Ein Ausflug auf einen alten Friedhof und ein paar Worte zum Totensonntag
Vorwort
November ist der Monat, der Toten zu gedenken. So gibt es staatliche und kirchliche Feiertage – den Volkstrauertag für die Kriegsopfer und den Totensonntag im evangelischen Kirchenkalender.
Zur Bürgerleben-Zeit war der Tod aber noch viel gegenwärtiger im Leben. Warum?
Die Kindersterblichkeit war viel höher. In vielen Familien, nicht nur in ganz armen, starben ein oder sogar mehrere Kinder in sehr jungem Alter, manchmal auch die Mütter nach der Geburt. Es starben mehr Leute an Krankheiten: Die Ursache vieler Erkrankungen war noch nicht bekannt, bekannte Krankheiten konnten noch nicht behandelt werden und die Behandlung war auch eine Geldfrage. Die schon existente Krankenversicherung deckte nur das Allernotwendigste ab. Und die Leute starben früher als heute, wenige erreichten ein „greises“ Alter von mehr als 70 Jahren (erst ab diesem Alter gab es übrigens Rente) und noch weniger wurden noch älter. Viel mehr als heute hatten ihr Leben lang körperlich hart gearbeitet.
Insbesondere in den Romanen und Erzählungen dieser Zeit fällt mir auf, dass viel öfter vom Tod die Rede ist und er in der Handlung als selbstverständliches Element vorkommt.
Heute verdrängen wir den Tod gerne, obwohl er wie damals zum Leben gehört – als Ende des Lebenskreislaufs. Im Vergleich zu damals sind wir hier heute privilegiert, nicht nur was die medizinische Versorgung angeht, sondern auch die allgemeine Lebenserwartung. Das Leben ist körperlich leichter geworden – wenn auch in anderen Beziehungen nicht unbedingt unkomplizierter.
Den anschließenden Bericht hatte ich eigentlich für das Thema Sommerfrische geplant. Aber irgendwie passte er thematisch nicht so richtig. Friedhof und Sommerfrische? Hmm… Nun also zum diesjährigen Totensonntag als Anlaß:
Wenn Liebe könnte Wunder tun – alte Inschriften auf dem Friedhof Rejstein
Wenn Liebe könnte Wunder tun
und Tränen Tote wecken
dann würde ich jetzt nicht so hier
die kalte Erde decken.
(Inschrift eines Kindergrabes)
Der Grabstein mit diesem Spruch war mir zusammen mit dem alten romantischen Friedhof von einer Urlaubswanderung in meiner Kindheit in Erinnerung geblieben. An den Ortsnamen Rejstein, früher Unterreichenstein, konnte ich mich noch erinnern. Bei einer Stippvisite im Böhmerwald auf dem Weg nach Prag besuchte ihn ich wieder, dieses Mal mit meiner Familie. Rejstein war noch ähnlich verschlafen. Die meist alten Häuser hatten inzwischen leuchtendere Farben, die aber teilweise schon wieder abblätterten. Aber ich mag diesen verblassenden Charme. Auf einem Schild stand, dass sich Rejstein seit 2007 wieder als Stadt bezeichnen darf. Der Ort hat ca. 300 Einwohner, drei Pensionen und liegt immer noch zwischen zwei den zwei idyllisch plätschernden Flüssen Otava und Losnitz
Natürlich besuchten wir den alten Friedhof hinter der Kirche. Ob ich den Grabstein wiederfinden würde, wenn es ihn noch gab?
Friedhöfe sind Orte der Trauer, Ruhe und Besinnlichkeit. Gleichzeitig faszinieren sie als Orte des Schauers und des Grusels. Und natürlich sind es auch Orte der Geschichte. Denken wir an Friedhöfe, auf denen berühmte Persönlichkeiten begraben liegen, z.B. Friedhof Ohlsdorf in Hamburg oder Friedhof Père Lachaise in Paris.
Aber auch die Gräber von einfachen Bürgern erzählen Geschichten – wie ging man damals mit dem Tod um, wie waren die Grabsteine gestaltet und was stand darauf? Verraten sie uns doch, was damals wichtig war beim Abschied von den Lieben als letzte Nachricht an sie und Botschaft an die noch lebenden Leser der Grabsteine. Obwohl als Orte der Ruhe im Gedächtnis verankert, unterliegen auch Friedhöfe der Fluktuation. Menschen sterben und ihre Angehörigen sorgen für die Gräber. Wenn diese sterben und es keine weiteren Nachkommen gibt, verwaisen die Gräber – dann werden die Grabsteine entsorgt und die Gräber entfernt. So gibt es auf den heutigen Friedhöfen wenige Gräber, die mehr als 50 Jahre alt sind. Nur Familiengräber existieren oft länger. Dort ist jedoch meist nur der Name der Familie oder der einzelnen Begrabenen mit Sterbedaten auf dem Grabstein vermerkt – für persönlichere Informationen zu einzelnen Toten ist kein Platz.
Zurück auf den Friedhof in Rejstein: Tatsächlich scheint dort die Zeit stehengeblieben zu sein. Auch wenn die alten Gräber oft nicht mehr gepflegt sind, Grabsteine bröckeln, Schmuck und Foto-Medaillons abgefallen neben oder auf den Gräbern liegen, Inschriften verblasst sind oder von Efeu fast zugewuchert – die Gräber stehen noch und erzählen von der Endlichkeit des Lebens und den dort Begrabenen. Und in ihrer Gesamtheit auch etwas von der Totenkultur jener Zeit: von der Jahrhundertwende an bis in die 30er/40er Jahre des 20. Jahrhunderts.
Unter den Einwohnern von Rejstein Anfang des 20. Jahrhunderts waren viele deutschsprachig, aus dem deutschen Reich und der Monarchie Österreich-Ungarn stammend, zu der das Dorf, im damaligen Kronland Böhmen gelegen, zu dieser Zeit auch gehörte. Das spiegelt sich auch auf den alten Gräbern mit deutschen Namen und Inschriften wieder.
Tatsächlich fand ich wieder eine Reihe von Gräbern mit einem gereimten persönlichen Gruß an den Verstorbenen:
Ruhe sanft,
in süssen Himmelsfrieden
denn dein irdisch
dasein ist vollbracht.
Viel zu früh bist du
von uns geschieden
o teurer Vater:
Viel tausend gute Nacht!
Dies steht auf dem Grab von Franz Keck, welcher 1914 mit 58 Jahren verstarb und so von seiner Tochter betrauert wurde, die ihm 1931 folgte und im gleichen Grab liegt.
Auf den Gräbern sind oder waren oft Medaillons mit den Porträts der Verstorbenen zu sehen und auch der Titel oder der Beruf werden hin- und wieder erwähnt, ob nun Werkmeister Rudolf Schwarz, gestorben 1928, oder „Spiegelfabriks und Glasschleiferei-Besitzer“ Alois Stelzl aus Wien, der 1907 schon im „31. Jahre“ starb. Auch sein Vater und weitere Nachkommen sind dort begraben.
Der Ort war übrigens für seine Glasfabrikation berühmt, die Firma Lötz gab es bis zum Ende des 2. Weltkriegs. Übrig davon ist noch die schöne Jugendstilvilla des Fabrikanten, die man sich von außen anschauen kann – sie ist jedoch bis heute noch bewohnt, wenn auch nicht mehr von der Fabrikantenfamilie. Auch sie hat übrigens ein Familiengrab auf dem Friedhof.
Nicht nur Grabsteine sind zu sehen, sondern auch etliche Kreuze aus Metall mit Inschriften – wie das Grab von Johann und Maria Hasenkopf, gestorben 1923 und 1928 – auf der weißen Plakette mit den Fotos des Elternpaares steht die Inschrift:
Ein liebes teures Elternherz ruht hier in diesem Grabe
Wir fühlen es mit tiefem Schmerz, was wir verloren haben,
Es war so sorgend und so gut,
Das hier in kühler Erde ruht.
Gerade die Holprigkeit mancher Verse und ihre Schreibweise rührt.
Und das Grab mit dem Spruch aus meiner Kindheit? Das habe ich nicht mehr gefunden, obwohl auf dem Friedhof noch einige ältere Kindergräber erhalten sind.
Man kann übrigens in der Gegend nicht nur idyllische Friedhöfe anschauen, sondern auch in der etwas wilden Mittelgebirgslandschaft wandern, in den benachbarten Ort Kasperke Hory fahren, den schönen Marktplatz dort anschauen und sich dann draußen in ein Lokal setzen, dass uns durch seinen leicht herben Hopfenduft neugierig machte und das dort gebraute Bier trinken. Oder Kaffee und dazu den leckeren Schoko-Malzkuchen probieren. Und noch vieles mehr unternehmen, zu dem wir leider keine mehr Zeit hatten…
Soweit der Reisebericht. Vielleicht ist ja dieser Sonntag wirklich mal wieder ein Anlass, auf einem Friedhof zu spazieren, um das Grab lieber oder geschätzter Verstorbenen zu besuchen. Oder einfach so die Ruhe dort zu genießen, die eine oder andere Inschrift zu lesen und ein bisschen über das Leben an sich oder das eigene im Besonderen zu sinnieren.
Und anschließend im hier und jetzt einen Kaffee trinken zu gehen. In diesem Sinne wünsche ich Euch einen besinnlichen Sonntag!
Herzlichst
Eure Grete
In diesem Artikel erfahrt Ihr etwas zu einem besonderen alten Brauch, der in verschiedenen Gegenden begangen wurde: „Leichenbretter – ein letzter Gruß an das Leben„.