Ein Lebenskünstler

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zeitgenössische Illustration der Geschichte

Ein Lebenskünstler – eine Erzählung von C. Prieß

„Mensch, so warte doch mal zwei Minuten. Ich will mit dir nach Hause gehen, muss nur eben erst meine Jungens aufsammeln.“

Es war Herrn Oberlehrer Doktor Blomeier durchaus nicht angenehm, dass dies recht kräftig hinter ihm her gerufen wurde. Er hasste alles Laute und Auffallende, und diese Schreierei in Hörweite sämtlicher Schüler, die sich an der Schulpforte zum Nachhausegehen drängten, schien ihm recht unpassend. Aber so war sein Kollege Hansheinrich Hannemann nun einmal. So war er schon gewesen, als sie noch nebeneinander auf der Schulbank saßen, und so blieb er — laut und vergnügt und unbesinnlich, obgleich er nun auch schon Ordinarius von Obertertia und Erzieher einer ganzen Reihe von eignen Kindern war.

Und da Doktor Blomeier wusste, dass sein Kollege so weiter rufen und in langen Sätzen hinter ihm herlaufen würde, ergab er sich in sein Schicksal und wartete geduldig, dem Schulausgang gegenüber, auf der andern Seite der Straße. Die Mittagshitze lag zwischen den alten Häusern, die Jungen brachten ihren Schulstaub und ihre Schulatmosphäre mit heraus. Davon hatte Doktor Blomeier für heute wirklich genug.
Er war sonst keiner von denen, die tagtäglich das Ende der Schulzeit herbeisehnen. Er gab seine Stunden pünktlich und ordentlich in der ruhigen Überzeugung, dass ihm und seinen Schülern dieser feste Untergrund von Pflicht und Arbeit nötig sei.

Von der jungen Begeisterung, mit der er einmal diesen Beruf ergriffen hatte, war ihm freilich wenig genug geblieben. An Ermüdungen und Enttäuschungen im Leben im allgemeinen und im Schulleben im besonderen hatte es dem Doktor Blomeier nicht gefehlt. Aber so langsam war er dabei in die Praxis seines Berufs hineingewachsen, er war anspruchsloser, sicherer, ruhiger geworden. Er verstand es, in der Klasse strenge Disziplin und in seinem Privatleben die richtige Distanz zwischen sich und der Schule zu halten. Er galt für anständig und gerecht, für recht tüchtig und ziemlich langweilig. Damit waren seine Schüler und er selbst im großen und ganzen zufrieden.
Das heißt, heute die letzte Stunde, die deutsche in Unterprima, war schlimm gewesen. Vielleicht war das Wetter daran schuld, diese erste, laue Frühjahrswärme, die immer so auf die Nerven schlug. Seine Primaner wollten sich durchaus nicht für die Formenlehre der mittelhochdeutschen Grammatik interessieren, und ihm selbst fehlte heute die Kraft und Frische, gegen ihren Stumpfsinn anzukämpfen. Es war ihm bitterschwer geworden, sich selbst und die Klasse in Zucht und Ordnung zu halten. Er ertappte sich immer wieder bei dem Gedanken, dass auch diese Stunde einmal ihr Ende finden würde, dass dann die andern Stunden seines Tages voll Frieden und Schönheit auf ihn warteten. Wie eine Vision zog es an ihm vorüber, während er jetzt da auf dem schmalen Trottoir stand und gedankenlos in das Schaufenster des Buchhändlers starrte, der hier den Bedürfnissen der Gymnasiasten mit einer Auslage von Ansichts- und Visitenkarten, von Detektivromanen und Füllfederhaltern entgegenkam.

Der Doktor sah sein Arbeitszimmer vor sich, das kühle, ruhige mit den schweren, dunklen Eichenmöbeln und den lichten, warme Farben der Tapeten und Stoffbezüge, wie er es sich im Laufe der Jahre ausgedacht und eingerichtet hatte. Hier wollte er erst ein Weilchen ganz still sitzen, in dem tiefen Ledersessel neben der offenen Balkontür, und hinüberschauen über all das jung-frische Grün des großen Vorgartens bis zu den rot blühende Kastanien der Allee. Nebenan klirrte es manchmal leise wie feines Glas und Silber. Dort deckte Frau Michels den Tisch just so sauber und stilvoll und blumengeschmückt, wie er ihr das nun glücklich beigebracht hatte. Und er wollte sich den Mosel heute auf Eis stellen lassen, in den Bronzekühler, den ihm der Antiquitätenhändler in Venedig unter tausend Schwüren als Renaissancekunstwerk verkauft hatte. Und wenn der Kübel auch wirklich nicht ganz echt war, schön war’s doch, wenn das Licht mit seinen altgoldenen Tönen spielte. Und dann sollte es heute den ersten Spargel zum Mittagessen geben. Aber vorher wollte er baden und mit dem Schulanzug allen Ärger und Schulstaub von sich abtun. Dann würde Frieden und Schönheit um ihn sein, den ganzen Tag lang und bis zum Abend.
Da war die neue Kunstvereinsmappe durchzusehen und der neue Baedeker, um Pläne für die Sommerferienreise zu machen. Später, wenn es kühler wurde, konnte er ein paar Aufsatzhefte korrigieren, und am Abend wollte er wandern, weit ins Land hinein, und draußen irgendwo zu Abend essen.

Wie lange dieser Hansheinrich Hannemann ihn warten ließ! — Da kam er endlich über die Straße, natürlich wie immer in dem grünen Lodenanzug, den er schon im Winter getragen hatte. Hinter ihm her trabten seine beiden ältesten Söhne, kleine Kerle, die erst ein paar Jahre das Schuljoch trugen. Sie steckten in ähnlichen Lodenanzügen, schwenkten beim Gehen die Schulbücher energisch in der Hand und sahen aus hellen Augen ebenso neugierig und unternehmend in die Welt wie ihr Vater.

„Verzeihe, Kollege, aber dies junge Volk hier wollte gern mit und auch seinen Segen zu der neuen Wohnung geben. Meine Frau kann leider nicht — du weißt doch, wir haben seit acht Tagen eine Tochter, die erste nach all den Jungens. Ein großartiges Kind, sage ich dir, und überhaupt alles in Ordnung. Meine Frau hat mir übrigens Generalvollmacht gegeben, die Wohnung zu mieten, das heißt, wenn meine Schwägerin Hilde damit einverstanden ist. Die werden wir nämlich auch gleich noch treffen.“
Und als der Doktor ein etwas erstauntes Gesicht zu dem allen machte, fuhr Hannemann ruhig fort: „So — du weißt noch gar nichts Näheres? Es handelt sich um die Parterrewohnung in deinem Hause. Die Frau Forstrat kommt nicht wieder, sie soll in dem Sanatorium bleiben, und ihre Tochter hat meiner Frau die Wohnung angeboten. Und du hättest die Schlüssel und würdest uns alles gern zeigen, nicht wahr? Eigentlich ist die Sache zu üppig für unsern Geldbeutel. Aber weisst du, es ist jetzt bei uns zu eng und heiß in der dritten Etage, und ich möchte meiner Frau und der Tochter mehr Luft und Sonne gönnen. Wenn wir noch ein paar Pensionäre mehr nehmen, wird sich die Geschichte wohl deichseln lassen. Wir würden dann auch baldmöglichst einziehen; die Wohnung soll sofort geräumt werden und steht dann zu unsrer Verfügung. Und der Garten ist köstlich, nicht wahr? Rasen und Rosen und alte Bäume und Erdbeeren, sagt meine Frau, und er gehört zur Parterrewohnung. Aber du kannst ihn natürlich nach Herzenslust weiter mit benutzen, wir wollen schon zusammen fertig werden, alter Freund.“

So redete Hansheinrich Hannemann vergnügt weiter, und seine Söhne stapften nebenher und wirbelten möglichst viel Staub mit ihren dicken Lederstiefeln auf, was nicht dazu beitrug den Glanz von Doktor Blomeiers gelben Schuhen und seine Stimmung zu verbessern. Es fiel Hannemann aber weiter gar nicht auf, dass sein Kollege nichts sagte. Blomeier war eben einer von den Schweigsamen, Einsamen. Wie es dem gut tun musste, einmal Menschen, gesunde, lebhafte, vernünftige Menschen ins Haus zu bekommen — nach diesem traurigen Zusammenhausen mit der alten, nervösen Forsträtin! Hannemann freute sich ordentlich, jemand soviel Gutes antun zu können.
Der Doktor hatte derweil seine eignen, weniger rosigen Gedanken. Er hätte diese auch wohl kräftig geäußert, wenn ihm nicht jede Aussprache und Szene auf offener Straße ein Gräuel gewesen wäre. Sein Kollege wirkte geradezu als abschreckendes Beispiel auf ihn.
Doktor Blomeier fühlte in Angst und innerem Ärger, dass sein Lebensglück ernsthaft bedroht war. Da hatte er nach einigen schlimmen Erfahrungen endgültig und frühzeitig Schluss gemacht mit allen Lebensplänen und Hoffnungen, die auf sogenanntes Familienglück hinauslaufen.  Und dann war ihm unter diesen selten günstigen Wohnungsbedingungen gelungen, sich ein wirkliches Heim zu schaffen und sein Leben hier ganz nach seiner persönlichen Eigenart und einem eignen System harmonisch auszugestalten.
Er war von Haus aus wohlhabend und hätte ganz für seine Liebhabereien leben können. Aber wusste, dass diese nur auf einem festen Untergrund von Pflicht und Arbeit für die Dauer ihren Reiz behalten. So tat er seine Arbeit in der Schule treu und gewissenhaft. In seinem Privatleben gehörte er aber ganz sich selbst und kümmerte sich um keinen andern Menschen, das heißt, seiner Meinung nach tat er das durchaus nicht in dem landläufigen, egoistischen Sinne. Was er anstrebte, war die harmonische Bildung seiner Persönlichkeit und die Erreichung der höchsten Glücksmöglichkeiten für sein Leben durch Befriedigung sowohl seiner materiellen wie auch seiner ethisch-ästhetischen Bedürfnisse, in der Überzeugung, dass er nur so die Pflichten gegen sich selbst erfüllen und nur so der Allgemeinheit nützen, respektive derjenigen wenigstens nicht schaden könne. Er war nicht wenig Stolz auf diese seine Lebenskunst, die er immer mehr zu vervollkommnen und zu verfeinern und immer ungestörter zu genießen gedachte. Und nun kam dieser Hansheinrich Hannemann mit seiner ganzen Familie und störte ihm seine Kreise!

Der Doktor war wütend auf die alte Forsträtin, die sein Streben nach Ruhe und Schönheit so ganz zu verstehen schien, die ihm dann doch zum Schluss den Tort antat, so krank zu werden. Er ärgerte sich über ihre Tochter, die; ohne ihn zu fragen, diese Verwicklung angerichtet hatte. Am allermeisten aber erboste er sich natürlich über Kollegen Hannemann und seine kindische Freude.
Drei Minuten lang überlegte Doktor Blomeier dann ernsthaft, ob er nicht sofort heimlich versuchen sollte, durch ein höheres Mietangebot die Familie der Forsträtin zu bestechen und so die Wohnung in die eigne Hand zu bekommen.
Glücklicherweise fiel ihm aber da noch die Erklärung des zehnten Gebotes ein, und dass zu den Dingen, die man „seinem Nächsten nicht abspannen, abdringen oder abwendig machen soll“, sicher auch eine Mietwohnung gehört. So gab er die gute Idee schweren Herzens auf. Und da lag auch schon das weiße Haus vor ihnen, nicht allzu weit von der Stadt und doch schon so recht im Grünen, am Anfang der alten Kastanienallee, die weit ins Land hinausführte. Das Haus war alt und stand wohl fünfzig Jahre. Aber die Forsträtin hatte es seinerzeit mit liebevoller Rücksicht auf die Wünsche ihres Mieters sorgfältig umgebaut und so zwei freundliche, behagliche Wohnungen geschaffen. Das Beste war der Garten, der gerade jetzt mit einer Blütenfülle von Flieder, Schneeball und Goldregen seine allerschönste Zeit feierte.
Und gerade den Garten gönnte Doktor Blomeier seinem Kollegen durchaus nicht. Nicht als ob er selbst ein Anrecht darauf gehabt hätte — die Forsträtin hatte sich den Garten von Anfang an zum eignen Gebrauch vorbehalten. Aber in der Praxis war er dann dem Mietsherrn doch wie ein geliebter und gepflegter eigner Besitz geworden, den man nicht ohne Herzweh abgeben oder mit andern teilen kann.
„Die Tante! Da ist Tante Hilde!“ schrien Hannemanns Söhne und rannten über die Straße. Natürlich, eine Tante hatten diese Hannemanns auch. Solche Leute haben immer Tanten!
„Herr Doktor Blomeier — Fräulein Hilde König, die jüngste Schwester meiner Frau, so eine Art älteste Tochter von uns,“ stellte Hannemann vor.
Das war ja gar keine Tante, konstatierte der Doktor einigermaßen erstaunt. Es war nur ein junges, geschossenes Mädel, das ein helles Waschkleid und einen Matrosenhut trug und aus ein Paar dunklen Augen vergnügt in die Welt sah. In der Hand schwenkte diese junge Dame wie alle andern anwesenden Mitglieder der Familie Hannemann ein Paket Schulbücher. Sie machte Doktor Blomeier einen kleinen Knicks und schien sich herzlich wenig für ihn, desto mehr aber für die neue Wohnung zu interessieren. Schon im Garten geriet sie in helle Begeisterung und erklärte, dass Hansheinrich sofort mieten müsse. Sie schien überhaupt recht energisch zu sein und ganz genau zu wissen, was für Hannemanns gut und nötig sei. Und dabei war sie erst achtzehn Jahre alt und ein Waisenkind und besuchte das Seminar, um sich später ihr Brot selbst zu verdienen.
Jedenfalls hatte sie Talent zum Besitzergreifen und Kolonisieren. Sie riss in der Wohnung alle Fenster auf und guckte in alle Ecken und beriet eifrig mit ihrem Schwager, wie die Zimmer benutzt und eingerichtet werden sollten, ganz unbekümmert um die alten Möbel der Forsträtin, die da noch schweigend und verhüllt umherstanden. Das Balkonzimmer sollte ein herrliches Familienwohnzimmer werden, und das Esszimmer war so schön groß und sonnig, da konnte der Kinderspieltisch und Babys Wagen wundervoll stehen. „Und das kleinere Zimmer nebenan nimmst du als Arbeitszimmer, nicht wahr, Hansheinrich? Aber die Hobelbank darf nicht mit herein; Fußböden und Tapeten sind hier viel zu fein. Wir finden wohl im Keller ein Lokal, wo du nach Herzenslust mit den Jungens herumbasteln kannst. Und in den zwei Hinterzimmern könnt ihr wundervoll mit den Kindern schlafen, das heisst, den Dicken behalte ich bei mir. Ihr habt ohnehin genug an dem Baby und den andern. Da sind doch noch Mansardenzimmer, nicht wahr?“
Dem Doktor blieb nichts andres übrig, als auch den Oberstock zu zeigen. Da oben ging der Jubel erst recht an. Das waren ja wundervolle Dachzimmer, Hansheinrich bedauerte aufrichtig, dass er nicht selbst hier schlafen sollte. Jedenfalls konnte man eine Anzahl von Pensionären bequem hier unterbringen. Aber das Mittelzimmer mit dem kleinen Giebelausbau sollte die Tante für sich und „den Dicken“ haben.
Glückselig sah sie aus dem Fenster in die weite Welt hinaus. „Ich kann so viel Himmel sehen, Hansheinrich, und den Wald! Ich glaube, ich werde hier gar nicht schlafen können, nur immer ausgucken müssen, so wunderschön ist das hier oben!“

Dem Doktor kam ein Grauen an.  Sein Schlafzimmer lag genau unter diesem Raum, und die Lebhaftigkeit dieser jungen Dame konnte seiner Nachtruhe leicht gefährlich werden. Aber er schluckte auch diese Sorge wie all die andern schweigend hinunter.
Und dann verabschiedeten sich Hannemanns mit freundlichem Dank und dem festen Versprechen, die Wohnung sofort fest zu mieten und baldmöglichst einzuziehen.

Nun konnte Doktor Blomeier endlich in Frieden zu Mittag essen und seinen schönen, stillen Sommernachmittag ungestört genießen. Aber der Spargel schmeckte nicht — und um seine Gemütsruhe war’s überhaupt für heute geschehen. Er fand sie auch in der nächsten Zeit nicht wieder, obgleich er nach einem harten Kampf mit seinem alten Adam beschlossen hatte, Hannemanns die Wohnung zu gönnen. Die armen Leute waren ohnehin von der Natur, die ihnen eine Menge von Kindern und noch die Tante zuerteilt hatte, hart genug bestraft. Der Doktor beschloss, lieber das Feld zu räumen, wenn er sich in seinem Lebensfrieden auf die Dauer gefährdet sehen sollte. Im übrigen durfte er wohl annehmen, dass sein System ein so vorzügliches und gefestigtes war, dass es auch diesem Ansturm fremder Gewalten standhalten musste. Wenn er wie bisher seines Lebensglückes Schwergewicht nur in sich selber suchte und sich von allem und jedem Zusammenstoß und Zusammensein mit diesen Hannemanns fern hielt, sogar den geliebten Garten nicht mehr betrat, dann konnten und durften sie den schönen Frieden seines Daseins nicht erschüttern.
Aber auch diese vorzüglichen Gedanken und Grundsätze halfen Doktor Blomeier nicht viel. Die ruhigen Tage waren für ihn vorbei. Es kamen Handwerker, die die guten, alten Möbel aus der Wohnung räumten. Und dann begannen Hannemanns einzuziehen, das heißt, zunächst taten sie das langsam und jeder auf eigne Faust. Hansheinrich erschien mit Farbtöpfen und Handwerksgerät und klopfte und malte während seiner ganzen Freizeit nach Herzenslust in der neuen Wohnung herum. Seine älteren Söhne halfen ihm nach Kräften, betätigten sich aber außerdem noch selbstständig durch den Bau eines Kaninchenstalles.
Auch die Tante kam jeden Nachmittag. Sie brachte jedesmal einen großen Haufen Bücher mit, aber sie lernte nie, wie der Doktor von seinem Balkon aus konstatierte. Sie pflückte unvernünftig viele Blumen ab, legte sich der Länge nach ins Gras und spielte stundenlang mit einem Wesen, das „der Dicke“ genannt wurde, noch nicht recht fest auf den eignen Füßen stand und allem Anschein nach unter einem blauen Kittel die ersten Hösschen trug. Diesem dicken Jungen schien die Tante ihr Interesse und ihre Zärtlichkeit in ganz hervorragendem Maße zuzuwenden, eine Geschmacksrichtung, die dem Doktor durchaus unverständlich und unsympathisch blieb.
Auch Frau Oberlehrer Hannemann erschien, rund, rosig und zufrieden. Sie brachte immer das Jüngste im Kinderwagen mit und einen Korb voll Strümpfe, die sie im Garten stopfte. Alles in allem war Doktor Blomeier froh, als Hannemanns endlich wirklich und richtig einzogen. Diese Übergangszeiten waren bekanntlich die schlimmsten. Vielleicht konnte er wieder zur Ruhe kommen, wenn die Sache erst unwideruflich geworden war. Wenigstens musste es dann ein Ende haben mit all den dunklen Ahnungen und Prophezeiungen, denen seine Haushälterin, Frau Michels, ihm jetzt das Herz und das Leben noch schwerer machte.
Und Hannemanns zogen ein, mit Möbel-, Sport- und Kinderwagen, mit Köchin, Kindern, Pensionären und der Tante. Mit recht viel Lärm und Wichtigkeit nahmen sie Besitz von der neuen Wohnung und belegten jeden Raum und Winkel der ihnen zukam. Dabei hielten sie sich aber doch in Grenzen des Erlaubten, so dass Doktor Blomeier keinen rechten Grund zur Klage finden konnte, womit er sich somit vielleicht das Herz erleichtert hätte. Hannemanns Kinder wurden nach altbewährtem Rezept zur Einfachheit und zum Gehorsam erzogen. Für moderne komplizierte Erziehungsmethoden hatte ihre Mutter keine Zeit. Sie war eine gesunde und tüchtige Frau, hielt Ordnung und Zucht im Haushalte und wusste, dass es darauf ankam, mit Zeit und Kraft und Geld auszukommen. Hansheinrich bewunderte sie von Herzen, ließ sie schalten und walten und hatte viel zu viel eigne Ideen und Steckenpferde, um sich um andrer Leute Arbeitssysteme zu bekümmern.

Leider fing auch Frau Michels an, diese Frau Oberlehrer zu bewundern und dies ihrem Herrn Doktor in längeren Reden kundzutun.
„So fein wie bei uns, wo Herr Doktor doch so eigen sind, kann das natürlich bei Hannemanns nicht zugehen. Aber alles was recht ist. Die Köchin haben sie schon drei Jahre, und ordentliches Essen gibt’s auch. Und die Wäsche und die Kinder werden auch ganz vernünftig besorgt, da kann niemand was gegen sagen — alles ein bisschen aus dem Groben natürlich — aber du lieber Gott, sie sollen ja auch man auskommen.“
Und Frau Michels begann mit der Frau Oberlehrer zu verkehren und die kleinen Hannemanns in ihrer Küche mit den Brosamen zu füttern, die von ihres Herrn Tische fielen.

Herr Doktor Blomeier schwieg dazu. Er schwieg auch als eines schönen Tages der wundervolle Vorgarten mit Hannemanns weißer Wäsche effektvoll dekoriert wurde und die Tante sich höchsteigenhändig an dieser Entweihung beteiligte. Seine ästhetischen Gefühle hatten aber stark zu leiden. Sie litten unter dem Anblick von Frau Hannemanns Morgenröcken und den Gartenkitteln ihrer Kinder, unter dem Geschrei des Wickelkindes und unter Hansheinrichs lautem, stillosem Wesen.
Auch die Tante war in Anzug und Benehmen durchaus nicht ganz einwandfrei. Sie hätte keine Blusen und fußfreien Röcke tragen dürfen und nicht diesen albernen steifen Strohhut. Doktor fand eines Tages auf einem Botticelli-Bilde ein Kostüm das ihrer Figur entsprach. In diese weichen, fließenden Stoffe, in dieses silbrige Blau hätte er sie kleiden mögen. Und die Goldhaube müsste sie dazu auf dem schwarzbraunen Haar tragen — diese Tante, die ihn gar nichts anging, die ihn geradezu ärgerte! Sie schien auch durchaus nicht strebsam in den Vorbereitungen zu dem erwählten Lebensberuf. Sie brachte nachmittags wohl Bücher genug mit in den Garten, aber sie lernte nichts, rein gar, nichts. Wenn sie ihrer Schwester nicht beim Flicken und Stopfen half, tobte sie mit den Kindern herum, spielte mit den Pensionären Krocket oder trieb irgend etwas andres Überflüssiges. Wie sollte das Ostern mit ihrem Examen werden! Und ihre pädagogischen Talente schienen auch nur gering.
Sie verzog den dicken Jungen maßlos und prügelte seine älteren Brüder, wenn sie ihm zu nahe kamen — eine Pädagogik, die Doktor Blomeier vorsintflutlich und roh erschien. Überhaupt — er hatte ernste Bedenken für ihre Zukunft.
Und abends, wenn sie schlafen sollte, fing sie wohl an, ihr Pensum zu lernen, dann hörte er ihren leichten Schritt über sich. Eigentlich war nicht viel zu hören, aber schon der bloße Gedanke störte ihn und machte ihn nervös. Überhaupt nervös machten sie ihn alle, diese Hannemanns, und es war gut, dass die großen Ferien in Sicht waren und er ausspannen und sich erholen konnte.
Vorher lud ihn Hansheinrich eines Tages aber noch zum Abendbrot ein. Die Tante trug ein weißes Waschkleid, das ihr nicht übel stand. Aber es gab Hering und Pellkartoffel und der Doktor hatte einen Abscheu vor Heringen und konnte sich keine Kartoffel selbst abziehen. Frau Hannemann half ihm dann zwar, aber die Tante lachte darüber und versorgte nur sich selbst und die Pensionäre, womit sie allerdings genug zu tun hatte.
Später gab es auf dem Balkon eine Bowle, natürlich keine, wie Doktor Blomeier sie nach bewährtem Rezept zu mischen verstand. Hannemann rührte auf seine eigne Art etwas sehr Unschuldsvolles zurecht. Aber vergnügt wurde man dann doch dabei. Und wenn Hansheinrich vergnügt wurde, musste er Musik machen. Er setzte sich im Wohnzimmer ans Klavier und spielte allerlei Volks- und Studentenlieder. Seine Frau ließ ihre Stopfarbeit liegen und half ihm singen. Und auch die Tante hatte eine Stimme — einen jungen, frischen Sopran. Schade, dass sie so gar keine Schule hatte, und dass sie diese alten, abgeleierten Melodien sang, die einem Wagnerkenner und -schwärmer, wie Doktor Blomeier einer war, nur ein nachsichtiges Lächeln entlocken konnten.
Aber ganz gemütlich war es doch. Der Doktor ging erst nachHause, als Hansheinrich glücklich das Baby wachgesungen hatte, das die allerkräftigste Stimme in der Familie zu haben schien.

Und später war da oben wieder der leichte Schritt zu Hören. Der Doktor konnte durchaus nicht einschlafen. Hilde hatte blass und müde heute Abend ausgesehen und hätte jetzt längst schlafen müssen.
Das ging so nicht weiter. Er beschloss, in seinem eignen und ihrem Interesse, diesem ungesunden Treiben ein Ende zu machen.

Dazu bot sich ihm gleich am andern Tage die Gelegenheit, als er beim Nachhausekommen aus der Schule Hannemann traf, der seinen Schulrock schon ausgezogen hatte und in Hemdärmeln bereit stand, den Garten zu sprengen. „Ein Wort, Kollege!“ sagte der Doktor. „Ich wollte dich nur bitten, dich etwas mehr um deine Schwägerin zu kümmern. Sie geht nämlich jeden Abend zu spät zu Bett. Bis um zwei Uhr habe ich sie diese Nacht umhergehen hören, und um sieben Uhr musste sie doch wieder in der Schule sein. Ich nehme an, dass sie ihre Schularbeiten zu nachtschlafender Zeit erledigt, denn tagsüber scheint sie ja immer deiner Frau zu helfen und eure Kinder zu hüten, ein Zustand, der auf die Dauer ihrer Gesundheit nicht zuträglich sein kann.“

Hansheinrich sah seinen Kollegen einigermaßen verblüfft an. Es war ihm ganz neu, dass Blomeier sich um andre Leute und andrer Leute Angelegenheiten bekümmerte.
„Wenn Hilde dir auf dem Kopf herumtrampelt, will ich es ihr schon sagen,“ sagte er. „Im übrigen ist sie gesund und kräftig und muss selbst wissen, was sie tut. Und dass sie bei uns zufasst und meiner Frau tüchtig hilft, ist doch nur selbstverständlich. Sie gehört eben ganz zu uns. Wir haben uns mit ihr herumgeplagt und sie wie ein Eignes großgezogen. Da ist es doch nur natürlich, dass sie jetzt mit für unsern Nachwuchs sorgt. Schadet ihr auch gar nichts — im Gegenteil. Sie hat auch Gott sei Dank das Herz auf dem rechten Fleck. Einer hilft eben immer dem andern. Das ist doch das einzig Wahre im Leben!“
Und dann drehte Hansheinrich den Schlauch auf und fing so energisch an zu sprengen, dass der Doktor sich schleunigst
entfernen musste. Aber er ärgerte sich über seinen Kollegen Hannemann. Es war da in dessen Worten irgend etwas gewesen, was im Widerspruch stand zu seiner sonstigen Lebenskunst, ja, was sein ganzes System direkt angriff. Und derartiges konnte der Doktor in letzter Zeit durchaus nicht vertragen. Er war wohl abgearbeitet und nervös, um solche törichten Redensarten ganz belangloser Menschen überhaupt wichtig zu nehmen. Das hatte er nun davon, dass er einmal wieder im Rückfallsfalle gutmütig und teilnehmend gewesen war. Es sollte nicht wieder vorkommen. Er musste lernen, immer noch fester allein auf eignen Füßen zu stehen und unabhängig von allem Mitleid, aller Liebe sich seine Lebenskunst ganz gründlich und unanfechtbar zu eigen zu machen. —
Danach strebte der Doktor anhaltend während der nächsten Wochen. Die Familie Hannemann existierte grundsätzlich nicht mehr für ihn. Übrigens hörte er auch abends keine Schritte mehr über sich. Aber ob er sich nun einmal an das Horchen gewöhnt hatte, oder was sonst der Grund sein mochte, mit dem Einschlafen wurde es nicht besser, eher schlimmer.
Und dann, eines Abends, tat er leider wieder etwas sehr Törichtes, das ganz gegen seine Grundsätze war. Er trat, zum Ausgehen fertig, aus seiner Etagentür, als er die Tante die Treppe heraufkommen sah. Sie ging recht langsam, denn auf den Armen trug sie den dicken Jungen. Müde hing sein blonder Lockenkopf über ihrer Schulter, und seine braunen Ärmchen fassten fest um ihren Hals.
„Sie sollten das nicht tun, Fräulein Hilde, “ sagte der Doktor in väterlich missbilligendem Tone. „Sie werden sich eine Rückgratsverkrümmung holen oder ein Herzleiden. Warum kann dieser große Junge nicht allein die Treppen steigen?“
„Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie es ihm beibringen wollten. Bei mir lernt er es nicht. Er mag nicht, er ist müde. Seine Beine sind noch ein bisschen schwach, und seit das Schwesterchen da ist, soll er auf einmal groß sein und den ganzen Tag allein herumlaufen. Und ist doch noch solch kleiner Kerl! Ich muss mich seiner schon etwas annehmen.“
Sie wollte weitergehen — aber dann sah sie den Doktor ein wenig verlegen und ein wenig lustig an, stellte das Kind auf die Erde und sagte: „Ich wollte mich immer schon bei Ihnen entschuldigen, dass ich da oben manchmal noch abends spazieren gegangen bin. Hansheinrich hat mir gesagt, dass Sie sich bei ihm beklagt hätten. Aber der Dicke bekam Backzähnchen, da habe ich ihn herumtragen müssen, damit er nicht das ganze Haus wachschreien sollte.  Jetzt ist’s besser. Wir nehmen uns sehr in acht, und Filzschuhe habe ich mir auch angeschafft. Nicht wahr, wir stören Sie jetzt nicht mehr?“
Da versicherte der Doktor, dass er gar nichts mehr höre und dass sie seinetwegen, soviel wie sie nur immer Lust hätte, da oben herumlaufen könne, das heißt, im Interesse ihrer Gesundheit hielte er es doch für richtiger, wenn sie rechtzeitig zu Bett ginge, und nur aus diesem Grunde habe er überhaupt Rücksprache mit Hansheinrich genommen. Und dann wusste der Doktor auf einmal nichts mehr zu sagen, denn die Tante sah ihm ziemlich verwundert und sehr vergnügt in die Augen.
Da nahm er kurz entschlossen den Dicken auf seinen Arm, trug ihn die Treppe hinauf und setzte ihn vor ihrer Tür oben vorsichtig ab. Dann zog er den Hut, machte so eine Art Verbeugung und lief, so schnell er konnte, die Treppen hinunter und weiter, ganz weit ins Land hinein.

Die Tante sah ihm erst in stummer Verwunderung nach. Und dann lachte sie hell auf. Der Dicke hatte es heute abend gut. Er wurde mit viel Lachen, Spielen und Küssen zu Bett gebracht.

Doktor Blomeier hatte es derweil gar nicht gut. Er fand, dass er sich durchaus nicht so weise und richtig benommen hatte, wie er dies von sich selbst, besonders nach all dem Philosophieren dieser letzten Wochen, erwarten durfte. Gut, dass die Sommerferien vor der Tür waren. Die köstliche Mittelmeerfahrt, die er sorgfältig geplant und vorbereitet hatte, würde all diesem Unsinn ein Ende machen und ihm sein altes, schönes, geliebtes Gleichmaß wiedergeben. Am Abend vor seiner Abreise fiel es dem Doktor auf einmal ein, dass es doch unbedingt schicklich und nötig für ihn sei, einen Abschiedsbesuch bei Hannemanns zu machen. Er traf im Wohnzimmer nur die Tante mit ihrem unausbleiblichen Anhängsel, dem dicken Jungen. Frau Hannemann packte die Koffer der Pensionäre, und Hansheinrich war mit seinen älteren Söhnen im Garten beim Bau einer Indianerhütte beschäftigt.
Doktor Blomeier erkundigte sich zunächst höflich nach dem Befinden und nach den Reiseplänen der Familie Hannemann. Sie hätten gar keine, sie blieben einfach alle miteinander zu Hause, sagte die Tante. Aber sie selbst sähe doch ein wenig angegriffen aus, meinte der Doktor, und er würde ihr raten, in den Ferien möglichst etwas zu ihrer Erholung zu tun.
„Aber wir haben ja den Garten,“ sagte die Tante. „Und dann habe ich den Kindern versprochen, recht oft mit ihnen in den Wald zu gehen.“
„Hoffentlich nehmen Sie diesen Jungen nicht mit,“ sagte der Doktor mit einem misstrauischen Blick auf den Dicken, dem es eben wieder gelungen war, auf Hildes Schoß zu klettern. „Er ist imstande und lässt sich den ganzen Weg von Ihnen tragen.“
„Natürlich kommt er mit. Ohne ihn ist es überhaupt kein Vergnügen. Vielleicht binde ich ihn mir auf den Rücken — oder wissen Sie eine noch praktischere Art, ihn zu transportieren?“ Und dann lachte sie und sah ihn mit den fröhlichen, dunklen Augen an. Der Doktor hatte das unheimliche Gefühl, dass sie über ihn lachte. Da empfahl er sich schleunigst, und sie entließ ihn gnädig mit vielen guten Wünschen für seine Reise.
Und diese Reise verlief wirklich sehr angenehm. Er sah viel Schönes, und er sah es in der Ruhe und Bequemlichkeit, die er erfahrungsgemäß zum Genuss brauchte. Was daneben Unausbleibliches an Reiseunannehmlichkeiten blieb, trug. er mit Würde, nur dass ihm, wenn er es gerade so recht gut hatte, immer das schlanke Mädel daheim einfiel, dessen Ferienfreude darin bestand, den dicken Jungen in den Wald zu schleppen.

Als Doktor Blomeier von seiner Ferienreise heim kam, galt es bald, sich für den Winter zu rüsten. Dafür hatte er natürlich auch ein wohldurchdachtes und erprobtes System. In der Wohnung wurden warme Teppiche ausgelegt und für die langen Abende allerlei Lesenswertes angeschafft. Frau Michels hatte das Mögliche an Einmachen und Reinemachen geleistet, Keller und Vorratskammer waren reich gefüllt — kurz, der Doktor konnte einem behaglichen Winter ruhig entgegensehen. Den Familienverkehr hatte er in den letzten Jahren so ziemlich aufgegeben.
Bei den älteren Kollegen gab es fast überall Töchter. Diese Töchter waren nicht so schlimm, aber ihre Mütter pflegten den Doktor zu beunruhigen. Und wo keine Mütter und Töchter vorhanden waren, gab es doch Cousinen oder Freundinnen, eigentlich tauchte in jeder Familie irgend etwas Beunruhigendes auf. Da blieb der Doktor schon lieber daheim in seinem Burgfrieden. Wenn er einmal Unterhaltung wollte, brauchte er nur in die „Harmonie“ zu gehen, wo immer Bekannte zu treffen waren. Auch besuchte er mit weiser Auswahl und Mäßigung Konzerte und Theater. Für diesen Winter war ohnehin keine Langweile zu fürchten, da er eine kunstgeschichtliche Arbeit abschließen wollte und noch allerlei Material dafür durchsehen musste.
Was er an geselligen Pflichten zu erfüllen hatte, pflegte er zu Anfang des Winters gleich abzumachen. So lud er auch Hannemanns zum Abendessen ein, mit der Tante natürlich.
Er wollte ihnen zeigen, wie stilvoll und harmonisch ein solcher Abend im eignen Heime sich gestalten ließ, und dass es Lebenswerte gab, die über alles, was sie kannten und anstrebten, weit hinausgingen. Und sein Heim war an diesem Abend schön. Durch gelbe Seidenschleier gedämpft, fiel das Licht weich und warm in die behaglichen Räume, auf alles Schöne, was er sich da liebevoll zusammengetragen hatte.
Die Bewirtung war tadellos, nicht großartig oder protzig, aber mit Takt und Liebe zusammengestellt, und alles wurde besonders hübsch serviert. Frau Hannemann erkundigte sich bewundernd nach allen Rezepten, und Hansheinrich fand die Sache „blödsinnig“ vornehm und viel zu fein für seinen Geschmack. Später wurde es aber doch nicht so eigentlich gemütlich. Hannemann versuchte zwar auf dem Flügel zu spielen, fühlte aber wohl selbst, dass seine Art zu musizieren nicht hierher passte. Und die Tante wollte durchaus nicht singen. Sie saß ganz ruhig und besah die Kunstblätter, die der Doktor zur Unterhaltung seiner Gäste ausgelegt hatte. Es war sehr hübsch, wie dabei das Licht von oben auf ihr glänzend-braunes Haar fiel, aber es wäre Doktor Blomeier doch lieber gewesen, wenn sie mit ihm gesprochen oder ihn auch nur ein einziges Mal in ihrer offenen Art angelacht hätte.
Ein paar Tage darauf wurde Doktor Blomeier krank. Der Arzt erklärte, es handle sich um eine regelrechte Influenza. Dieser sonderbaren Krankheit war Doktor Blomeiers Lebenskunst nicht gewachsen. Sein System versagte vollständig. Er war unglücklich und verdrießlich und machte sich selbst und Frau Michels das Leben schwer. Als es langsam besser wurde, und er wieder anfing, sich auf seine Grundsätze zu besinnen, war Weihnachten vor der Tür. Und man merkte diesmal, dass es Weihnachten werden wollte. Hannemanns sorgten dafür. Sie sangen jeden Abend Weihnachtslieder. Die ganze Familie, Hansheinrich an der Spitze, war von einem solchen Grad von Weihnachtsaufregung befallen, dass sich dieser Zustand unbedingt dem ganzen Hause mitteilen musste. Blomeier hasste aber diese Art von Aufregung. Sie ging vollständig gegen sein System, erschien ihm vollständig sinnlos und überflüssig. Und sie griff ihn fast noch mehr an als die Influenza.
Dafür fehlte nun wieder Hansheinrich Hannemann jede Rücksicht, jedes Verständnis. Als sie eines Abends zusammen aus der Konferenz nach Hause kamen, nahm er den Doktor mit sich ins Familienwohnzimmer. „Du musst dir mal ansehen, was ich da kleistere,“ hatte er ihm unterwegs erzählt. „Ein geradezu großartiges Puppentheater, ausgestattet mit allen Hilfsmitteln moderner Technik. So einfach ist das übrigens gar nicht. Schon allein den Vorhang richtig zum Rollen zu bringen. Und dann die Beleuchtungseffekte. Ich kann dir sagen, es gehört Geschick und Geduld dazu. Aber meine Jungens werden Augen machen!“

In Hansheinrich Hannemanns Wohnzimmer roch es nach Kleister und Farbe. Auf dem großen, runden Tisch sah es bunt aus.
Hinter einem Haufen von Flicken und Seidenresten saß hier die Tante. Die Frau Oberlehrer summte im Zimmer nebenan ihr Jüngstes in Schlaf. Hannemann begann, sein Werk zu erklären.
„Schau, dies sind die Kulissen der Räuberburg. Das ist nämlich die Szenerie für den Schlussakt des Stückes, das ich noch schreiben werde.  Meine Schwägerin zieht mir die Figuren an. Hilde, zeige mal den Räuberhauptmann!“
Ein handgroßes Kerlchen, mit einem schwarzen Samtmantel angetan, das als Zeichen seiner Würde eine rote Feder auf dem grünen Hut und ein Fischbeinschwert im Goldgürtel trug, wurde dem Doktor als Räuberhauptmann vorgestellt. Außerdem gab es schon eine Fee, eine Prinzessin und einen feuerroten Teufel. Der Doktor machte ein ernstes Gesicht.
„Ich weiß nicht, Hannemann, ob ihr die Kinder mit diesem Zeug nicht krankhaft aufregt. Ich würde dir doch raten, sehr vorsichtig damit zu sein. Und dann sehe ich zu meiner Verwunderung, dass du für die Dekorationen Neu-Ruppiner Bilderbogen verwendet hast — Fabrikate, von deren Minderwertigkeit, um nicht zu sagen Schädlichkeit, für die künstlerische Bildung des Kinderauges man heute doch allgemein überzeugt ist. Ich kann dir einen ganz vorzüglichen Aufsatz darüber nachher oben aus „Der Kunst im Leben des Kindes“ heraussuchen und dir auch eine Adresse angeben, wo du künstlerische Dekorationen für Puppentheater und Vorlagen für die Figuren beziehen kannst.“
„Will ich gar nicht haben,“ sagte Hansheinrich, der auf seine Leistungen stolzer war wie Friedrich der Große auf sein Flötenspiel und sich in seinem Tiefsten angegriffen und beleidigt fühlte. „Bitte, behalte deinen künstlerischen Kram und deine künstlichen Ansichten für dich allein. Wir machen es auf unsre eigne Art und wissen selbst am besten, was uns und den Kindern Freude macht.“
Und dann lief Hansheinrich zu seiner Frau, wie er das immer zu tun pflegte, wenn jemand ihn geärgert hatte. Die Tante ließ den roten Teufel zwischen ihren Fingern tanzen und sah den Doktor mit ein paar dunklen, bösen Augen an. „Sie sollten uns nicht die Freude verderben, Herr Doktor. Ich glaube nicht, dass es auf der ganzen Welt ein schöneres Puppentheater gibt, jedenfalls gibt es keins, an dem mit mehr Liebe und Freude gearbeitet worden ist. Und das ist die Hauptsache. Das Künstlerische, was Sie da immer betonen, mag schon richtig sein, wenn man Zeit und Geld dafür übrig hat. Aber so wichtig ist’s gar nicht. Und zu Weihnachten ist es schon gar nicht die Hauptsache. Da kommt’s doch auf ganz andres an, auf die Liebe, die man zu geben hat und auf die rechte Weihnachtsfreude. Und wenn wir nur davon genug für uns und die Kinder in Herz und Haus haben, dann ist alles andre Nebensache.“

Und dann nähte die Tante eifrig weiter an ihrem Puppenkram und gönnte dem armen Doktor keinen Blick und kein gutes Wort mehr. Hansheinrich und seine Frau waren mittlerweile auch im Zimmer erschienen; der Doktor murmelte etwas wie eine Entschuldigung, und dann verabschiedete man sich kühl und höflich voneinander. —
Doktor Blomeier tat an diesem Abend das Gelübde, dass er sich mit keinem Wort und keinem Gedanken mehr um diese Hannemanns und ihre unkünstlerische Art, Weihnachten zu feiern, bekümmern wollte. Mit großem Eifer widmete er sich dagegen den Vorbereitungen für seine eigne Festfreude. Er bestellte sich ein umfangreiches, kunsthistorisches Werk und eine seltene Bronze, eine Artemis, ein kostbares Stück, das er sich schon lange gewünscht hatte. Auch einen amerikanischen Klubsessel gedachte er sich selbst zu schenken.
Frau Michels bekam ein reichliches Geldgeschenk, und sie lohnte es ihm durch ganz besondere Aufmerksamkeiten auf dem Gebiete der Kochkunst. Des Doktors diesjährige Weihnachtsmenüs waren großartig zusammengestellt. Trotz alledem war Doktor Blomeier am Heiligabend nicht so glücklich, wie er von Rechts wegen hätte sein müssen. Natürlich waren wieder Hannemanns daran schuld mit ihrer rücksichtslosen, lauten Art, Weihnachten zu feiern. Den ganzen Tag lang war’s ein unaufhörliches Klingeln und Treppenlaufen gewesen. Unglaublich, was diese Leute an Paketen zugeschickt bekamen! Und einen Weihnachtsbaum hatte der Doktor ins Haus tragen sehen, von einer Höhe und Schönheit, die in gar keinem Verhältnis zu ihren finanziellen Verhältnissen stand.
Die Kinder waren natürlich auch lauter und ungezogener als sonst, namentlich das Kleinste schrie mehr denn je. Der Doktor hatte gar nicht geahnt, dass dies Haus so hellhörig war. Wenn er nur nicht immer hätte hinunter horchen müssen! Aber es war so totenstill bei ihm da oben… Frau Michels hatte sich auch entfernt, um eine Cousine im Stift zu besuchen. Und nachher wollte sie noch einmal bei Hannemanns vorsprechen. Frau Oberlehrer hatte sie eingeladen, sich die Bescherung anzusehen.

Eigentlich hatte Doktor Blomeier auch erwartet, dass man ihn einladen würde. Und dann wollte er eigentlich absagen: er habe es am Heiligabend zu schön und behaglich im eignen Heim. Das wollte er Hansheinrich zu verstehen geben. Aber der hatte ihm gar keine Gelegenheit dazu gegeben. Und nun klingelte er da unten mit der großen Schulglocke, die er sich eigens für diesen Zweck geliehen hatte, dreimal und jedesmal anhaltender und lauter. Dann hörte man eine Weile ein Durcheinander von vielen Stimmen und das Geschrei des Babys: Natürlich — das brüllte ja stets in allen feierlichen Momenten. Jetzt spielte Hansheinrich auf dem Klavier: „O du fröhliche –“ Und dann sangen sie ein Weihnachtslied nach dem andern, es war wirklich nicht zum Aushalten!

Es erheiterte den Doktor auch nicht, dass Frau Michels später auf der Bildfläche erschien und ihn von Hannemanns Bescherung unterhielt. Zu schön war’s gewesen! Einen Baum hätten sie gehabt bis unter die Decke und bis obenhin voll von Lichtern und Zuckerzeug und roten Äpfeln und goldenen Nüssen, alles, wie es sich gehörte, und die ganze Weihnachtsgeschichte darunter mit Ochsen und Eseln, die Oberlehrer Hannemann selbst geschnitzt hatte. Und ein Theater war da für die Kinder gewesen, auch von ihrem Vater angefertigt, so etwas wunderbar Schönes hatte Frau Michels in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. Und eine Vorstellung war darauf gegeben worden — so ein rührendes Stück, und wie die Kinder gelacht hätten, es ging einem wirklich aufs Gemüt!
Doktor Blomeier verhinderte Frau Michels energisch daran, ihm auch noch den Inhalt des rührenden Schauspiels genauer mitzuteilen, und schickte sie zu Bett. Als dann so um Mitternacht herum alles im Hause ganz still geworden war, wurde es dem Doktor erst recht einsam zumute. Über die Schritte da oben über seinem Zimmer hatte er auch nicht mehr zu klagen. Aber seit er einmal beim Nachhause kommen spät abends noch Licht in Hildes Fenster gesehen hatte, quälte ihn der Gedanke, dass sie abends im Bett las und lernte. Bei ihrer hochgradigen, jugendlichen Unvernunft war ihr das vollständig zuzutrauen. Und wenn sie dabei einschlief und das Licht umwarf und sich und den Dicken und das ganze Haus ansteckte? —
Aber was ging ihn das fremde Mädel an und warum war er nicht glücklich und zufrieden heute abend oder vielmehr, warum war er nun schon solange wirklich kreuzunglücllich? —
In dieser stillen Nacht fand Doktor Blomeier den Mut zur Wahrheit. Er zog das Fazit seines Lebens. Er versuchte noch einmal, alles zusammenzurechnen, was er sich mit seiner Lebenskunst an echtem Lebensglück erworben hatte. Und dann fand er, dass da gar nichts war, nichts, gar nichts, nur Schulden, Schulden an sich selbst und an seine Mitmenschen.
Was hatte sein System und seine ganze Lebensphilosophie nur so schnell und gründlich über den Haufen geworfen? Vielleicht hätten sie der Influenza und dieser Vorweihnachtszeit standgehalten — wenn nicht die Tante gewesen wäre. Der Doktor war heute Abend ehrlich genug, sich einzugestehen, was er schon lange wusste: Dies junge Mädel mit dem Lachen in den Augen und der großen Herzensgüte hatte es ihm angetan und war Schuld daran, dass es mit all seiner Lebenskunst und all seiner früheren Weisheit so ganz zu Ende war. Was hatte Hansheinrich damals gejagt: Einer hilft immer dem andern, das ist das einzig Wahre im Leben. —
Sein ganzes Leben war ein schlimmer Irrtum gewesen. Ob Hilde ihm helfen würde, das einzig Wahre zu suchen? Mit ihr zusammen musste sich der Weg schon finden lassen. Aber sie war so jung und hell, und er war ein alter Egoist, ein Pedant, ein Genußmensch. Er musste wohl allein ausessen, was er sich eingebrockt hatte. In diesen Gedanken saß Doktor Blomeier die halbe Nacht hindurch in seinem neuen Klubsessel vor der anmutvollen Bronze und dem großen Stapel neuer Weihnachtsbücher.

In den Feiertagen hatte Doktor Blomeier Zeitgenug, diese Gedanken weiter auszuspinnen. Die Welt draußen lag weich und weiß in Frost und Schnee und kein Mensch bekümmerte sich um ihn. Auch von Hannemanns war nicht viel zu sehen, sie schienen genug mit sich selbst und ihrer Festfreude zu tun zu haben.
Am zweiten Feiertag nachmittags, als der Doktor in die frühe Dämmerung hinausstarrte, sah er die Tante, fertig zum Ausgehen, in den Garten kommen. Ohne jedes weitere Besinnen griff er nach Hut und Paletot und rannte hinter ihr her. Er traf sie noch vor dem Hause. Sie schien es nicht eilig zu haben und probierte die Schlittenbahnen aus, die Hannemanns Söhne sich angelegt hatten, eine Beschäftigung, die dem Doktor sonst recht wenig passend für junge Damen erschienen war, die er aber in diesem besonderen Falle von Herzen segnete.
Er sagte irgend etwas vom Wetter und ob er sie ein Stück Weges begleiten dürfte. Sie nickte und ging langsam neben ihm her der Stadt zu, die Hände im Muff, auf dem dunklen Haar eine neue weiße Pelzmüße, die ihr besonders gut stand.
„Ich bin so froh, dass ich mit Ihnen gehen darf,“ sagte er. „Ganz allein bin ich gewesen und mit keiner Menschenseele habe ich gesprochen diese ganzen, langen Feiertage. Bei Ihnen war’s wohl anders, gut und froh?“
„Fein war’s! Wir hatten einen wundervollen Weihnachtsbaum und so glückliche Kinder. Und das Puppentheater war ein Hauptglück. Hansheinrich hat’s aber auch großartig gemacht. Wenn Sie nur eine Vorstellung mit angesehen und den Jubel gehört hätten, würden Sie alle Ihre Bedenken schon zurücknehmen.“
„Ich würde es so gern einmal sehen,“ sagte er ernsthaft „Ich habe damals die Sache wohl falsch aufgefasst, und in der Praxis ist das immer ganz anders als in der Theorie. Ich wagte nur nicht, zu Ihnen herunterzukommen, und habe da oben in all der Einsamkeit und Öde herumgesessen.“
„Und wir dachten, Sie hätten es so Schön ruhig zwischen all Ihren Kunstsachen — “
„Daran habe ich keine Freude mehr,“ sagte er ernst. „Damit und mit all meiner Lebensweisheit und Lebenkunst ist’s ganz zu Ende. Sie haben es mir damals schon gesagt, dass man zu Weihnachten etwas ganz andres braucht. Und dies Andre fehlte mir eben. Vielleicht, dass ich’s finden könnte, wenn Sie mir helfen wollten. Sie haben alles, was mir fehlte, soviel Liebe und Freude Sie wissen gar nicht, wie einem Menschen zumute ist, der so ganz arm und einsam zu Weihnachten dasteht — nicht einmal einen Christbaum habe ich gesehen und keinen frohen, glücklichen Menschen.“
„Wollen Sie heute abend zu uns kommen?“ fragte sie leise. „Ich will Hansheinrich fragen. Und wir könnten unsern Weihnachtsbaum noch einmal anzünden, ich glaube freilich, die Lichter sind schon alle heruntergebrannt.“
Sie sah ihn von der Seite an. In ihren Augen war das alte Lachen und eine neue Liebe. Das gab ihm Mut.
„Wir kaufen neue Lichter,“ sagte er warm. „Es gibt genug auf dem Weihnachtsmarkt. Aber Sie müssen mitkommen und mir dabei helfen.“
So gingen sie miteinander in die weiße Dämmerung hinein, um Lichter für seinen Weihnachtsbaum zu kaufen.

— Ende. —

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