen Zeitpunkt

Die Postkarte entwickelte sich genau in der Zeit zu einem Verlaufsschlager, als König Ludwig II. von Bayern (1845–1886) sich durch seinen ungeklärten Tod am 13. Juni 1886 im oder am Starnberger See von einer realen Person in eine mythische Figur wandelte. Die Thesen von Mord bis Selbstmord förderten zusammen mit Geschichten aus dem Leben und Wirken des Monarchen eine unglaubliche Popularität. Es verwundert daher nicht, dass das Porträt Ludwigs II., Darstellungen seines Lebens und Ansichten seiner Schlösser Linderhof, Neuschwanstein und Herrenchiemsee bereits sehr früh als Motive für Ansichtskarten verwendet wurden. Die frühen kleinen Karten aus Pappe mit ihren meist sehr fantasiereichen Abbildungen haben nicht nur einen wesentlichen Anteil an der mittlerweile weltweiten Berühmtheit des bayerischen Herrschers, sondern schufen auch Bilder und Vorstellungen, die bis heute nachwirken.

Zeugen einer intensiven Verehrung

In Bezug auf Ludwig II. werden wir bei den Ansichtskarten zum Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts unmittelbar zum Zeuge einer intensiven Verehrung und eines Kults. In diesem mischte sich die Bewunderung für einen König mit dem Mitgefühl für erniedrigte Größe, schwingen bis heute Sympathie für einen Außenseiter und Aussteiger mit. Das umfasst(e) Menschen beiderlei Geschlechts, aller Altersstufen und aller sozialen Ränge.

Wurden zunächst die von Ludwig erbauten Schlösser mit oder ohne Porträt des Königs im Lichtdruckverfahren reproduziert, folgten bald die aufwändigeren chromolithografierten Karten (ab ungefähr 1894). Vom fotografierten, gezeichneten oder gemalten Abbild der Wirklichkeit reichte die Auswahl hin zu unzähligen Motiven, die erdacht und komponiert wurden. Transparent-, Relief- und Mondscheinkarten, Karten mit aufgeklebtem Glitter oder in Folie mit Edelweiß erhielt der Empfänger von Verwandten, Freunden oder Bekannten zugesandt.

Mit der offiziellen Trennung der Vorderseite ab dem 1. April 1905 in ein Adress- und ein Textfeld (für innerhalb Deutschlands zu versendende Karten) blieben die Bildseiten fortan meist unberührt von handschriftlichen Zugaben und erlaubten dadurch den Kartenproduzenten, den gesamten Platz mit Motiv und Text auszufüllen.

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war, wie eingangs erwähnt, das Schreiben und Sammeln von Ansichtskarten in Deutschland ganz groß in Mode, die nahezu alle Gesellschaftsschichten erfasste. Der zunehmende Tourismus sowie bessere und günstigere Produktionsbedingungen bedienten den wachsenden Markt an Kartenschreibern mit zahlreichen Motiven. Unter ihnen rangierten die Schlösser Ludwig II. oder/und das Bildnis des Königs weit oben. Dank ihrer Beliebtheit haben sich bis heute zahlreiche Karten in gutem Zustand erhalten.

Motivgrundlage: Einer der schönsten Monarchen der Welt

Als am 25. August 1845 Ludwig als Sohn des Kronprinzenpaares Maximilian (ab 1848 König Maximilian II.) und Marie von Bayern (eine gebürtige Preußin) im Schloss Nymphenburg bei München geboren wurde, ruhten auf ihm alle Hoffnungen der Dynastie der Wittelsbacher. Schließlich war dem Erstgeborenen von Marie und Maximilian die Zukunft als König vorherbestimmt – als Herrscher des nach Preußen zweitwichtigsten deutschen Staates. 1848 kam als zweites und letztes Kind Prinz Otto auf die Welt.

Bereits früh zeigte sich bei Ludwig ein ausgeprägter Hang zum Theater, zum Lesen, zur Architektur und zu den Opern Richard Wagners (1813–1883), den er von 1864 an – gerade König geworden – finanziell und mit hohem persönlichen Einsatz unterstützte. Die lebenslange Förderung des Komponisten ermöglichte die Vollendung und Aufführung zahlreicher seiner Werke, darunter „Der Ring des Nibelungen“ und „Parsifal“, sowie die Bayreuther Festspiele.

War Ludwig als Knabe in seiner äußeren Erscheinung zunächst unscheinbar, so entwickelte er sich zur Volljährigkeit hin zu einem gutaussehenden jungen Mann. In seinen ersten beiden Regierungsjahren galt Ludwig II. gar als einer der schönsten Monarchen der Welt. Seine athletische Erscheinung bei einer Körpergröße von 1,91 Metern, seine eindringlichen, dunklen Augen sowie sein kunstvoll gewelltes dunkelbraunes Haar verfehlten ihre Wirkung auf Männer und Frauen nicht. Doch wenige Jahre genügten und die Schönheit verschwand wieder. Bereits mit 30 Jahren hatte der König nur noch wenige Zähne, er wurde – nicht zuletzt wegen seiner Vorliebe für Süßes – zunehmend dicker und musste aufgrund eines Leistenbruchs in den 1870er-Jahren das von ihm bis dahin bevorzugte Reiten aufgeben. Als Ludwig im 41. Lebensjahr starb, war er aufgedunsen und ein körperliches Wrack.

Vorliebe für Lohengrin

Damit war er äußerlich weit entfernt von der Sagengestalt des Lohengrin, die er über alles verehrte. Dieser Schwanenritter soll der mittelalterlichen Sage nach edel und gut aussehend als Bote Gottes auf Erden gewirkt haben. Ludwig liebte daher auch die Wagner-Oper gleichen Namens, die er erstmals 1861 als Kronprinz erlebte. Vor allem der Text von „Lohengrin“ (von Wagner selbst verfasst) war für Ludwig zu einer Art Leitfaden für sein eigenes Leben geworden, das er an Ritterlichkeit und Gottesfurcht ausrichten wollte. Dass Ludwig eine besondere Vorliebe für die Sagen- und Opernfigur Lohengrin hatte, blieb der Öffentlichkeit nicht verborgen. Daher kursierten zahlreiche Gerüchte, wie jenes, er würde sich hin und wieder selbst als Lohengrin verkleiden. In Briefen jener Tage, egal ob privat oder im diplomatischen Dienst geschrieben, war nicht selten von „Lohengrin der II.“ oder „König Lohengrin“ die Rede, wenn Ludwig II. gemeint war. Verbürgt ist, dass Ludwig im November 1865 „die Scene der Ankunft des Schwanenritters aus Wagners Lohengrin auf dem Alpsee“ darstellen ließ. Es ist nahezu folgerichtig, dass sich die spätere Ansichtskartenindustrie dankbar dieses Motivs annahm und König Ludwig II. selbst als Lohengrin darstellte.

Der unmilitärische König

Auch Ludwig II. erscheint auf vielen Karten ritterlich, ja königlich porträtiert, da er prächtige Uniformen und Zeremonialbekleidung trägt. Der Realität entsprach dies aber keineswegs. Denn im Gegensatz zu seinen preußischen Verwandten bevorzugte er zeitlebens Zivilkleidung, nur sehr selten trug er Uniform. Der oberste Befehlshaber der bayerischen Armee, der Ludwig als König war, muss einen komischen Eindruck vermittelt haben, als er einmal Kaiserin Elisabeth von Österreich uniformiert besuchte und dabei wegen des Regenwetters – ganz unmilitärisch – einen Schirm in der Hand hielt. Ludwig war kein Militär und er bemühte sich auch nicht, es zu verbergen. Der Motivauswahl tat dies aber keinen Abbruch, Ludwig II. in Uniform – oder zumindest mit Hermelin – war weit beliebter als der bürgerlich gekleidete Monarch.

Flucht aus der Öffentlichkeit

Ludwigs ausgeprägter Anti-Militarismus und die daraus resultierende Ablehnung der Uniform als alltägliche Bekleidung gingen einher mit der zunehmenden Abwendung vom höfischen Leben und von repräsentativen Verpflichtungen.

Doch je weniger der Monarch in der Öffentlichkeit erschien, desto intensiver und häufiger schrieben Journalisten und Schriftsteller über ihn. Unwahres reihte sich dabei an weniger Wahres und an viel Erfundenes. Unzählige Schreiber brachten Spekulationen an die Öffentlichkeit, die diese begierig las. Ein besonders groteskes Werk erschien im Jahre 1881 in Rom: Der französische Schriftsteller Catulle Mendès verfasste das Buch „Der jungfräuliche König. Eine phantastische Hofgeschichte der Gegenwart“. In dem während der Monarchie in Bayern (bis 1918) verbotenen Roman ließ der Autor den König im Passionsspielort Oberammergau am Kreuz sterben. Ludwig II. klagte dabei: „Ach, die Wirklichkeit übertrifft alle Kühnheit der Phantasie!

Ohne Übertreibung kann gesagt werden, dass der König fast selbst Schuld an solchen Geschichten hatte. Wäre er in der Öffentlichkeit stets präsent und ein aktiv handelnder Monarch gewesen, wäre der überbordenden Fantasie gewiss die Grundlage entzogen worden. Doch er zog sich zunehmend in sein selbst gewähltes einsames Leben zurück, was die Ansichtskartenindustrie später motivisch verarbeitete. Bei mancher Bildauswahl für die Karten versuchte man auch, gerüchteweise überlieferte Ereignisse seines Lebens darzustellen und damit weiten Kreisen vor Augen zu führen. Darunter waren der Besuch des österreichischen Kronprinzen Rudolf im (der Öffentlichkeit verschlossenen) Wintergarten Ludwig II. auf dem Dach der Münchner Residenz und – am selben Ort – der Versuch einer Sängerin, die Aufmerksamkeit des Monarchen dadurch zu erlangen, indem sie sich in den Teich des Wintergartens fallen ließ. Doch nicht der König, sondern ein Diener fischte die Verschmähte aus dem Wasser.

Ludwig liebte die Natur und die Berge mehr als die Stadt. Seine Aufenthalte überwiegend fernab der Residenzstadt München wurden durch manche Bevölkerungsgruppen als besonderes Zeichen seiner Nähe zum einfachen Volk und als Verbundenheit mit der Heimat gedeutet. Auch sicherten seine Schlossbauten am Rande der Alpen den Menschen vor Ort Arbeit und Einkommen. Daraus erklärt sich die bis heute vorhandene Verehrung des Königs in Oberbayern. Dennoch lässt sich feststellen, dass die zunehmende Weigerung Ludwigs, seinen staatlichen Repräsentationsaufgaben nachzukommen, ab 1881 für eine stark nachlassende Popularität im Rest des Landes und insbesondere in München sorgte.

Überirdisches Begebnis

Im Alpenvorland und im Gebirge waren die Menschen dagegen zunehmend fasziniert von ihrem König, besonders wenn er in Winternächten mit einem seiner Schlitten in Formen des Neurokoko umherfuhr. Wie märchenhaft muss der Anblick des im verschneiten Gebirge dahinbrausenden Galaschlittens gewesen sein, der in die tiefe Nacht hinein goldenes Licht durch Fackeln verbreitete. Ein Augenzeuge wusste zu berichten: „Die nächtlichen Fahrten glichen in ihrer blitzartigen Geschwindigkeit einem nächtlichen Spuk, einem Märchenbild, das den wenigen Augenzeugen ein unvergänglicher Anblick, ein überirdisches Begebnis war.

Eine zeitgenössische Biografin beschrieb den Auftritt des Königs so: „Endlich erschien der König, zur Winterzeit fest eingehüllt gegen Wind und Wetter, eine blitzende Diamantagraffe auf dem breitkrempigen Königsornat wie Ludwig XIV., mit dem er sich in seinen Phantasien dann und wann identifizierte. Der Marstallfourier sprengte voraus, die Zügel in der rechten Hand, die weithin leuchtende Fackel in der linken, mit Windeseile folgte das trotz steiler Gebirgswege vom Kutscher sicher geleitete Fahrzeug, zu dessen Seite der Stallmeister, im schärfsten Tempo.“

Heute sind die fantastischen Gefährte, die häufig auf Ansichtskarten als Motiv auftauchten, ganzjährig im Marstallmuseum von Schloss Nymphenburg in München für die Öffentlichkeit zugänglich.

Traumschlösser in Oberbayern

Mittlerweile kann jedermann die Schlösser Ludwig II. besichtigen, die er von 1869 an nur für sich allein hatte errichten lassen. Linderhof (bei Oberammergau), Neuschwanstein (bei Füssen) und Herrenchiemsee (auf einer Insel im Chiemsee bei Rosenheim) tragen bis heute wesentlich zur Popularität des Monarchen bei und entfachen bei zahlreichen Besuchern immer wieder aufs Neue Begeisterung. Dabei sollten die weitgehend im Originalzustand erhaltenen Bauwerke, die Ludwig persönlich plante, auf keinen Fall durch das Volk „entweiht“ werden, wie er es selbst ausdrückte. Doch bereits sechs Wochen nach seinem Tod wurden sie für die Öffentlichkeit freigegeben. Seitdem sind sie der passende Ort für das Erleben und Einfühlen der Nachgeborenen in die Welt des Königs, im 21. Jahrhundert stehen sie sogar im Zentrum des Bayern-Tourismus.

Die von Anfang an bestehende Neugier auf die Königsschlösser wurde mit Ansichtskarten befriedigt, auf denen diese real erlebbaren „Symbole des Königs“ bzw. Versatzstücke aus den Schlössern mit und ohne dem Abbild Ludwig II. abgedruckt wurden. Das Angebot wurde beim Schloss Herrenchiemsee sogar so stark genutzt, dass dort im Sommer 1887 ein Saisonpostamt eingerichtet werden musste, um dem gestiegenen Postaufkommen Rechnung tragen zu können.

Grabmal seines Geistes und Glückes

Vor allem stand und steht Neuschwanstein bis heute im Zentrum des weltweiten Interesses und der Vermarktung. Die alles entscheidenden Faktoren für die Popularität sind die Person des Bauherrn und noch viel mehr sein ungeklärter Tod im Juni 1886. Denn Schloss Neuschwanstein war der letzte aus freiem Willen ausgewählte Ort des Königs. Hier, auf einem Felsen vor den Alpen, wurde er im Juni 1886 aufgrund eines von seiner Regierung in Auftrag gegebenen psychiatrischen Gutachtens für regierungsunfähig erklärt und festgenommen. Von Neuschwanstein aus brachte man den Abgesetzten nach Berg am Starnberger See, in dessen Schloss er interniert wurde. Nur einen Tag später war Ludwig II. tot. Von der symbolischen Höhe des Lebens und des hoch gelegenen Schlosses Neuschwanstein ging der Weg geradewegs in die Tiefen der Erniedrigung und des Todes im kalten Wasser. Kaiserin Elisabeth von Österreich fasste es noch im selben Jahr in folgende Gedichtzeilen: „Sie stürzten ihren König vom hohen Schwanenstein, sie drängten ihren König bis in den See hinein.“

Die Identifikation des noch unvollendeten Schlosses Neuschwanstein mit dem Schicksal Ludwig II. war von Anfang an sehr hoch, sowohl in Zeitungsartikeln, Bildern, Liedern, Gedichten als auch – darauf folgend – bei den Motiven der Ansichtskarten.

Bereits kurz nach dem Tod des Königs wurde Neuschwanstein als „stolze Feste“ mit dem lebenden und starken Ludwig II. gleichgesetzt, der in seinem größten „Traum“ und im Gebäude der Ritterlichkeit, des höchsten Königtums und der Gottesnähe am tiefsten gefallen sei. Vor allem die gemeinsame Abbildung von Schloss Neuschwanstein und Schloss Berg galt als perfekte Illustration, um den Gegensatz zwischen der Traumwelt des Königs und der harten Wirklichkeit des Lebens bzw. dem Schicksal des Todes darzustellen.

Überhaupt wurden immer fantastischere Bildmotive auf der Grundlage dieser Dualität in den nachfolgenden Jahren in die Welt versandt. Sie taten ihr Übriges, aus Neuschwanstein mehr zu machen, als es tatsächlich war und ist: ein Märchen.

Die Schlösser Herrenchiemsee und Linderhof indes wurden mit dem Schicksal des Königs weit weniger in Beziehung gesetzt, da keines von diesen der letzte Aufenthaltsort war, und weil sie sich wegen der topografischen Lage (auf einer Insel bzw. im Tal) kaum als Synonym für die Höhe vor dem tiefen Fall eigneten.

„Ludwig der Deutsche“

Das Ableben Ludwig II. am 13. Juni 1886 bedeutete die endgültige Wandlung einer realen Person in eine vom Mythos umrankte Gestalt. Der nun unsterblich gewordene Monarch wurde in den nachfolgenden Jahren umso mehr als Repräsentant des alten, das heißt souveränen Bayern verstanden, desto stärker das Königreich Preußen – dessen Herrscher von 1871 an zugleich Deutscher Kaiser war – das Deutsche Reich dominierte. Diese Sichtweise stellte die bekannte Abneigung Ludwigs gegen die Reichsgründung heraus, ließ aber zugleich die offizielle Geschichtsschreibung außer Acht. Gemäß dieser galt Ludwig II. als aktiver Mitbegründer des Deutschen Reiches („Ludwig der Deutsche“), da er 1870 als zweitwichtigster deutscher Herrscher mit einem Brief („Kaiserbrief“) seinem Onkel Wilhelm von Preußen die Übernahme des Kaisertitels angeboten hatte. So sehr dies auch tatsächlich den gegebenen politischen Verhältnissen geschuldet war, Ludwig II. hatte an den Folgen, nur noch ein zweitrangiger Monarch zu sein, gelitten.

Der verstorbene bayerische König geriet unter diesen Voraussetzungen zum tragischen Helden, der nur Gutes gewollt habe und letztendlich an den realen Gegebenheiten gescheitert sei.

Denkmal im Kleinformat

Zu einem bayerischen Helden und einer mythisch umrankten Person passt das Edelweiß als Symbol. Diese Blume, die nur in den Bergen – also entfernt von der Zivilisation – wächst, fand sich zusammen mit dem Porträt des Königs häufig auf Ansichtskarten. Die alpine Pflanze wurde mit den Attributen Freiheit, Unerreichbarkeit und Ausdauer versehen und damit dem König gleichgesetzt: Mit „Ein Edelweiß so bieder, fromm und echt, ein Mann für’s Volk, es war ihm jeder recht. Drum seinem Angedenken Ehr und Preis, Held Ludwig war ja Bayern’s Edelweiß!“ waren einige Karten beschrieben. Dieser und weitere beigegebene Sprüche verstärkten die bis zur Vergötterung anmutenden Darstellungen: „Und jedem Bayern war es wohl bekannt, und ward gepflegt mit liebend zarter Hand“ und „Wenn man als Bayern-König Dich, unlieb schon lang vermisst, so lebst Du trotzdem für uns fort, weil Du unsterblich bist“.

Eines der populärsten Gedichte der frühen Verklärungszeit lautete: „Du brauchst kein Standbild von Stein. Du brauchst kein Denkmal aus Erz. Dein Bild wird ewig leben, im treuen Bayernherz.“ Damit reagierte das Volk auf den Umstand, dass von offizieller Seite kein Denkmal für den toten König Ludwig II. geplant war. Allen anderen Königen Bayerns war ein solches sogar bereits zu Lebzeiten gewährt worden.

Die bis heute ungeklärten Umstände, unter denen der König ums Leben gekommen war, lösten eine von Vielen geforderte Denkmalwürdigkeit Ludwig II. aus. Das dilettantische Verhalten der Regierung und des Prinzregenten Luitpold, der die Nachfolge Ludwigs antrat, taten ihr Übriges, um in weiten Kreisen der Bevölkerung Zweifel an den offiziellen Verlautbarungen zu den Vorgängen in Berg am Starnberger See aufkommen zu lassen. Gewiss war es auch das Mitgefühl für einen Einsamen und Unverstandenen sowie das Mitleid für erniedrigte Größe.

Auch Skepsis gegenüber der als Grund für die Absetzung Ludwig II. ins Feld geführten „Geisteskrankheit“ machte sich im gesamten Land breit. So berichteten verschiedene Zeitungen unmittelbar nach der „Königskatastrophe“ vom 13. Juni 1886 darüber, dass hier und dort jemand „heftigste Entgegnungen“ oder sogar Prügel zu erwarten hatte, der die Verrücktheit Ludwigs nicht in Zweifel zog.

Der wachsende Protest gegen die Regierung und den Prinzregenten wegen politischer und wirtschaftlicher Neuerungen, der mit der Verehrung und Verklärung des toten Königs einherging, brachte verstärkt die Forderung hervor, es möge ein Denkmal für Ludwig errichtet werden. Doch mit einer schnellen Umsetzung des Denkmal-Wunsches stand es schlecht, denn in den Folgejahren weigerte sich der Prinzregent, die Schirmherrschaft für ein offizielles Denkmal zu übernehmen. Daraus erwuchs eine noch stärker werdende Affinität, Ludwig II. zu erhöhen: „So steht er rein und hehr, makellos, in verklärter Gestalt in unserem Andenken und gerade sein Unglück ist es, das unsere Liebe verdoppelt, sie ihm über das Grab hinaus bewahrt, auf ewige Zeiten und unverbrüchlich“, war im August 1894 im Neuen Münchner Tagblatt zu lesen. Diese Haltung wurde vor allem über Ansichtskarten in die Öffentlichkeit getragen und von dieser gerne genutzt. Auch den bereits 1876 verstorbenen Bonner Dichter und Philologen Karl Simrock bemühte man mit einem seiner populärsten Sprüche: „Ob kalt und stumm, sie leben doch, / Die wir in’s stille Grab versenkt, / So lang ein Herz auf Erden noch / In Liebe Ihrer treu gedenkt“ lesen wir auf einer Ansichtskarte, auf der eine junge Frau zärtlich eine Ludwig-Büste auf den Mund küsst. Damit wurde – nicht nur – diese Ansichtskarte zum Denkmal im Kleinen.

Ludwig II., König von Bayern ist unsterblich geworden. Viele Herzen auf der Erde schlagen für ihn, zahlreiche Menschen bewahren sein Andenken und begehen seinen Geburts- wie Todestag. Seine Schlösser – und da vor allem Neuschwanstein – symbolisieren selbst im 21. Jahrhundert das Gute und Schöne sowie die Kraft der Fantasie. Und auch die Ansichtskarten haben sich als Postkarten gehalten, die die Eigenart des Königs und seiner Bauten weiterhin in die weite Welt tragen.

Uns bleibt die Erkenntnis, dass die frühen Ansichtskarten vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Dokumente einer vergangenen Epoche sind. Sie bilden nicht nur etwas ab, sondern stellen etwas dar. Nämlich das Denken und die Haltung unserer Vorfahren. Aus einer Zeit ohne Handy, SMS, Bildergalerien im weltweiten Netz und Social Media geben die Bildmotive Auskunft über die Vorlieben der Menschen, über ihre Sehnsüchte und Wünsche.

Alle abgebildeten Ansichtskarten stammen aus der Sammlung des Autors.

Über den Autor:

Marcus Spangenberg, geboren 1968, ist als Kunsthistoriker und Journalist in beiden Metiers zuhause. Neben seinem beruflichen Engagement als freier Journalist und seiner Tätigkeit in der unternehmerischen Öffentlichkeits- und Pressearbeit, hat er sich als Autor einen Namen gemacht und gilt heute als einer der anerkanntesten Experten zur Person des bayrischen König Ludwigs. Mit dessen Biographie und Bauwerken hat er sich intensiv auseinandergesetzt. Mehrere Bücher sind zu diesem Thema erschienen, die Biographie Ludwigs (Pustet Verlag) auch in englischer Sprache.
Auf seiner Homepage gewinnt man einen Überblick über seine zahlreichen Veröffentlichungen und Aktivitäten und kann sich für einen Newsletter des Experten eintragen.
Auch auf Instagram ist der Autor präsent: @biograf_marcusspangenberg

Vom gleichen Autor ist der Artikel „…Ludwigs Kampf um Freundschaften und Beziehungen“ auf der Seite erschienen.

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