Die Fälle des Dr. Stiebers – Mitteilenswertes aus der Geschichte der preußischen Kriminalpolizei
Hintergründe
Die folgende Artikelserie beschäftigt sich mit der Geschichte (und den Geschichten) der preußischen Kriminalpolizei in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Um die Fälle, die hier dem geneigten Publikum vorgelegt werden sollen, verstehen und einordnen zu können, sind folgende Informationen nützlich.
Die Berliner Polizei wurde im März 1809 gegründet. Auch heute noch trägt sie die offizielle Bezeichnung „Der Polizeipräsident von Berlin“. Zwei Jahre später entsteht die erste Kriminalpolizei mit sechs Beamten. Einen Aufschwung erfährt das Polizeipräsidium nach der Revolution von 1848. Mit etwa zweitausend Polizisten wird die – zunächst nach Londoner Vorbild sehr zivil uniformierte – Schutzpolizei aufgestellt und mit der Straßenaufsicht beauftragt. Kriminal-, Sitten-, Schifffahrts- und Marktpolizei sowie das öffentliche Fuhrwesen und das Einwohnermeldeamt folgen.
Ein Oberst der Schutzpolizei verdiente dabei 1.800 Taler im Jahr, ein Schutzmann kam auf 216 Taler. Ein Polizeibeamter war rechnerisch für 346 Einwohner zuständig, in anderen Ländern war das Verhältnis weitaus günstiger. Dennoch übernahm das Polizeipräsidium immer mehr Aufgaben und war schließlich für fast alles zuständig, wofür es nicht explizit eine andere Einrichtung gab. Auch die Feuerwehr wurde in das Präsidium eingegliedert. Die Kriminalpolizei wächst enorm: Seit 1852 gibt es in den sechsunddreißig Revieren Kriminalkommissare, denen besonders geeignete Schutzmänner unterstehen und sich mit der Überwachung verdächtiger Personen, von Landstreichern und vor allem den unzähligen Prostituierten beschäftigen.
Seit 1854 stehen dem Dirigenten Wilhelm Stieber zwei Hilfsdezernenten, ein Sekretär, zwei Kriminalinspektoren, ein Leicheninspektor, zwölf Kriminalkommissare und fünfzig Kriminalschutzleute zur Verfügung. Die Kriminalbeamten waren nur mit einem Stock bewaffnet, durften sich aber privat eine Schusswaffe zulegen. Und mit wem hatten sie es zu tun? Im Jahr 1846 beispielsweise waren in Berlin 350.000 Einwohner registriert. Davon waren zehntausend Prostituierte, ebenso viele Syphilitiker, achtzehntausend „Dienstmädchen“, zweitausend uneheliche Kinder, zwölftausend Verbrecher unter Polizeiaufsicht, ebenso viele Illegale ohne Aufenthaltserlaubnis, eintausend im Arbeitshaus Internierte, siebenhundert Gefangene in der Stadtvogtei, zweitausend Insassen im Zuchthaus, sechstausend Almosenempfänger, zwanzigtausend Weber in prekären Verhältnissen, viertausend Bettler, sechstausend Kranke in der Charité. Außerdem war die Polizei für die Versorgung von zweitausend Armenkinder zuständig.
Die Geschichte der Polizei im allgemeinen und die der Kriminalpolizei im besonderen ist zu dieser Zeit untrennbar mit zwei Namen verbunden: dem Polizeipräsidenten Karl Ludwig Friedrich Hinckeldey und dem Polizeiassessor und Chef der Kriminalpolizei Wilhelm Johann Carl Eduard Stieber.
Von Hinckeldey (1. September 1805 in Sinnershausen, bis 10. März 1856 in Charlottenburg) war unter König Friedrich Wilhelm IV. seit 1848 Generalpolizeidirektor von Berlin. Er studierte Jura in Göttingen und Berlin und schlug die normale Beamtenlaufbahn ein. Mit seinem Amtsantritt in Berlin erwarb er sich große Verdienste: Einrichtung des Einwohnermeldeamts, Aufstellung der Berufsfeuerwehr (1851), Bau der Bewässerung (ab 1852), Einrichtung von Volksküchen, Gesindeherbergen, Bade- und Waschanstalten sowie die Reorganisation des Anschlagswesens (Litfaßsäulen). Auch die wichtige Lebensmittelversorgung der arbeitenden Bevölkerung wurde vom Polizeipräsidium aus überwacht. Hinckeldey war unbestechlich und ging gegen jede Ungesetzlichkeit vor, vor allem gegen Demokraten und die aufkommende Arbeiterbewegung, aber auch gegen die Junker, die sich selbst über dem Gesetz stehend wähnten. Dazu nutze er ein ausgedehntes Spitzelsystem und überwachte jede Aktivität der Presse. Hinckeldey versuchte, rigorose Polizeiherrschaft und kommunale und soziale Reformen in Übereinstimmung zu bringen. Als er gegen einen Spielklub des Adels vorging, wurde er zu einem Duell provoziert, in dem er ums Leben kam. Über hunderttausend Berliner (darunter der spätere König Wilhelm) folgten seinem Sarg. Bei einer Sammlung für die Hinterbliebenen des obersten preußischen Polizisten kamen binnen weniger Tage über 10.000 Taler zusammen.
Wilhelm Johann Carl Eduard Stieber war eine der schillerndsten Personen im Preußen des 19. Jahrhunderts. Der am 3. Mai 1818 in Merseburg geborene Sohn eines Kanzleisekretärs war von einem unbändigen Ehrgeiz erfüllt. Er studierte gegen den Willen seines Vaters Jura und finanzierte sich sein Studium durch schriftstellerische Aktivitäten und die Herausgabe eines Jahreskalenders und einer Zeitschrift. In mehrfach wechselnder Reihenfolge war er Gerichtsangestellter, Strafverteidiger, Autor, privater Ermittler und Geheimagent. Bereits früh wurde deutlich, dass er bei der Darstellung seiner Tätigkeit häufig übertrieb und sich stets ins rechte Licht zu setzen suchte. Dazu dienten ihm Kontakte zum Beichtvater des Königs, die ihn 1850 zur Berliner Polizei brachten. Europaweit bekannt wurde er durch seine Ermittlungstätigkeiten gegen den Bund der Kommunisten, bei denen er auch vor Fälschungen nicht zurückschreckte. Allerdings war Stieber ein enorm kompetenter Kriminalist und hervorragender Organisator der Berliner Kriminalpolizei, deren Chef er seit 1854 war (damit nahm er in der Realität den Platz des fiktiven Charakters Herford ein). Er setzte durch, dass alle Reviere über Kriminalbeamte verfügten, verfasste das erste Lehrbuch für die Kriminalpolizei und führte zahlreiche Sonderaufträge des Königs durch. Neben der Verwaltung des vom Konkurs bedrohten Kroll’schen Vergnügungspalastes und der Bekämpfung des Falschmünzerwesens regelte er Wechselschulden von Offizieren ebenso wie Zwangsvergleiche, die die er mit polizeilichen Druckmitteln durchsetzte.
Ungesetzliche Maßnahmen (wie die Inhaftierung von Verdächtigen über die gesetzlich vorgeschriebene Frist hinaus) führten zu einem Justizskandal, durch den Stieber 1858 zu Fall kam. Das war aber noch lange nicht das Ende der Geschichte. In der Folgezeit arbeitete er als Ermittler für die russische Polizei und war später auch für Bismarck tätig, wenn auch in untergeordneter Position. Dennoch verstand er es, aus dieser Tätigkeit Kapital zu schlagen und ein selbst bestimmtes Bild in der Öffentlichkeit zu hinterlassen. Bis heute gilt er als Erfinder des preußischen Geheimdienstes, und zahlreiche Publikationen, insbesondere aus dem französisch- und englischsprachigen Ausland verbreiten bis heute die Mär, dass Stieber am Sieg in den Kriegen von 1866 und 1870/71 einen bedeutenden Anteil hatte – was in diesen Ländern zu einer hysterischen Furcht vor deutschen Spionen führte. Dennoch gilt er zu Recht als einer der maßgeblichen Begründer der modernen Kriminalpolizei. Stieber starb am 29. Januar 1882 in Berlin als wohlhabender Mann.
Fakt am Rand: Stieber nahm 1866 am Krieg gegen Österreich und 1870/71 am Krieg gegen Frankreich als Chef der aus wenigen Beamten bestehenden Politischen Polizei des Großen Hauptquartiers teil. Aufgrund seiner vorzüglichen Verbindungen zur Presse erreichte er, dass diese ihn der Öffentlichkeit als Leiter der Feldpolizei präsentierte. Das hatte Folgen: Seine Memoiren, in denen er seine Rolle maßlos übertrieb, gelangten auch in die Hände französischer Autoren, die sich die Niederlagen Österreichs und Frankreichs nur durch Verrat und umfangreiche Spionage erklären konnten. Stieber wurde als „Superspion“ dargestellt und bis in die Zeit des zweiten Weltkriegs hinein war die anglophile Welt davon überzeugt, von deutschen Spionen geradezu unterwandert zu sein.
Alltagsarbeiten
Stieber ist seit 1851 Chef der Berliner Kriminalpolizei. Zunächst unterstehen ihm sechs Kriminalkommissare und zehn Schutzmänner als Hilfskräfte. In den nächsten Jahren wird sich die Anzahl der Kommissare verdreifachen. Neben dem Hauptquartier am Molkenmarkt verfügt die Polizei über zahlreiche, über die Stadt verteilte Reviere, die untereinander per Telegraf verbunden ebenso wie die Feuerwehr verbunden sind, was ein effektives Handeln ermöglicht. Stieber führt die Aufsicht über die Kriminalisten in den Revieren: Polizeileutnants (später Kommissare) und Wachtmeister, die täglich über den Stand der Arbeiten berichten. Sie haben weitgehend freie Hand, denn Stieber hat insbesondere mit Aufträgen des Königs (z.B. die Rettung der in finanzielle Schieflage geratenen Kroll-Oper) und der Bekämpfung des Falschmünzerwesens genug zu tun.
Lediglich die Entscheidung, wer aus dem Polizeigewahrsam entlassen werden kann, behält er sich vor. Seine eigene Handlungsfreiheit wird indes immer umfangreicher. Zunächst kann er sich der Kontrolle durch die Staatsanwaltschaft weitgehend entziehen (er verfügt schließlich selbst über ausreichend juristische Kompetenz) und eine 48-Stundenfrist vereinbaren, nach der ein Inhaftierter einem Richter vorzuführen ist (die laut Gesetz eigentlich nur 24 Stunden beträgt und an die sich ohnehin kaum jemand hält). 1854 wird sein bislang der IV. Abteilung zugeordnetes Büro zur selbständigen VII. Abteilung umgewandelt, was u.a. zur Folge hat, dass Stieber (als Leiter der Behörde) die Struktur sofort etwaigen Erfordernissen bnach eigenem Gutdünken anpassen kann. Neben den Mitarbeitern der eigenen Abteilung (zwei Hilfsdezernenten, ein Sekretär, zwei Polizeiinspekteure, ein Leicheninspektor, zwölf Kriminalbeamte und fünfzig abkommandierte Schutzleute) unterstehen ihm bis zu achtzig über die gesamte Stadt verteilte Polizeileutnants. Außerdem redigiert er, dessen schriftstellerische Qualitäten bekannt sind, das Königlich-Preußische Zentral-Polizei-Blatt, schreibt für die amtliche Preußische Zeitung, bringt Gesetzessammlungen heraus und unterhält allerlei fruchtbringende Beziehungen zu anderen Presseorganen, in denen er (häufig anonym) veröffentlicht, ohne eine Zensur befürchen zu müssen.
Hauptaufgabe der neuen Abteilung ist die Verbrechensbekämpfung und die Überwachung von Verdächtigen. Von Aufgaben der politischen Polizei werden Stieber und seine Männer von der Polizeispitze ferngehalten, denn der Polizeipräsident sieht dies als seine ureigenste Aufgabe an – die ihm zahlreiche Möglichkeiten bietet, beim König zu glänzen. Dennoch wird Stieber immer wieder zu besonderen (staatspolizeilichen) Aufgaben herangezogen. Für den heutigen Betrachter vielleicht überraschend, gibt es bei der Polizei des 19. Jahrhunderts eine solche Einrichtung (vergleichbar etwa mit dem heutigen Staatsschutz) überhaupt nicht. Wenn man damals von Staatspolizei sprach, meinte man nicht eine Einrichtung mit klar umrissenen Aufgaben (wie das in der Struktur der heutigen Polizei der Fall ist), sondern schlicht einen Polizisten, der mit besonderen Aufgaben, oft von höchster Stelle und den Dienstweg umgehend, betraut wurde.
In der Folge werden wir einige authentische Kriminalfälle von damals, die Ralph Knobelsdorf zusammengetragen hat, vorstellen, hier der erste:
Der Fall des Privatgelehrten Ladendorf
Im Mai 1851 wird der ehemalige Offizier Hentze bei der Polizei vorstellig. Stieber ist zu dieser Zeit nicht in Berlin, sondern in London, um einerseits bei der Absicherung der ersten Weltausstellung zu helfen und andererseits Oppositionelle zu beobachten – was in den Kölner Kommunistenprozess von 1852 münden wird. Der Leiter der IV. Abteilung empfängt Hentze und erfährt, dass dieser mit einer Gruppe um den Privatgelehrten Dr. August Ladendorf in Verbindung steht, die nichts Geringeres als Hochverrat im Sinne hat. Der sofort informierte Polizeipräsident Hinckeldey beschließt, nicht einzuschreiten, sondern die Entwicklung zu beobachten. Im März zwei Jahre später ist es soweit: Stieber und seine Kriminalpolizei sind zwar nicht an den Verhaftungen beteiligt, sollen aber Waffen sicherstellen. Hintze hat eine entsprechende Skizze geliefert, wo die Beweismittel im Dach eines Fabrikgebäudes versteckt sind. Doch statt einfach das Gebäude zu umstellen, einzudringen und Waffen und Granaten sicherzustellen, hat Stieber anderes im Sinn. Wohl um seine Rolle öffentlichkeitswirksam darzustellen und Eindruck zu schinden, holt er zwanzig Feuerwehrleute herbei und lässt umständlich große Teile des Daches abtragen, bevor er in Aktion tritt – der gewünschte Effekt tritt ein.
Damit nicht genug. Da die Waffen in England beschafft wurden, müssen die Hintergründe geklärt werden. Das nimmt einige Zeit in Anspruch und so reisen Stieber und einige Kollegen ein Jahr später nach London. Tatsächlich gelingt es ihnen, versandfertige Kisten mit Handgranaten beschlagnahmen zu lassen, die nach Mecklenburg gehen sollten. Ein Hinweis auf eine weitverzweigte Verschwörung?
Ein halbes Jahr darauf beginnt der Prozess vor dem Kammergericht für Staatsverbrechen. Die Angeklagten werden rasch zu hohen Strafen verurteilt. Doch im Prozessverlauf drängt sich der interessierten Öffentlichkeit (die es angesichts der Zensur hervorragend versteht, zwischen den Zeilen zu lesen) immer mehr der Eindruck auf, dass nicht die Angeklagten selbst, sondern vielmehr der Informant, der ehemalige Offizier Hentze, die treibende Kraft gewesen war.
Ob das den Tatsachen entsprach und welche Motive Hentze bewogen haben mochten, blieb ungeklärt – der Eindruck des Prozesses in der Öffentlichkeit war aber so verheerend, dass Stieber später erklärte, mit der Angelegenheit nichts zu tun gehabt zu haben. Das Aufsehen um das Abtragen des Daches des Fabrikgebäudes hatte er anscheinend vergessen
Über den Autor:
Ralph Knobelsdorf, Jahrgang 1967, wurde in Löbau/Sachsen geboren. Der Informatikkaufmann studierte in Halle an der Saale Philosophie, Jura und Geschichte mit dem Schwerpunkt Deutschland im 19. Jahrhundert. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und zwei Kindern in Erfurt.
Nach Tätigkeiten in Werbe- und Internetagenturen arbeitet er gegenwärtig in einem Unternehmen der IT-Branche. Mit Ein Fremder hier zu Lande“ legt er als Autor den zweiten Band seiner Serie rund um den adeligen Kommissar Wilhelm von der Heyden vor. Inspiriert zum Schreiben historischer Kriminalromane hat ihn die Serie „Downton Abbey“ von der er ein grosser Fan ist. Außerdem ist er begeisterte Eishockeyanhänger.
Hier geht es zum Buchtipp für den historischen Krimi „Ein Fremder hier zu Lande“ von Ralph Knobelsdorf, unter diesem Link findet Ihr eine Übersicht aller bisher vorgestellten historischen Krimis.