Weihnachtsgeschichte: Der Spatz und sein Schatz

 In Geschichten Weihnachten
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Hier findet Ihr eine Vorschau der Geschichte und einige Worte zum Autor (und ein Bild, wie er aussah):

Seit der junge Doktor Burmeister die Praxis des Sanitätsrats Heising übernommen hatte, war es in der sonst so gemütlichen Himmeltorstraße richtig ungemütlich geworden. Dieser Doktor Burmeister war nämlich ein „Neumodscher“, wie Frau Sponnagel, die bei Frau Major von Lodeneck die Aufwartung besorgende Pantoffelmacherswitwe, mit einem deutlichen Groll in ihrer ewig heiseren Stimme feststellte. Alles an ihm war anders als es bei dem Alten, niemals hastenden Sanitätsrat gewesen, den leider auf seine alten Tage noch das Reisefieber gepackt hatte, und der nun, weiß Gott wo, bei den Türken oder Mohren, vielleicht gar in den Eisgefilden der Eskimos umhertroddelte und sich die Welt besah. Genau wusste das die Sponnageln nicht. Aber das eine wusste sie: gefallen konnte ihm das auf die Dauer unmöglich, so immer aus einem Bett ins andre, und manchmal womöglich gar nur in einem Zelt unter groben Wolldecken. Ebenso wenig wie ihr in Haldenburg sein „neumodscher“ Nachfolger gefiel, der dem guten Sanitätsrat so wenig ähnlich war, wie etwa eine Nebelkrähe ihrem goldgelben Kanarienvogel daheim sein konnte.

Wenn sich die Sponnageln zu solchen Vergleichen verstieg, mußte es schon ziemlich arg sein. Und in der Tat waren gewichtige Unterschiede zwischen den beiden Ärzten auch nicht wegzuleugnen. Mit dem Alter fing’s an. Was konnte dieser junge Mensch von all den verschiedenen Sorten von „Reißen“ zum Beispiel verstehen, die ihren Seligen seinerzeit geplagt hatten? Selbst der alte Sanitätsrat Zeising hatte zu mancher von Sponnagel stöhnend geschilderten Abart manchmal ungewiß den Kopf schütteln müssen. Und der hatte doch eine vierzigjährige Erfahrung!

Das Bild von der Krähe und dein Kanarienvogel hatte also seine Berechtigung. Die jungen, naseweisen Dienstmädchen in der Nachbarschaft meinten zwar, der schmucke junge Doktor mir seiner straffen Haltung und dem flotten, braunen Schnurrbart unter der fein geschnittenen, aber eine ziemlich derbe Schlägernarbe(?) aufweisenden Nase müsse dann zum mindesten der Kanarienvogel sein. Die Sponnageln indes behauptete i zähe das Gegenteil. Und das knüpfte sich bei ihr an eine ganz bestimmte, wohl zu berücksichtigende Vorstellung.

Sie hatte nämlich den neuen Doktor bei seinem Einzug im Oktober zum allerersten Male in einem großen, grauschwarzen, ledernen Überrock gesehen, der beinahe bis an die Erde gereicht hatte und nach ihrem sachverständigen Urteil viel zu weit war. Dazu hatte er eine großschirmige Mütze auf dem Kopfe getragen, die ihr wie ein flacher, schwarzblechener Kochtopf vorgekommen war. Und die Handschuhe erst an den Fäusten! Wie alte, unförmliche Tabaksbeutel hatten sie ausgesehen! Auf der Nase aber hatte ihm ein Ungetüm von Brille gesessen wie es die Steinklopfer draußen an den Chausseen zu tragen pflegen. Nur war die seine noch viel größer und abschreckender gewesen. Selbst der Gendarm hätte sich vor ihm gefürchtet.

Dieser Neumodsche hatte sich nämlich ein Automobil mitgebracht, um seine Krankenbesuche in der Stadt und draußen darin schneller erledigen zu können.

Man denke: so einen Höllenkasten von Automobil in der Himmeltorstraße! Tagtäglich fauchte er aus der breiten Einfahrt des großen, altmodischen Patrizierhauses auf die stille, schmale Straße hinaus, gab dabei Töne von sich wie ein vorsintflutliches Untier und verbreitete neben einem ganz abscheulichen Benzingeruch allerlei Ängste, Schrecken und Entrüstung.

Nicht nur bei der Sponnageln! Die ganze Himmeltorstraße war sich so ziemlich darüber einig. Und die arme Frau Major hatte bei dem schrecklichen Getute im Anfang jedes Mal ein nervöses Zittern bekommen!

War das, im Vergleich zu den früheren, ruhigen Zeiten, nicht wirklich im höchsten Grade ungemütlich? Wie still und friedlich war es gewesen, wenn Almansor, der brave Schimmel des alten Sanitätsrats, aus demselben Torweg herausspazierte, vorsichtig wie ein Kätzlein bei nassem Wetter, und die kleine Kalesche hinter sich herzog. Alle Welt kannte Almansor und seine unbedingte Zuverlässigkeit. Niemand brauchte ein Unglück zu fürchten, wenn er in gemütlichem Trott, sanft nickend, die Straße heraufklepperte, als müsse er rechts und links die bekannten Gesichter alle grüßen. Und wie vergnügt lächelnd hatte der alte Sanitätsrat in seinem hellen Paletot auf den schwarzen Lederpolstern gesessen und die Zügel geführt. Sein weißer Vollbart hatte etwas Patriarchalisches gehabt, und die blitzenden Gläser seines goldenen Kneifers mit den schalkhaften, gütigen Augen dahinter hatten die Sponnageln immer an die schönen, blanken Unterscheiben des goldglänzenden Vogelbauers erinnert, von dessen Erwerb für ihr Mätzchen sie manchmal kühn zu träumen pflegte.

Für sie also war der alte Sanitätsrat der Kanarienvogel, und der „Neumodsche“ war die Nebelkrähe. Darüber gab’s für sie gar keinen Zweifel!
Und sie sorgte dafür, dass ihre Auffassung im Kreise der Majorsfamilie, zu der sie als unentbehrliches Faktorum nun einmal gehörte, mit Überzeugung geteilt wurde. Keinen Tag ließ sie vergehen, an dem sie nicht von irgendeinem kaum noch zu verhüten gewesenen Unglücksfall berichtete, den dieser rücksichtslose junge Doktor mit seinem teuflischen Vehikel angerichtet hatte, und wenn draußen der Warnruf laut wurde und Frau Major nicht wenigstens ein kleines Zeichen von Angst merken ließ, so sagte sie, auf den dumpfen Ton hinweisend, vorwurfsvoll: „Da fährt er wieder los mit seinem wilden Drachen! Gott behüte die kleinen Kinder und die alten Leute!“

Das genügte natürlich, um bei der schreckhaften Dame sogleich das nötige Gruseln mit den dazugehörigen schweren Seufzern hervorzurufen. Diese Seufzer waren wiederum hinreichend, um bei dem jungen Töchterchen der Frau Major das Gefühl jener reizenden Besorgnis zu alarmieren, das bei ihr gleichsam auf Posten stand, um alle Behaglichkeitsstörungen von den: zarten, kränklichen Mamachen nach Möglichkeit abzuwehren. Es war nämlich ein Verhältnis rührendster Art zwischen dieser kleinen, blassen, dein Witwentum frühzeitig verfallenen Frau und ihrer schönen, hoch gewachsenen, in der ganzen Stadt für spröde, ja wohl gar hochmütig geltenden Tochter, das die Beziehungen von der Mutter zum Kinde in anmutigster Weise umgekehrt zeigte, indem Fräulein Aspasia in tausend Dingen die Rolle des fürsorglichen Hausmütterchens übernommen hatte. Auch der zärtliche Respekt, den gut erzogene Kinder selbst im reiferen Alter nie vor den Eltern verlieren, war in dem Herzen des Mädchens trotz aller Hausfrauenpflichten und Wirtschaftssorgen fest eingewurzelt geblieben, und jede kleine Plage, über die sich Mamachen beklagte, kränkte sie heftiger, als irgendeine wirkliche Unbill, die ihr selber widerfuhr.
So kam es natürlich, daß auch ihr der Besitzer des „Drachens“, Doktor Burmeister, nach und nach wie ein böswilliger Störenfried erschien und der Groll gegen ihn und sein Fahrzeug mit jedem Warnungssignal zunahm. Obgleich sie sollst ein sehr lebendiges Gerechtigkeitsgefühl hatte, dachte sie in diesem einen Falle merkwürdigerweise gar nicht darüber nach, ob der junge Arzt nicht ganz nüchterne Gründe dafür gehabt hatte, sich mit diesem modernen Reisewagen auszurüsten.

Noch viel weniger fiel ihr ein, dass es eigentlich niemand auf der Welt, die sämtlichen Bewohner der Himmeltorstraße nicht ausgeschlossen, etwas anging, ob sich der junge Doktor zu seinen Patienten von wirklichen oder künstlich erzeugten Pferdekräften befördern ließ.
Sie nahm es wie etwas Persönliches, wie eine gewollte Rücksichtslosigkeit der Straße gegenüber, in der bisher das behagliche Gefühl der Sicherheit geherrscht hatte. Denn zu den leisen Klagen des empfindsamen Mütterchens gesellte sich sehr oft eine heimliche Angst um den dritten und letzten im Bunde der kleinen Familie, den bald achtjährigen Wildfang Rolf, der nach Erledigung seiner Schulpflichten mit den Kameraden aus der Nachbarschaft irgendwo draußen Kriegsspiele inszenierte, die ihre Vorbilder bald auf den kalten Gefilden der Mandschurei, bald aus dein heißen Boden Deutsch-Afrikas suchten.

Rolf war ein so wagehalsiger Junge der jedem Gefährt erst aus den: Wege ging, wenn es nach seiner Schwester Meinung eigentlich schon zu spät war. Dass er trotzdem noch alle seine gesunden Gliedmaßen und nicht mindestens ein Dutzend Löcher im Kopfe hatte, war ein Wunder! Wenn das kecke Schlingelchen einmal dem hechtgrauen Ungetüm mit den blitzblanken, messingumränderten Laternenaugen vor die Räder käme: Das Unglück war gar nicht auszudenken!

Selbstverständlich stimmte mich Rolf zunächst in die allgemeine Missbilligung über den „Drachen“ und seinen ahnungslosen Besitzer ein. Schon aus angeborenem Familiengefühl! Aber er konnte es doch nicht hindern, dass seine Augen manchmal mit schreckhafter Neugier zu den Hebeln und Ventilen, dein schnurrigen Steuerrad und den wie mit einem Kürass gepanzerten Brustkasten des Ungetüms hinüberwanderten. Wenn dann das unheimliche Surren begann und gleich danach die ersten Bewegungen an dem Automobil sichtbar wurden, steigerte sich die Neugier zu einer gruseligen Bewunderung. Nicht allzu lange dauerte es, und er ging mit dem jungen, munteren Chauffeur des Doktors ein kleines Schwatzverhältnis ein, wobei sich das Gruseln vor dem „Drachen“ auffällig schnell verflüchtigte und dafür ein ganz ungetrübter Enthusiasmus zutage trat, der selbst seine stürmische Neigung zu dem gefangenen Eichkätzchen seines Freundes Hans Erich für ganze Stunden zu verdunkeln vermochte. Die Hupe, die das surrende Signal verursachte, verklärte sich ihm mehr und mehr zu einem wirklich musikalischen Instrument, und der Duft des Benzins bekam sogar etwas Faszinierendes für ihn.
Natürlich erschien auch der große Tag, an dem ihm die atemberaubende Freude zuteil wurde, ein paar Straßen weit in dem neuen Wunderwagen mitzufahren.

Aber da er seiner Mutter hatte versprechen müssen, dem „Drachen“ überall und unverzüglich aus dem Wege zu gehen, so hütete er sich, diese Fahrt schon in der Himmeltorstraße anzutreten. Soviel zarte Rücksicht auf Mutter und Schwester wohnte in ihm, dass er diese Luftfahrt nicht vor ihren entsetzten Augen anzutreten gewillt war. Er wartete also an der nächsten Straßenecke auf seinen neuen Freund, der das Steuer führte, und kletterte herzklopfend dort hinein. Ehe Doktor Burmeister erschien, der zu einer längeren Tour abgeholt werden sollte, hatte er seinen Sitz wieder verlassen. Da sich aber diese heimlichen Freuden, die noch süßer waren als verbotene Früchte, in der Folge wiederholten, geschah es eines Tages, dass Doktor Burmeister früher kam, als ihn die beiden erwartet hatten, und den jungen, wie eine Tomate rot gewordenen Passagier im Wagen überraschte. „Wen haben wir denn da?“ fragte er erstaunt, aber nicht ohne Wohlwollen an dem verlegenen, kleinen Prachtkerl, der höflich sein Schülermützchen gezogen hatte und ängstlich zu ihm aufschaute. „Sind wir nicht halbe Nachbarsleute?“

„Wir wohnen gegenüber von Ihnen!“ sagte Rolf verlegen.

„Richtig! Und eine große Schwester hast du auch, die immer noch stickt am Fenster, selbst wenn es schon ganz dämmrig ist! Nicht wahr?“ Rolf nickte, zutraulicher werdend. Dieser Doktor gewann bei näherer Bekanntschaft nicht weniger als sein Automobil. Das stand im Herzen des Jungen sogleich fest. „Wie heißt du denn, kleiner Mann?“ erkundigte sich Doktor Burmeister und drückte das Bübchen auf den Sitz zurück. „Rolf von Lodeneck!“ gab er zur Antwort.

„Sehr angenehm!“ quittierte der Doktor und nahm den Platz neben ihm ein. „Du darfst noch ein bisschen mitfahren, wenn du willst. Es geht bald nach Hause!“ „Aber nur bis an die Ecke von der Himmeltorstraße!“ bat er ein wenig beklommen. „Dort muss ich aussteigen!“ „Warum?“ fragte der Arzt lächelnd. „Daß Mama mich nicht darin sieht! Und Spatz! Und die Sponnageln!“ „Und weshalb dürfen die dich alle nicht sehen?“ „Weil sie so große Angst haben vor dem „Drachen“ platzte er offen heraus.
Doktor Burmeister lachte belustigt. „Das ist ja ein netter Name für unser schönes Automobil!“ sagte er. „Aber erzähle mir doch mal, wer der „Spatz“ ist, der dich auch nicht sehen darf, Freund Rolf!“

Rolf lugte glückselig zu ihm hinüber. Das Wort Freund hatte ihn sehr stolz berührt. „Spatz?“ erklärte er dann. „Spatz ist meine Schwester!“„Na, höre mal, das ist ja ein merkwürdiger Name! Lässt sie sich denn das von dir gefallen?“ „Wir nennen sie immer so, Mütterchen und ich!“„Aber so kann sie doch unmöglich heißen?“

„Nein, sie heißt Aspasia, wie unsre Urgroßmutter geheißen hat. Daraus hat Väterchen ,Spatz‘ gemacht, weil ihm das zu lang gewesen ist, sagt Mütterchen“ plauderte der Kleine. „Hm, dann empfiehl mich nur deinem Mütterchen und dem Fräulein Schwester und bestelle ihr, sie möchte ihre Augen besser schonen. Der Arzt ließe es ihr sagen! Verstanden?“„Ja!“ erwiderte Rolf bedrückt. „Aber wenn ich ihr das bestelle, so weiß sie gleich —“ „Richtig. Das geht also nicht. Dann werd‘ ich’s ihr also schon selber sagen müssen!“ sagte Burmeister lachend und nahm sich vor, die nächste Gelegenheit zu benutzen, sich dem schönen, stolzen Geschöpf endlich zu nähern und dabei für Rolf eine Aufhebung des Freundschaftsverbots mit seinen Auto zu versuchen.

 

Fräulein von Lodeneck war ihm nämlich schon in seinen ersten Haldenberger Tagen angenehm ausgefallen. Der schlichte Ernst, der in einem lieblichen Gegensatze zu ihrer frischen Jugend stand, erschien ihm überaus sympathisch. So sehnte er sich schon lange danach, mit ihr bekannt zu werden, doch es bot sich ihm keine Gelegenheit. Auch am Fenster saß sie selten zu den Tageszeiten, wo er seinen Gruß hätte anbringen können. Sie war eben eine vornehme, zurückhaltende Natur. Der Ruf, hochmütig und eingebildet zu sein, den sie bei den Referendaren und Rechtsanwälten seines Stammtisches genoss, erfüllte ihn zwar mit einiger Unruhe, die ihn äußerst vorsichtig sein ließ, aber es freute ihn doch auch, weil es ihm ein Beweis dafür war, wie apart sie sich hielt und wie ihr die landläufige Oberflächlichkeit im Verkehr der Haldenberger Jugend zuwider war.

Die Gelegenheit, ein paar erste leichte Fäden von sich zu ihr zu spinnen, wollte indessen lange nicht kommen. Der November verging und der halbe Dezember, und es war keine Änderung in seinen Beziehungen zu den Lodenecks eingetreten. Nur der kleine Rolf hatte die schnell geknüpfte Freundschaft ganz verstohlen weitergepflegt und beteiligte sich daheim nicht mit einer einzigen Silbe mehr an den Entrüstungskundgebungen gegen den „Drachen“. Aber eine offene Parteinahme wagte er doch auch nicht.

Da geschah es eines Tages, dass eine Cousine des Doktors den Haldenberger Bahnhof passierte und sich zu dem viertelstündigen Aufenthalt ihren Cousin als Ritter hinauszitierte. Sie hatte Auftrag von der Verwandtschaft, sich den Vetter anzusehen und über ihn zu berichten, da ein paar alte Tanten des Glaubens lebten, er könne in dem fernen Haldenberg so ohne alle weibliche Aussicht arg verbummeln.

Heinz Burmeister war wenig erfreut über diesen Besuch. Die Cousine war ihm viel zu schnippisch und selbstbewusst. Aber so ungalant war er doch nicht, dass er sie deswegen vergeblich hätte warten lassen. Und seine Selbstüberwindung wurde belohnt. Denn als er die Vorhalle des Bahnhofs trat, sah er zu seiner freudigen Überraschung auch Fräulein von Lodeneck dort. Artig zog er den Hut. Kühl und nicht ohne einen Stich von Erstaunen im Antlitz dankte sie. Seine Augen ruhten aber mit so offenbarem Wohlgefallen auf ihr, dass das Erstaunen leise von dannen huschte und einem verlegenen Erröten das Feld räumte. Natürlich folgte dicht hinterher der Groll über ein so albernes Verfärben und die Entrüstung über das ungehörige Anstarren. Hastig wandte sie sich ab, dem Automaten zu, um eine Bahnsteigkarte zu lösen; doch in ihrer Verwirrung schluckte boshafterweise nicht der Kartenautomat den einzigen Nickel ihres Geldtäschchens, sondern der nichtsnutzige Stollwerksche Schokoladenautomat dicht daneben. Als sie unten am Griffe zog, fiel ihr statt der erwarteten Bahnsteigkarte ein mit Farbendruck und Goldschrift gezierter Schokoladenkarton in die Hand, während nebenan der Nickel des jungen Doktors herausfordernd klirrend durch den richtigen Apparat spazierte.

Verärgert steckte sie das Schokoladentäfelchen in die Kleidertasche und suchte nach einem weiteren Nickel-, obgleich sie genau wußte, nur noch Silbergeld in ihrem Portemonnaie zu haben. Heinz hatte sie beobachtet. „Darf ich Ihnen aus der Verlegenheit helfen, mein gnädiges Fräulein?“ fragte er lächelnd; und es schwebte ihr schon auf der Zunge, ein zusagendes Dankeswort zu sprechen. Aber dann fiel ihr die Himmel-torstraße ein, mit ihrem gestörten Frieden, und sein Anstarren von vorhin. Wahrscheinlich galt sein Lächeln ihrem kleinen Irrtum, über den er sich lustig machte. Wie konnte sie auch nur daran denken, von einem solchen Menschen eine Gefälligkeit anzunehmen?

„Ich danke,“ sagte sie reserviert. „Ich löse mir schon eine Karte am Schalter!“ Das Lächeln wich von seinen Lippen, und seine Augenbrauen zogen sich ein wenig zusammen. „Wie Sie denken!“ murmelte er und schritt verlegen an ihr vorüber zum Bahnsteig hinaus, wo der Zug eben einlief, der das Cousinchen bringen sollte. Durch die Dezemberluft wirbelten die ersten leichten Schneeflocken des Winters, der sich diesmal böse verspätet hatte, und die Menschen alle sahen mit frohen Augen in das sich langsam entwickelnde weiße Gewimmel hinein, als wäre jedes glitzernde Schneesternchen einen blanken Taler wert. Das war die alt eingewurzelte Freude an der langsam aufdämmernden Weihnachtsstimmung.

Cousine Hedwig steckte das dunkle Lockenköpfchen schon suchend aus dem Kupee heraus, noch ehe der Zug hielt.

Sie wartete auch nicht auf den Schaffner, sondern öffnete sich gewandt die Tür selbst, kletterte munter auf den Bahnsteig hinaus und rief den Vetter an, der sich durch eine Gruppe von etwas unbeholfenen Landleuten erst durcharbeiten mußte.

„Grüß‘ Gott Heinz!“ sagte sie, ihm die Hand kameradschaftlich schüttelnd, und überflog mit einem schnell musternden Blicke seine stattliche Gestalt, an der auch nicht die leiseste Spur einer junggesellenhaften Nachlässigkeit zu entdecken war. Die Tanten hatten sich also durchaus überflüssigen Befürchtungen hingegeben.

„Du siehst ja brillant aus! Dein Beruf scheint dir gut zu bekommen!“ „Ich danke, ja!“ entgegnete er lakonisch. „Ist alles mobil bei euch?“
„Alles tipp-topp!“ bestätigte sie, die gern mit modernen Schlagwörtern in die Unterhaltung fuhr. „Na, das freut mich! — Und nun möchte ich wissen, ob du eine Erfrischung nötig hast!“

„Nein, Vetter!“ erklärte sie, au ihm vorüberlugend, als suche sie jemand. „Aber ich hatte einer Pensionsfreundin aus Haldenberg gleichfalls geschrieben. Es wäre schade, wenn sie nicht Zeit gehabt hätte!“
Nun aber ging ein fröhliches Aufleuchten über ihre Züge. „Hallo, da kommt ja das Girl!“ rief sie befriedigt und telegraphierte mit ihrem Batisttüchelchen zur Perrontür hinüber. Und wie Heinz, von einer leisen Ahnung beschlichen, ihren Blicken folgte, sah er wahrhaftig Fräulein von Ludeneck etwas zögernd und befangen, aber doch lächelnd zu ihnen herüberschreiten. — Und noch einmal zog er artig den Hut. „Ihr kennt euch hoffentlich schon, Herrschaften?“ erkundigte sich die Cousine. „So halb und halb wenigstens!“ sagte Heinz, während das Fräulein korrekt erklärte: „Ich hatte noch nicht das Vergnügen!“ Das verursachte ihr zwar ein sehr zwiespältiges Empfinden, weil es nicht ganz der Wahrheit entsprach; denn sie wußte ja ganz gut, wer der schreckliche Mensch war. Aber er sollte sich doch nicht etwa einbilden, dass er bisher irgend welches Interesse für sie gehabt hatte! Und vorgestellt waren sie sich nirgends, also —? Hedwig Nordmann war darüber sehr verwundert.
„Mein Gott, Kind ihr wohnt doch in einer Straße!“ rief sie lachend. „Dann muss ich euch also in aller Form miteinander bekannt machen? Gut! Wird besorgt! Zunächst hier mein teurer Cousin, Herr Doktor Burmeister, grässlich ernsthaft und unglaublich gelehrt! — Heinz, mache eine anerkennende Verbeugung! — Und hier: mein liebe Pensionsfreundin, Fräulein Aspasia von Lodeneck, wegen ihres fabelhaften Fleißes der Liebling sämtlicher Lehrerinnen des Instituts, angestaunt von ihren Mitschülerinnen und verehrt von — na, das geht dich ja weiter nichts an, Vetter! Und nun spazieren wir zu dreien ein bisschen vor dem Zuge auf und ab, bis er weiterdampft! Dabei erzählst du mir, Liebste, wie es dir hier geht in diesem schrecklichen Nest, wo ich nicht einmal im Photographenkasten hängen, viel weniger begraben sein möchte!“ „Dein Mundwerk scheint noch immer das alte zu sein, Hedwig!“ warf Doktor Burmeister trocken hin. „Ja, Gott sei Dank!“ erklärte sie. „Aber unterbrich mich nicht fortwährend, alter Nörgler. Vorläufig ist meine Freundin an der Reihe. Also, Darling, beichte: Was treibst du? Singst du? Tanzt du? Läufst du Schlittschuh? Und bist du noch immer nicht verlobt?“
„Aber, Hedwig, Hedwig! Welche Fragen!“ rief Aspasia unwillig und fühlte, wie ihr die Röte wieder bis in den blonden Scheitel hinaufstieg. „Du bist doch wahrhaftig ganz die alte geblieben.“ „Und du bist noch immer das holde Blümlein Rührmichnichtan!“ lachte sie. „Es kommt eben so leicht niemand aus seiner Haut heraus! Hältst du es denn für etwas so Fürchterliches, sich zu verloben? Ich kann dir sagen, es ist ein geradezu himmlisches Gefühl!“ „Das weist du doch selbst noch gar nicht, Hedwig!“ spottete der Vetter. „So, du Kluger?“ wandte sie sich spitzbübisch lächelnd an ihn. „Was denkst du denn eigentlich, weshalb ich mitten im Dezember auf der Eisenbahn sitze und in die Welt hineinfahre, he?“ „Das ist mir vorläufig noch ein Rätsel. Aber ich hoffe, du wirst mir die Lösung schon verraten!“ „Wert bist du’s kaum! Trotzdem will ich dich nicht länger zappeln lassen.“ „Ich zapple gar nicht, Cousinchen.“ Aber sie fuhr fort, ohne den Einwurf zu beachten: „Erfahre also, dass ich auf dem Wege nach Meiningen bin, wo meine künftigen Schwiegereltern wohnen. Übermorgen feiern silberne Hochzeit, und am selben Abend noch wird unsre Verlobung öffentlich bekannt gegeben!“

„Da gratuliere ich von Herzen!“ sagte Aspasia und drückte der jungen Braut die Hand. Burmeister aber fragte mit der bei Brüdern und Cousins so oft zu beobachtenden Offenheit: „Und wer ist der Unglücksmensch, der das mit dir riskieren will?“ „Gott behüte dich vor solchen Cousins, liebe Aspasia!“ rief Hedwig in drolliger Empörung und zeigte dem Doktor lustig drohend die Faust. „Mein Bräutigam heißt Eduard Weidenau und ist ein zehnmal besserer Mensch, als du!“ „Dann trifft ihn das um so unverdienter!“ lachte er.

„O, du boshafter Giftpilz!“ sagte sie. „Der Himmel schütze jedes arme Ding vor solch einem Ehemanne! Gott sei Dank, das; deine Liebste vier Räder hat und als Herz einen Motor, und statt Blut Benzin. — Oder hast du dein Auto nicht mehr?“

„Gewiss habe ich es noch, zum Entsetzen aller Philister! Aber ganz so intim ist das Verhältnis zwischen uns denn doch nicht, wie du es schilderst.“ „Es macht dir wohl manchmal Verdruß? O, das gönn‘ ich dir von Herzen!“ „Da irrst du dich sehr. Es wird mir mit jedem Tage lieber.“
„Und wieviel Patienten hast du dir damit schon zugerichtet?“ forschte sie neckend. „Aber natürlich, das wirst du mir gerade verraten. Da werde ich einmal anderswo nachfragen. Wieviel Opfer hat er mit seinem Auto schon auf dem Gewissen, Aspasia?“
Fräulein von Lodeneck war sehr verlegen bei dieser Frage. „Ich kann darüber, Gott sei Dank, keine Auskunft geben!“ sagte sie endlich. „Na, das läßt tief blicken!“ meinte Hedwig spottend, während der Schaffner zum Einsteigen mahnte. „Ich komme auf der Rückreise noch darauf zu sprechen. Bis dahin halte doch bitte einmal Umfrage. Adieu, Aspasia! Vielen Dank dafür, dass du gekommen bist. Lebewohl, Heinz! Gute Besserung! Und fröhliche Weihnachten euch beiden!“

Damit schüttelte sie jedem die Hand und schwang sich dann elastisch zu ihrem Kupee hinauf. Der Schaffner schloss die Türe. Die Lokomotive tat einen kurzen Pfiff und einen langen Seufzer, und mit behaglichem Tempo fuhr der Zug aus der Bahnhofshalle hinaus in den flimmernden Flockentanz hinein.

Die beiden Zurückbleibenden wehten noch eine halbe Minute mit den Taschentüchern, bis eine Schienenkrümmung den Wagen ihren Blicken entzog; dann schritten sie langsam, von demselben Gefühl törichter Verlegenheit beschlichen, dem Ausgang des Bahnhofs zu, ohne ein Wort miteinander zu sprechen.

Draußen, wo der Weg sich teilte, zögerte der Arzt einen Augenblick, während Fräulein von Lodeneck am liebsten sich schnell entfernt hätte, um das stumme Nebeneinandergehen zu enden. „Wollen Sie mir gestatten, Sie heimzubegleiten, mein gnädiges Fräulein? Wir haben doch nun einmal denselben Weg!“ sagte er, wie um Entschuldigung für seine Vermessenheit bittend. „Führt Sie Ihr Weg denn auch jetzt heim?“ erkundigte sie sich.
Er bejahte und blieb nunmehr an ihrer Seite. Sie sagten vorhin so eigentümlich ,Gott sei Dank‘, als Sie über mein Automobilopfer Auskunft geben sollten!“ begann er lächelnd und musterte dabei heimlich ihr entzückendes Profil mit dem feinen, geraden Näschen und der kurzen Oberlippe darunter. „Wie war das eigentlich gemeint?“„Nun, das war doch kaum misszuverstehn!“ entgegnete sie mit leisem Spott. „Ich war froh darüber, von all Ihren Unglücksfällen so wenig wie möglich erfahren zu haben. Man spricht bei uns gern über angenehmere Dinge!“„Glauben Sie denn wirklich, dass ich schon so viel Unheil mit dem bösen ,Drachen‘ angerichtet habe?“ fragte er schalkhaft.

Sie fuhr betroffen mit dem Kopf herum. Das Wort „Drachen“ stammte doch aus dem Wortschatz der Sponnageln, die es in den Kreis der Lodeneckschen Familie getragen hatte. War ihm das hinterbracht worden? Oder hatte es ihm nur ein Zufall auf die Zunge gelegt?
Doktor Burmeister war über die Wirkung des ihm von dem kleinen Rolf kolportierten Automobil-Beinamens heimlich amüsiert. Aber erzeigte sein harmlos-ernsthaftestes Gesicht, um seinen kleinen Freund ja nicht verraten zu müssen, als sie sich jetzt, ein wenig stockend, zu orientieren suchte: „Drachen? — Meinen Sie damit Ihr Automobil?“ „Was denn sonst?“ entgegnete er ohne alle Verlegenheit. „Die ganze Stadt nennt es doch so! Weshalb soll ich mich ausschließen?“

„Wir auch!“ sagte sie darauf kampflustig. „Wir gehören nämlich auch zu den Philistern, die die Automobile nicht leiden mögen!“

„O — das bedaure ich aber sehr! Sie sollten nur einmal probieren, wie wundervoll es sich in solch einem flinken, gut gepolsterten Drachen fährt!“ „Ich danke!“ entgegnete sie abweisend. „Ich habe an dem Duft genug und an dem nervenzerreißenden Tuten! Meine Mutter ist schon ganz krank davon geworden!“ „Von den paar Warnsignalen?“ fragte er ironisch. „Sie gehen einem nervösen Menschen, der immer an Kopfweh leidet, durch Mark und Bein!“ erklärte sie feindselig. „Gerade der Ruhe wegen sind wir damals in die Himmeltorstraße gezogen, und nun —“ Sie vollendete den Satz nicht.
„Ja, wenn ich das Haus nicht gekauft hätte, könnte ich ja ausziehen!“ sagte er allen Ernstes. Doch sie vermutete seinen Spott dahinter und versetzte herb: „Seien Sie unbesorgt! Wir räumen Ihnen das Feld! Mama kündigt zu Neujahr!“ „Meinetwegen?“ entfuhr es ihm bestürzt.

„Ihrer Nerven wegen!“ bemerkte sie, und da sie just an einem Geschäft angelangt waren, in dem sie mitunter Einkäufe zu machen pflegte, so benützte sie die Gelegenheit, sich von ihm zu verabschieden.
Ziemlich verärgert lüftete er den Hut auf ihren reservierten Abschiedsgruß und schritt allein weiter durch den sich leise verdichtenden, schönen weißen Dezemberschnee.

Als er an die Himmeltorstraße kam, leuchteten ihm die Stufen und Schneckenornamente der alten Barockgiebel alle mit kleinen Schnee- Häubchen geschmückt entgegen, als hätten sie die Absicht, seine Blicke auf sich zu ziehen, und ihm das Stillose seiner Automobilwirtschaft in dieser altväterischen Straße einmal ernsthaft zu Gemüte zu führen. Es war wirklich ein bisschen schmal und hoch hier, so dass sich der Schall des Warnsignals wohl ärger als in den breiten Straßen des neuen Viertels verfing! Aber er konnte doch nicht wie ein Bärenführer vor seinem Automobil herlaufen, um den Weg frei zu machen! Signale waren einmal nicht zu umgehen! —

Wenn er noch einen Hinterausgang gehabt hätte! Doch nach der andern Seite zu stand eine hohe Gartenmauer mit einer schmalen, niedrigen Notpforte! Aber konnte er die denn nicht einfach erweitern lassen, um eine Fahrbahn nach der kaum bewohnten Wiesenstraße zu gewinnen? Daß ihm das nicht schon längst eingefallen war! Die Ausfahrt würde ja zehnmal angenehmer und bequemer für ihn! Und in der Himmeltorstraße brauchte er sich nicht mehr als Ruhestörer betrachten und — verachten zu lassen!
Die herbe Zurückhaltung Fräulein Aspasias hatte ihm doch recht wehe getan! Er hatte ihr nicht einmal mitteilen können, dass er tatsächlich auch noch nicht den geringsten Unglücksfall mit seinem Auto herbeigeführt hatte! Wie eine beleidigte Prinzessin war sie von ihm gegangen und nährte nun in ihren Vorstellungen die Ansicht weiter, dass er als Automobilist so etwas wie ein gewissenloser Massenmörder sei!

Das konnte er unmöglich auf sich sitzen lassen! Und ohne sein Haus betreten zu haben, kehrte er um und fragte nach dem nächsten Maurermeister des Ortes.
„Nun, Spätzchen,“ sagte die kleine Frau Major, als ihre Tochter vom Bahnhof zurückkehrte, „Wie hast du deine Freundin gefunden?“
„Forsch und lustig wie immer! Sie verlobt sich übermorgen!“ berichtete Aspasia. „Und war doch wohl noch ein halbes Jahr jünger als du!“ „Was ist denn dabei?“ „Frag‘ nicht so! Du weißt ganz gut, dass es Zeit ist für dich, einen Mann zu bekommen!“
„Aber, Mütterchen!“ sagte sie leise und warf einen Blick zu Rolf hinüber, der am Tische saß und eifrig auf einem Briefbogen herumkritzelte.
„Rolf ist sehr beschäftigt!“ flüsterte die Frau Major. „Er schreibt seinen Wunschzettel für das Christkind!“ „Das bringt alles der Schnee zustande!“ sagte lächelnd das junge Mädchen. „Mir ist auch schon etwas Weihnachtliches eingefallen. Wir müssen ein neues Bänkchen für den Tannenbaum kaufen. Unser altes hat nur noch drei Füße!“ Damit ging sie in ihr Zimmer hinüber, um sich umzuziehen.

„So!“ sagte Rolf ausatmend, als sie hinaus war. „Meins habe ich alles drauf! Was soll es nun dir bringen, Mutti?“ „Mir? Ach Gott, Rolf, einen recht artigen Jungen, der Ostern versetzt wird! Sonst nichts!“ antwortete freundlich lächelnd die blasse Frau. „Den hast du doch schon!“ bemerkte er etwas unsicher und betrachtete die erstaunlich großen Tintenspuren an seinen Fingerchen. „Na, na!“ drohte sie schelmisch.

„Aber, Mutti,“ klagte er vorwurfsvoll, „Mache ich nicht alle Tage meine Schularbeiten? Und lese ich dir nicht die Zeitung vor? Und vertrage ich mich nicht viel besser als früher mit Spatz und mit der Sponnageln?“ „Das tust du allerdings, Rolf!“ sagte sie begütigend. „Dann mußt du dir also was andres wünschen!“ „Schön, so wünsche ich mir einen Hyazinthentopf!“
„Hyazinthentopf?“ murmelte er nachdenklich und dehnte das Wort, so lang er konnte. „Hyazinthentopf? Ach, Mutti, wünsch‘ dir noch was anderes,“ forderte er dann treuherzig, „Hyazinthentopf kann ich nicht schreiben!“
Die blasse Frau fuhr aus einem leichten Grübeln ans. Die Nachricht von der Verlobung der Freundin Aspasias hatte alte Sorgen in ihr wach gemacht. „Was andres?“ sagte sie versonnen. „So wünsch‘ ich mir einen Schatz für den Spatz“
„Einen Schatz für den Spatz?“ wiederholte er, den Wunsch zu ergründen suchend. „Ach, ich weiß schon!“ rief er plötzlich, den „Schatz“ in seiner materiellsten Bedeutung erfassend, „das sind goldene Ringe und Ketten und Edelsteine, wie sie die Räuber in ,Tausendundeine Nacht‘ zusammengeschleppt haben! Sag‘ mal, Mutti, wird das dem Christkind auch nicht ein bißchen zu – zu teuer werden?“
„Wenn du für dich selbst nicht zuviel verlangt hast, Rolf? Was soll es dir denn bringen?“

Rolf bekam einen allerliebsten Glutkopf und beugte sich tief ans seinen Briefbogen hinunter. „Das sag‘ ich nicht vorher, Mutti!“ erklärte er dann bestimmt. „Wenn’s das Christkind wirklich bringt, wirst du es schon sehen.“ Lächelnd ließ sie ihn gewähren. Wenn er heute Abend schlafen gegangen war, würde sie mit Aspasia schon Einblick in den so mühsam zustande gekommenen Wunschzettel nehmen. Und belustigt schaute sie ihm nach, als er mit dem endlich fertig gewordenen Brief, in einem gewissenhaft adressierten Kuvert: „An das liebe Christkind im Himmel!“ das Zimmer verließ. Indessen suchte sie mit ihrer Tochter am Abend vergeblich alle Schubladen, Fensterbretter und Türspalten ab. Auch in seiner Schulmappe war der Brief nicht zu finden. Er hatte offenbar eine neue Beförderungsmethode ausfindig gemacht, die ihnen verborgen blieb.

Als ein paar Tage später der Briefträger einen Brief Aspasias an eine im Süden weilende Verwandte als „unbestellbar“ zurückbrachte, stand Rolf sehr interessiert dabei und erschöpfte sich in allerlei forschenden Fragen. „Warum bekommst du den Brief an Tante Marietta wieder?“ erkundigte er sich. „Weil die Post sie nicht hat finden können!“ „Bekommt man alle Briefe wieder, wenn der Briefträger nicht hinfindet?“„Gewiß, Rolf!“ „Dauert das lange?“ „Je nachdem. Vielleicht eine Woche!“ Er nickte befriedigt und achtete von dem Tage ab gespannt auf den Briefboten. Aber es kam kein weiterer Brief als „unbestellbar“ ins Haus zurück, was ihn mit heimlicher Freude erfüllte. Er hatte seinen Brief an das Christkind nämlich dem großen blauen Briefkasten am letzten Hause der Himmeltorstraße anvertraut. Und die Post schien den Adressaten in diesem Falle ja glücklicherweise gefunden zu haben.

Am abendlichen Stammtisch des Doktor Burmeister hatte an jenem ersten, schneedurchwirbelten Wintertage der Postdirektor Scheffer schmunzelnd in die Tasche gegriffen und einen Brief hervorgeholt, als der Doktor, sich die Flocken vom Paletot schüttelnd, sich gesetzt hatte.
„Ich habe einen Liebhaber für Ihr Automobil gefunden, lieber Doktor!“ sagte er und hielt ihm das Kuvert hin. „Wenn Sie wollen, können Sie es billig loswerden!“ Burmeister halte verwundert ausgeschaut. „Lesen Sie nur!“ hatte der andre ihm vergnügt zugeblinzelt und war dann tief in seinen Deckelkrug mit dem Posthornhenkel gestiegen. Gespannt hatte der Doktor einen mit großen, ungelenken Buchstaben bemalten Bogen aus dem Kuvert genommen und den Inhalt entziffert. Eine gläubige Kinderseele hatte da geschrieben:

„Liebes Christkind!

Ich wünsche mir zweierlei. Bring mir doch ein Automobil – so eins wie Doktor Burmeister hat. Bloß nicht so groß. Und ein Eichhörnchen mit einer Trommel. Aber ein rotes. Und für Spatz einen Schatz. Bitte, bitte!

Dein Rolf

Der Doktor hatte lächeln müssen und ganz glänzende Augen bekommen. „Ist das nicht ein drolliges Briefchen?“ hatte der Postdirektor gefragt und sich den Bierschaum aus dem großen Schnurrbart gewischt. „Wir haben’s heute in einem der Stadtbriefkästen gefunden und viel Spaß daran gehabt. Schade, dass man den kleinen Kerl von Absender nicht kennt!“ „Sehr schade!“ war Burmeisters nachdenkliche Antwort gewesen, obgleich er sofort gewusst hatte, wer allein der Briefschreiber sein konnte. „Darf ich den Brief behalten?“ hatte er gebeten.
„Dem Reglement nach müsste er eigentlich vernichtet werden: Aber ich denke, man darf in diesem Falle einmal eine Ausnahme machen!“ Und Heinz Burmeister legte die Weihnachtswünsche seines kleinen Freundes sorglich in seine Brieftasche, den Kopf schon mit allerhand schalkhaften Plänen voll. Draußen in einem der Walddörfer wusste er einen Forstmann, der Rolfs zweiten Wunsch leicht erfüllen konnte. Und für den ersten gab es Spielwarenläden genug in Hardenberg. Für den „Spatz“ freilich — hm! — das war eine Sache, die reifliches Nachdenken erforderte! — Ob er imstande war, diesen Wunsch so ohne weiteres zu erfüllen? — Wieder einmal hatten sich die süß-geheimnisvollen Schleier des heiligen Abends auf die deutsche Erde gesenkt. Es war ein herrlicher, frostklarer Wintertag mit verschneiten Dächern und langsam aufblinkenden Sternen. Noch im Dämmern flammten hier und dort schon die Lichter an den Tannenbäumchen auf, uralte Weihnachtslieder, aus seligen Kinderherzen quellend, klangen hinter lichtflimmernden Scheiben hervor. Bei Lodenecks feierte man auch schon in der Dämmerstunde. Die Vorhänge wurden früh zugezogen, um die ersehnte Dunkelheit um so schneller hereinzulocken. Der Christbaum war schon tags zuvor von Aspasia geschmückt worden. Bald war der Gabentisch hergerichtet. Die helle Tischklingel wurde laut, und verwirrt, erwartungsvoll betrat Rolf den strahlenden Raum.
Nicht ohne ein paar Entgleisungen stammelte er sein Dankgebet für das „leider eben hinausgehuschte Christkind“, küsste stürmisch sein Mütterchen sowie die große Schwester und schob sich dann mit knabenhafter Verlegenheit an die Tischecke hinüber, von der ihm die neue, blaue Schulmütze viel verheißend entgegenwinkte.
Da waren Bücher und Näschereien, neue Zinnsoldaten, aus den modernsten Völkerverwicklungen stammend; sogar eine richtige stählerne Uhr, die ihn mit unsagbarem Stolz erfüllte, tickte mitten zwischen den kleinen braunen und weißen Lebkuchen zu ihm auf und ließ lustig den Sekundenzeiger tanzen.
Das war wirklich eine große Überraschung, und sein ganzes Herz klopfte mit dem runden Kennzeichen der beginnenden Grossjährigkeit entzückt um die Wette. Und doch gingen die fröhlichen, blauen Augen verstohlen über den ganzen Tisch und die Stühle im Zimmer hin, ja einmal hob seine Hand sogar das lang überhängende Tischtuch ein wenig in die Höhe, und eine ganz leise, schnell überwundene Enttäuschung huschte über sein strahlendes Knabengesicht. Aber er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als ein Wort von dem verraten, was ihm die Gedanken bewegte.
Seine Geschenke waren ja überreich, und ehrlichen Herzens stattete er seinen Dank bei Mutter und Schwester noch einmal ab.

Wie aber sein Blick auf die Herrlichkeiten fiel, die auf „Spätzchens“ Seite lagen, glitt doch ein verräterischer Ausruf freudigen Erstaunens von seinen Lippen. Mütterchen hatte aus ihrem Schmuckkasten nämlich etliches für ihr Töchterchen geopfert. Da lag eine lange, wundervoll glitzernde Halskette neben einem Armband aus goldenen Kleeblättern mit funkelnden Tautropfen darauf. Und eine Brosche, die das gleiche Muster zeigte, war von ihm umschlossen. „Das ist der Schatz! Das ist wirklich der Schatz!“ sprudelte er begeistert hervor. „Den Wunsch für dich hat das Christkind erfüllt! Sieh doch, Mutti, der Schatz für Spatz!“
Frau von Lodeneck lächelte und sah ihre Tochter an, die diesen Enthusiasmus Rolfs nicht verstehen konnte.

„Ein Schatz für dich stand nämlich auf seinem Wunschzettel!“ antwortete die Mutter etwas befangen. „Ein Schatz für mich?“ fragte Aspasia und wurde rot. „Aber Mütterchen!“ „Und es hat ihn gebracht!“ konstatierte Rolf aufgeregt. „Also hat das Christkind meinen Brief doch erhalten!“ „Wo hattest du ihn denn hingelegt?“ forschte die Schwester unruhig. „In den Briefkasten habe ich ihn gesteckt!“ erklärte er stolz. „Mit einer richtigen Zehnpfennigmarke!“ „Und sind denn auch deine Wünsche alle von ihm erfüllt worden?“
„Nein,“ gestand er zögernd zu. „Aber es hat mich doch sehr, sehr reich bedacht!“ „Was hattest du denn für dich vom Christkind erbeten?“

Mit den Worten: „Das sag‘ ich dir ein andermal, Spatz!“ entschlüpfte er der Frage, ein wenig beschämt. Da tönte die Flurklingel draußen. Alle drei horchten auf. Dann schlürfte die Sponnageln, die sich grundsätzlich von der ersten halben Stunde der Weihnachtsfreude bei Majors fernhielt, an die Korridortüre und führte mit irgend jemand ein kurzes Gespräch. Gleich danach erschien sie im Türrahmen, ein ziemlich umfangreiches Paket in der Hand, in dem es verdächtig knackte und knisterte.
„Einen schönen Gruß vom Christkind!“ sagte sie und stellte das geheimnisvolle Etwas mitten in die Stube. „Wer hat es denn gebracht?“ fragte die Frau Major erstaunt. „Ein junger Mensch!“ brummte die Sponnageln. „Gekannt Hab‘ ich ihn auch nicht!“

Und hinaus war sie wieder. Denn der Weihnachtskarpfen war schon auf dem Feuer. „Das muß ein Irrtum sein!“ sagte Aspasia und fühlte doch dabei ein wunderliches Herzklopfen. Nur Rolf halte ein sieghaftes Vertrauen zu dieser plötzlich hereingeschneiten Spende und schob das umhüllende Papier an der einen Ecke neugierig auseinander.
„Hurra!“ schrie er dann und tanzte um das Paket herum wie ein Wilder um das Opfcrfeuer. „Das ist mein Eichhörnchen! Ich habe es mir bestellt beim Christkind!“ Und dann ließ er sich nicht mehr halten. Eifrig entfernte er die Hüllen, bis die große, hölzerne Stabtrommel zum Vorschein kam, in der das rotschimmernde, muntere Ding mit dem buschigen Schwanz und den zipfligen Ohren herumsprang und seine kleinen listigen Augen dazu funkeln ließ.

„Das ist ja eine schöne Bescherung!“ jammerte die Majorin, die im Geiste schon all den Unfug vor sich aufsteigen sah, der dieser Familienzuwachs anrichten würde. Aspasia aber bückte sich nach einem Briefchen, das beim Auspacken zu Boden gefallen war, und öffnete es.
Da stand von einer offenbar verstellten Männerhand geschrieben:
„Lieber Rolf!
Ich habe Deinen Brief durch die Post erhalten, und da Du ein so braver Junge bist, will ich Dir auch Deine Wünsche erfüllen. Für das Eichhörnchen lege ich Dir zugleich Futter bei. Wenn Du willst, kannst Du die Haselnüsse mit ihm teilen. Das Automobil war nicht größer zu haben im Himmel. Die Engel sind alle Angsthasen und wollen nicht darin fahren. Vielleicht bekommst du später ein größeres. Der Schatz für den ,Spatz‘ ist aus Honigkuchenteig. Ich weiß nicht, ob sie einen anderen mag. Grüße Dein liebes Mütterchen und Deine große Schwester

vom Christkind.“

Der „Spatz“ war bei der Lektüre anfänglich sehr belustigt gewesen, aber plötzlich erschien das schöne Gesicht wie in Glut getaucht. Wer hatte sich unterstanden, einen solch albernen Scherz mit ihr zu treiben?
Rolf hatte unterdessen das Automobil entdeckt, ein kleines Blechspielzeug mit einem Schlüsselchen zum Aufziehen daran, das er sogleich eifrig in Bewegung zu setzen versuchte. Knarrend drang der Schall des Schlüssels durch den stillen Frieden der Weihnachtsstube, und surrend fing gleich danach das kleine Gefährt an, davonzurollen, beschrieb einen großen Bogen und verschwand dann eilig unter den: Sofa.
In dem Moment erschien die Sponnageln in der Tür.„Ach, du meine Güte! Da haben wir ja glücklich auch so’n Ding!“ „Ja, aber nur ein ganz kleines,“ sagte Mama Lodeneck lächelnd. „Mit kleinen fängt man an,“ orakelte Frau Sponnagel misstrauisch.
„Von wem es nur sein mag?“ tuschelte die Majorin. „Ich habe keine Idee! Wo hast du denn das Brieschen, Spatz?“ Das Briefchen?“ erwiderte sie befangen. „Ich weiß nicht — ich habe es — viel stand ja nicht darin, Mutti!“ Unterdessen brachte Rolf ein ziemlich umfangreiches Gebäck aus braunem Teig angeschleppt, das er noch im Paket gefunden hatte.
„Sieh‘ mal, Mutti, einen Honigkuchenmann habe ich auch noch bekommen!“ rühmte er. Mama Lodeneck betrachtete ihn lächelnd und warf dann einen vielsagenden Blick zu ihrem Töchterchen hinüber, das sich, noch immer etwas verlegen, bemühte, das Automobilchen wieder zum Vorschein zu bringen. „Ich glaube, Rolf, der schöne Honigkuchenmann ist gar nicht für dich!“ sagte sie. Aber da fuhr Spatz schon erregt vom Teppich empor. „Für wen sonst?“ rief sie mit zornigen Augen. „Gewiß gehört er dir, Rolf! Aber sag‘ doch einmal, wie bist du eigentlich auf den merkwürdigen Wunsch nach einem Automobil gekommen?“

Er sah stolz zu ihr hinunter. „Dem Automobil gehört die Zukunft!“ jagte er dann schlagfertig. „Wer sagt denn das?“ erkundigte sich Mamachen entsetzt. „Der Chauffeur von Doktor Burmeister!“ entfuhr es ihm stolz, aber unvorsichtig. Und eilig kehrte er zu seinem Eichhörnchen zurück, um das Gespräch über die Quellen seiner Automobil-Weisheit nicht fortsetzen zu müssen. Aber Spätzchen ließ nicht locker. Der Brief des rätselhaften Christkindes, den ihre Kleidertasche barg, hatte tausend Gedanken in ihr wachgerufen. „Also daher stammt deine plötzliche Liebe für das Automobil!“ sagte sie, ihm folgend. „Aber woher kennst du denn den Menschen überhaupt? Hatte dir Mutti nicht verboten —“ „Ich kenne ihn eben!“ unterbrach er sie beinahe trotzig und bastelte errötend an dem Trommelgitterchen des kleinen Käfigs.

„Rolf, ich vermute —“ sagte Spätzchen verweisend und beugte sich zu ihm herunter, um ihm besser in die Augen sehen zu können. Doch kam sie vorläufig nicht dazu, sich über den Inhalt ihrer Vermutungen näher zu äußern. Denn Rolf hatte im gleichen Augenblicke durch eine unbewusste Fingerbewegung einen unerwarteten Bundesgenossen erhalten, der seiner Schwester in des Wortes verwegenster Bedeutung schlank über den Mund fuhr und zwar mit seiner weichen, buschigen Rute. Das Eichhörnchen hatte den unvorsichtig geöffneten Ausschlupf gefunden und sauste nun wie ein sturmgetriebenes, rotes Wölkchen zwischen den Geschwistern fort, im Zimmer umher.

Spatz hatte entsetzt aufgeschrien-, Mama Lodeneck und die Sponnageln schlossen sich an. Nur Rolf bewahrte seine Fassung. Er war nicht unfroh darüber, aus solche Weise dem heiklen Frage- und Antwortspiel entkommen zu sein. Nun aber begann eine tolle Jagd, an der sich alle vier mit Lachen und Schelten, Locken und Scheuchen beteiligten, bis das scheue Tierchen mit einem flotten Satz auf den Weihnachtstisch und in den Christbaum huschte, offenbar erfreut über die wundervollen, vergoldeten Nüsse, die an allen Zweigen gewachsen waren. Leider fand es auch hier nicht die Wonne eines ungestörten Daseins. Die Lichter wurden ausgeblasen. Misstrauisch turnte es von Ast zu Ast, bis es auf einem der am weitesten ausladenden Zweige anlangte und das Bäumchen dabei zu bedenklichem Schwanken brachte.

„O Gott, die Tanne fällt!“ ries erschrocken Mamachen. Da griff Aspasia beherzt ins Gezweig, ohne sich um die paar Kerzen zu kümmern, die noch brannten und gierig zu ihrem Arm hinaufleckten, und mit einem kräftigen Ruck gelang es ihr, im entscheidenden Augenblick die bedrohte Balance wiederherzustellen.

Als sie die Hand zurückzog, tropfte das rote Blut von ihren Fingern. Das scharfe Blech eines der bunten Lichthalter hatte ihr tief den Zeigefinger geritzt und die Flamme des Christbaumlichts empfindlich ihren Arm verbrannt.

„Du blutest ja!“ rief Rolf erschrocken.

„Kinder, welch ein Unglück!“ stöhnte Mamachen. „Sponnageln, holen Sie einen Arzt!“

„Es hat ja nichts zu bedeuten!“ beruhigte sie die Tochter. Aber sie blieb bei ihrem Verlangen. An dem farbigen Blech könne irgendein Giftstoff hasten, der die Wunde gefährlich mache.

„Wen soll ich denn holen?“ fragte die Sponnageln. „Der drüben ist verreist seit ein paar Tagen!“ „Ist ja nicht wahr, Multi!“ erklärte Rolf bestimmt und machte sich flink selbst auf den Weg. „Auf keinen Fall holst du Doktor Burmeisterl“ rief die Schwester ihm, von einer seltsamen Scheu ergriffen, nach. Aber Rolf kümmerte sich nicht um diesen Zuruf. „Warum nicht?“ fragte Frau von Lodeneck verwundert. „Er soll als Arzt doch sehr tüchtig sein!“ „Aber ich — ich — mag ihn nicht!“
„Er ist ja gar nicht da!“ beruhigte sie die Sponnagel. „Seit drei Tagen schon habe ich kein Tuten mehr gehört. Er muß verreist sein!“

Er war aber doch da! — Einsam saß er in seinem halbdunklen Arbeitszimmer und dachte an vergangene und künftige Weihnachtsabende. Und dabei spazierten seine Gedanken alsbald ganz von selbst zu Lodenecks hinüber, bei denen er fürs Leben gern Zeuge gewesen wäre, wie man sein Christkindpaket aufgenommen. Ob sie wohl sehr böse gewesen war, die schöne, stolze Aspasia, über seinen Scherz mit dem Honigkuchenschatz? Und gerade nun erschien Rolf auf der Bildfläche und bat ihn fliegenden Atems, herüberzukommen.

„Du revanchierst dich schnell als Christkind!“ dachte er lächelnd und strich dem Knaben liebkosend über das glühende Gesichtchen. Ein lieberer Ruf hätte ihn wahrlich nicht treffen können an diesem Abend, so kläglich schwach seine Beziehungen zu dem geliebten Mädchen vorläufig auch noch waren. Ein paar Minuten später schon hantierte er mit Wasser, Wundwatte und Heftpflaster, kühlte die Brandwunde mit einem guten Mittel aus seiner Hausapotheke und erklärte der Frau Major, dass durchaus nichts mehr zu befürchten sei. „Wie gut, dass Sie doch nicht verreist waren!“ sagte sie mit einem halben Lächeln, in dem noch immer die Abneigung gegen den „Drachenzüchter“ mit der Dankbarkeit für den so schnell erschienenen Nothelfer kämpfte. „Wie kamen Sie auf die Vermutung, gnädige Frau?“ „Wir hatten Ihr Automobil schon seit drei Tagen nicht mehr gehört!“ erklärte sie. „Das werden Sie auch künftig hier nicht mehr hören!“ entgegnete er mit einem flüchtigen Blick auf Aspasia. „Sie haben es verkauft?“ forschte Mamachen gespannt.

„Nein. Aber ich habe mir eine Ausfahrt nach der Wiesenstraße bauen lassen, damit die alte Ruhe der Himmeltorstraße erhalten bleibt!“ „Das finde ich ja ganz entzückend von Ihnen! — Hast du es gehört, Aspasia?“ rief die Frau Major erfreut. „Gewiß!“ sagte Spätzchen, ein wenig aus der Fassung gebracht. „Und ich danke Ihnen auch herzlich dafür, Herr Doktor!“ „Hoffentlich denken Sie nun nicht mehr daran, zu kündigen?“

„Nein,“ erklärte Mamachen, „Die Sorge wären wir los! Wenn wir nur erst die andre wieder vom Halse hätten!“ „Welche denn, gnädige Frau?“ erkundigte sich Burmeister, der wohl oder übel das Feld wieder räumen musste, obgleich er noch gar zu gern ein Weilchen geblieben wäre.
„Ich meine das schreckliche rote Ding, das uns irgendein unverständiger Mensch heute für Rolf ins Haus geschickt hat!“ Er lachte belustigt auf.
„So ein Tierchen ist doch eigentlich sehr possierlich!“ meinte er. „Zumal, wenn es solche Streiche macht!“ klagte die Majorin. „Wie sollen wir es überhaupt wieder in den kleinen Käfig kriegen?“„Oh, nichts leichter als das!“ behauptete er und griff nach der Trommel. „Komm, Hänschen, komm!“ lockte er alsdann und ließ ein paar leise Pfeiflaute dazu vernehmen. Und siehe da, der Rotschwanz lugte erst vorsichtig aus dem Gezweig hervor und sprang dann, zahm wie ein Kätzchen, in sein hölzernes Häuschen hinein, das ihm Burmeister vorgehalten halte.

„Sie sind ja der reine Hexenmeister!“ wunderte sich Mamachen, während ein forschender Blick Spätzchens auf seinem Gesicht hastete. Unter diesem Blick wurde er rot. Und diese Röte war ihr wie ein Geständnis. „Rolf hat sich sehr gefreut über die Erfüllung seiner Wünsche!“ sagte sie leise. „Sie können es dem Christkind bestellen!“ „Und Sie, gnädiges Fräulein? Sie sind ihm doch nicht böse wegen des kleinen Scherzes?“ bat er.

„Wenigstens nicht mehr!“ sagte sie mit einem reizenden Lächeln, das ihm wie ein erstes fernes Dämmern der Sonne seines jungen Glücks erschien. „Gehen Sie nicht auch noch zu einer Feier heute, Herr Doktor?“ erkundigte sich in diesem Moment die Mama. „Nein, gnädige Frau!“ entgegnete er ernst. „Wie wär’s denn,“ sagte sie zögernd und sah dabei fragend zu ihrer Tochter hinüber, „wenn wir den Herrn Doktor zum Dank einladen möchten, den Weihnachtskarpfen mit uns zu teilen?“ „Oh, ich bitte sehr, gnädige Frau —“ stotterte er, verlegen abwehrend. Und es war ihm doch nichts lieber, als bleiben zu dürfen. „Ich weiß nicht, Mama —“ jagte Aspasia errötend.

„Es ist in der Tat nur ein einfaches Mahl!“ erklärte die Hausfrau daraus, ein wenig in Verwunderung geratend. Aber er wollte! Das heißt, ‚wenn er wirklich nicht stören würde! — Sonst —! Nein, er störe durchaus nicht! — Im Gegenteil!
Und so blieb er. Wenn es auch an diesem in der Folge noch sehr fröhlichen Weihnachtsabende zu keinen Erklärungen zwischen den beiden füreinander geschaffenen, prächtigen Menschenkindern kam, so zeigten sich doch allerhand heimliche, das aufmerksame Mutterauge beglückende Anzeichen, die diesen Tag denn auch wirklich für später zu einem Merktage des Lebens für den „Spatz“ und „seinen Schatz“ werden ließen.
Frau Sponnagel war „einfach platt“, wie sie verschiedentlich nachher versicherte. Aber „noch platter“ wurde sie, als die Frau Major das erste Mal in des Doktors oft verwünschten „Drachen“ kletterte und nicht nur heil und unversehrt wieder nach Hause kam, sondern auch vergnügt dazu erklärte: „Gott sei Dank, dass es ein Viersitzer ist!“
Ihre Nerven können die Warnungssignale des Autos seitdem ohne Zucken vertragen.

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