Madame Curie und die Kraft zu träumen (Susanne Leonard)

 In Historischer Roman

Madame Curie und die Kraft zu träumen

Inhalt:

Ein Post über Marie Curie auf facebook anlässlich ihres Geburtstages bekam ein besonders tolles Feedback (10,6 k likes, 2153 mal geteilt, über 500 Kommentare). Grund genug, mich intensiver für diese herausragende Wissenschaftlerin zu interessieren. Wie verlief ihr Leben und wie war Marie Curie so als Mensch?

Im Buch erzählt Marie ihr Leben als Rückblende. Mitte der 20er Jahre heiratet ihre Tochter – als bereits ältere Dame ist Marie zu dieser Zeit eine von allen bewunderte Wissenschaftlerin, die ihr bisheriges Leben reflektiert. Angefangen von von ihrer Kindheit in Warschau wuchs sie in eher kleinbürgerlichen Verhältnissen, jedoch mit einem liebevollen Elternhaus, auf. In dieser Zeit fallen aber auch die ersten Schicksalsschläge, die sie zu bewältigen hat – zwei nahe Familienangehörige sterben. Die herausragende Schülerin Marie hat mit der Obrigkeit in Form der russischen Besatzer zu kämpfen – und muss sich nach besten Abschlüssen ihr Brot als Lehrerin für die Kinder gutbetuchter Familien verdienen.

Aber es wird auch von glücklichen Momenten erzählt – ihrer ersten Liebe, den längeren Aufenthalten bei ihren polnischen Verwandten auf dem Land und dem engen Verhältnis zu ihren Geschwistern, vor allem den Schwestern. Als sie nach Paris zum Studium gehen kann, ist sie überglücklich. Auch dort erreicht sie durch ihr Talent, gepaart mit Fleiß und Ehrgeiz beste Ergebnisse – ein Stipendium ermöglicht ihr, das Studium der Physik und Mathematik erfolgreich abzuschließen. Nachdem sie hin- und hergerissen ist, ob sie zurück nach Polen gehen oder in Paris bleiben soll, erleichtert ihr Pierre Curie die Entscheidung. Die beiden sind zunächst Forschungskollegen, aber es wird Liebe daraus! Sie heiraten und bekommen zwei Töchter.

Auch politische Ereignisse (z.B. die russische Besatzung ihrer polnischen Heimat) werden nicht ausgespart, im Fokus stehen aber ihre persönlichen Erlebnisse. Der Roman erzählt auch von ihren Erfahrungen als Frau als Wissenschaftlerin ernst genommen zu werden. Immer wieder erfährt sie hier Demütigungen und Kränkungen. Ihr Mann Pierre ist ihr jedoch eine wichtige Stütze, der sie immer wieder aufbaut. Sie sind sowohl bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit als auch privat ein tolles Team. Es ist ein weiterer schwerer Schicksalsschlag als er bei einem Unfall ums Leben kommt. Jedoch hatte sowohl er als auch sie zuvor schon gesundheitliche Probleme – verursacht durch die viele Strahlung, der sie sich bei ihren Experimenten aussetzten.

Es gelingt der Autorin, mit dem Roman anhand ihrer Lebensstationen ein gelungenes Porträt von Marie Skłodowska-Curie zu zeichnen, welches mir die fast überirdische Wissenschaftlerin menschlich näher gebracht hat.

Textauszug:

S. 22-33:

***

»Das klingt, als dächten Sie an eine bestimmte Zeit, Madame le Professeur«, sagt die Witwe des Bürgermeisters.

»An eine ganz konkrete Unterrichtsstunde sogar.« Madame Curie lehnt sich zurück, faltet die Hände im Schoß und richtet ihren Blick auf das Blumengebinde, das Marguerites Mutter auf dem Grab ihres Mannes in einer kupfernen Blumenvase arrangiert hat. Vogelbeeren und weiße Chrysanthemen. »Es muss in der dritten oder vierten Klasse gewesen sein.« Aus einer der großen Blüten scheint ihr das blasse Gesicht ihrer eigenen Mutter entgegenzulächeln. Sie atmet gegen die Wehmut an, die sie so oft befällt, wenn sie an ihre Mutter denkt, atmet noch einmal tief, und dann erzählt sie.

»Meine Eltern waren Lehrer, müssen Sie wissen, Mesdames, und etwas anderes, als auch eine Lehrerin zu werden, ist mir lange Zeit überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Ich glaube, ich wollte schon damals eine Lehrerin werden, als ich in jenem Klassenzimmer saß und meine Schwester Helena Veilchen auf ein weißes Seidentuch stickte. Meine Schwester Helena, die ich heute noch Hela nenne.«

»Das sind Sie ja auch geworden, Madame le Professeur.« Marguerite beugt sich zu ihr und berührt ihre Schulter. »Meine Lehrerin sind Sie geworden.«

»Das stimmt, ja.« Madame Curie lächelt, als sei der Gedanke ganz neu für sie und als würde er ihr Freude machen. »Sie müssen eines wissen, Mesdames«, fährt sie fort,

»ich bin in einem Teil Polens groß geworden, der von den Russen regiert wurde. Dort hatten Frauen nicht die geringste Ausicht auf eine höhere Bildung. Wir Polen durften ja in der Schule nicht einmal unsere Muttersprache sprechen. Wehe, ein Lehrer oder eine Lehrerin unterrichtete uns auf Polnisch! Nicht wenige, die es trotz des strengen Verbotes wagten, mussten ihre besten Jahre in einem Arbeitslager in Sibirien fristen …«

2 Iwanow Warschau, Winter 1875

Tupcia erzählte, und zwanzig Mädchen hingen an ihren Lippen. Eigentlich hieß Tupcia Fräulein Tupalska, doch die Mädchen benutzten nur ihren Spitznamen, wenn sie über ihre Lehrerin sprachen. Tupcia erzählte auf Polnisch. Und sie erzählte von polnischen Königen, polnischen Heerführern, polnischen Siegen, polnischen Rebellen.

Mania schaute hinauf zu der kleinen dicklichen Frau mit dem breiten, etwas derben Gesicht, die vor der Klasse auf ihrem Katheder thronte. Jedes ihrer Worte sog sie in sich auf, denn Tupcias Geschichtsunterricht fand sie beinahe noch spannender als ihren Mathematikunterricht. Manchmal deutete die Lehrerin von ihrem Katheder herab auf eines der Mädchen und stellte eine Frage. Auf Polnisch. Und das angesprochene Mädchen stand auf und antwortete auf Polnisch.

Draußen vor den hohen Fenstern schneite der Schnee die Bäume, die Wege und die Wiesen des Sächsischen Gartens weiß, an den die kleine Warschauer Privatschule grenzte; hier drinnen lauschten etwa zwanzig Mädchen polnischer Geschichte. Konzentrierte Stille herrschte. Das Ver- botene zu tun – Polnisch sprechen, noch dazu über polnische Geschichte – schweißte die Schülerinnen und ihre Lehrerin zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen.

Tupcia stieg von ihrem Katheder herunter, um den Namen eines polnischen Königs an die Tafel zu schreiben. Mania schaute in das Schneetreiben vor dem Fenster, und sofort stand ihr wieder das liebe Gesicht der Mutter vor Augen. Mutter – ihr erster Gedanke beim Aufstehen, ihr letzter vor dem Einschlafen.

Die Mutter war nicht zu Hause. Schon seit Monaten nicht. Sie erholte sich in einer Stadt namens Nizza von einer Krankheit, deren Namen noch keiner vor Manias Ohren ausgesprochen hatte. Sosehr sie auch grübeln mochte, die Krankheit ihrer Mutter blieb ihr ein Rätsel. Damit die Mutter nicht traurig wurde vor Einsamkeit, hatte der Vater entschieden, dass Manias große Schwester Sofia sie nach Frankreich begleitete.

Mania vermisste beide. Oft so sehr, dass es wehtat und sie weinen musste.

Von der fernen Mutter mit ihrer rätselhaften Krankheit flogen Manias Gedanken zur Mutter ihrer Freundin Kazia, die sie heute Morgen auf der Vortreppe des Schulportals beobachtet hatte – die hatte ihre Tochter zum Schulhaus begleitet und Kazia zum Abschied in den Arm genommen und geküsst.

Das zu beobachten, hatte Mania traurig gemacht. Weil ihre Mutter sie nicht zu Schule bringen konnte? Wahrscheinlich auch deswegen. Vor allem aber, weil ihre Mutter sie noch nie umarmt und geküsst hatte. Jedenfalls konnte sie sich an keine Umarmung und keinen Kuss der Mutter erinnern. Tante Lucia dagegen – die Schwester des Vaters, die oft im Haushalt aushalf –, ja, die küsste und umarmte Mania und die Geschwister.

Von ihrem Fensterplatz in der dritten Reihe aus lugte sie hinüber in die Mitte der vorderen Reihe, wo ihre Schwester Helena neben der geküssten Kazia saß. Ganz bestimmt hatte Hela die zärtliche Umarmung zwischen Mutter und Tochter auch beobachtet; sie waren ja zusammen zur Schule gekommen. Ob der Anblick sie genauso traurig gemacht hatte?

Wie alle Mädchen in der Klasse trugen Hela und Kazia straff geflochtene Zöpfe und die vorgeschriebene dunkelblaue Schuluniform mit den blanken, stählernen Knöpfen. Kazia und Hela waren ein Jahr älter als Mania, viele Mädchen der Klasse sogar zwei Jahre älter sie. Mania, die noch nicht ganz Achtjährige, war dennoch die Klassenbeste. In Mathematik, in Geschichte, in allem. Manchmal gefiel ihr das, öfter jedoch war es ihr peinlich, ja unangenehm, denn manche Mädchen der Klasse ärgerten sich darüber.

»Natürlich küsst uns die Mama!«, hatte Hela behauptet, als Mania sie danach gefragt hatte. »Was denkst du denn?! Die Mama ist nur ein bisschen krank.«

Beides stimmte nicht. Sie, Mania, war noch nie von der Mutter geküsst worden. Und die Mutter war auch nicht nur ein bisschen krank, sondern sehr krank. Sonst würde sie ja nicht schon fast ein Jahr in Frankreich leben, am Meer. Zur Kur, wie der Vater das nannte. Es war bereits die zweite Kur der Mutter. Beide hatten den Vater viel Geld gekostet. Und Mania viele Tränen.

Hoffentlich half es der Mutter im fernen Nizza, jeden Tag Manias große Schwester Sofia um sich zu haben; hoffentlich half es ihr gegen Einsamkeit und Traurigkeit. Mania half es nicht. Sie verehrte und liebte ihre große Schwester, wie andere eine Heilige liebten und verehrten. Sofia nahm sie wenigstens hin und wieder in den Arm und küsste und herzte sie.

»Was kannst du uns über diesen polnischen Herrn sagen, Maria Skłodowska?« Tupcia deutete auf den Namen, den sie an die Tafel geschrieben hatte. Hatte sie etwa gemerkt, dass Manias Gedanken abgeschweift waren?

Mania, die nur außerhalb der Familie mit ihrem richtigen Vornamen Maria angesprochen wurde, stand auf und sagte, was sie wusste: dass die polnischen Grafen und Ritter Stanislaus August Poniatowski 1764 zum polnischen König gewählt hatten, dass er ein sehr gebildeter Mann gewesen war, der die Literatur und die Musik liebte, dass er die Ordnung im Staate Polen wiederherstellen wollte und dass ihm das nicht gelungen war. Das alles sagte sie natürlich auf Polnisch.

Tupcia nickte zufrieden, stieg zurück auf ihren Katheder und nahm wieder das polnische Geschichtsbuch zur Hand, aus dem sie zitiert hatte. Mania setzte sich, und ihre Lehrerin erklärte, dass der König Stanislaus August leider kein sehr mutiger Mann gewesen sei.

In diesem Augenblick ertönte die Schulglocke.

Plötzlich herrschte Totenstille im Klassenraum. Alle saßen kerzengerade und wie erfroren. Tupcia ließ das Buch fallen und hob abrupt den Kopf. Mania hielt den Atem an, denn das derbe und sonst so rosige Gesicht ihrer Lehrerin hatte auf einmal die Farbe von Schnee.

Die Unterrichtsstunde war noch nicht einmal zur Hälfte vorüber, und dennoch läutete die Schulglocke?

Jedes Mädchen wusste, was das zu bedeuteten hatte, und Tupcia wusste es auch: eine Warnung des Hausmeisters! Ein russischer Inspektorenbesuch stand kurz bevor!

Und dann ging alles blitzschnell: Tupcia zischte ein paar Kommandos, packte ihr polnisches Geschichtsbuch, raffte auch alle anderen polnischen Bücher zusammen und sprang vom Katheder. Zwei Mädchen aus der vorderen Reihe wischten den Namen des polnischen Königs von der Tafel, während andere Hefte und Bücher von den Pulten der Schülerinnen einsammelten und zu den Mädchen schafften, die in der ersten Reihe dicht an der Tür zu den Schlafsälen saßen. Die sammelten alles in den Schürzen ihrer Schuluniformen und trugen die verräterischen Sachen aus dem Unterrichtsraum in die Schlafsäle.

Lärm und hektisches Treiben erfüllten den Raum. Türangeln quietschten, Stuhlbeine scharrten, Kleider raschelten, Schuhsohlen knallten über den Boden, geflüsterte Anweisungen schwirrten durch die Luft, Pultdeckel knarrten und fielen wieder zu.

Mania warf ihr Handarbeitszeug auf das Pult, sprang ans Fenster und schaute in das Schneetreiben hinaus: Eine prächtige Kutsche mit einem Gespann aus vier Pferden stand vor dem Tor des Sächsischen Gartens. Schnee bedeckte das Kutschendach und die Schabracken der Pferde. Von demjenigen, den die Pferde durch Warschau gezogen und hierhergebracht hatten, sah Mania nur die Spuren im Schnee auf dem Weg zwischen Tor und Vortreppe. Der russische Inspektor war längst im Haus.

Kurze Zeit später saßen alle wieder auf ihren Plätzen. Tupcia, auf ihrem Katheder, las aus einem russischen Erzählband, und die Mädchen beugten sich beflissen über ihre Stickrahmen, Näh- und Häkelarbeiten und ließen die Nadeln mit den bunten Fäden ein- und auftauchen.

Mania stickte rote und gelbe Blumen auf eine dunkelgraue Schürze, die sie Sofia beim Wiedersehen schenken wollte. Ängstlich lauschte sie den Schritten, die draußen im Treppenhaus nun immer deutlicher zu hören waren. Bald hörte sie auch Stimmen, und dann, ohne dass jemand geklopft hätte, wurde die Tür aufgerissen.

Ein großer massiger Mann trat in den Unterrichtsraum. Schmelzender Schnee lag auf seiner Pelzmütze und den Schultern seines Pelzmantels. Unter dem Pelz trug er gelbe Hosen und einen blauen Rock mit goldglitzernden Knöpfen. Hinter seiner Goldrandbrille zuckten unruhige und hellwache Augen hin und her.

Die Vorsteherin, Madame Sikorska, folgte ihm und schloss die Tür hinter sich. »Ihr kennt ja den Herrn Inspektor.« Sie wusste natürlich Bescheid, unterrichtete ja selbst auf Polnisch, wann immer es möglich war. »Wollt ihr ihn nicht begrüßen?«

29

Mania und die Mädchen standen auf und riefen im Chor: »Guten Morgen, Herr Inspektor!«

Langsam und die Arme auf dem Rücken verschränkt, schritt Iwanow an der ersten Bankreihe vorbei zu Tupcias Katheder hin, dabei ließ er seinen hellwachen Blick über die Gesichter der Mädchen wandern. Schmelzwasser tropfte von seiner Pelzmütze, und die Absätze seiner Stiefel hinterließen kleine Pfützen auf den Bodendielen.

Der Inspektor hieß Hornberg, nicht Iwanow, doch Ma- nia nannte ihn nur nach dem Namen jenes russischen Schul- direktors, der ihren Vater dabei ertappt hatte, wie er seinen Schülern patriotische Gedichte polnischer Dichter vorgelesen hatte. Auf Polnisch natürlich. Daraufhin hatte der Direktor Iwanow dem armen Vater seinen Lehrerposten im staatlichen Gymnasium weggenommen.

Alle russischen Männer, die sie hasste, nannte Mania seitdem Iwanow.

Unter dem forschenden Blick des Inspektors hielt sie den Atem an. Die Vorsteherin nickte den Mädchen zu und bedeutete ihnen, sich wieder zu setzen. Mania bewunderte die zierliche Frau mit dem weißen Haar, die alle nur »Madame Sikorska« nannten. Sie hatte in Paris studiert, wie Mania vom Vater wusste; er vermutete, dass die Vorsteherin sich deswegen gern so nennen ließ.

Mit wie viel Mut Madame Sikorska diese Privatschule leitete! Mit wie viel List sie das ausgeklügelte System immer mehr verfeinerte, mit dem ihre Schule schon seit Jahren die russischen Inspektoren hinters Licht führte. So stand zum Beispiel Botanik auf dem offiziellen Stundenplan, wenn polnische Geschichte unterrichtet wurde, und Deutsch für polnische Literatur. Mania und ihre Mitschülerinnen hatten diesen Geheimcode längst verinnerlicht.

Während Iwanow vor Tupcias Katheder stehen blieb und ihr das Buch aus der Hand nahm, senkte Mania den Kopf, machte sich so unauffällig wie möglich und versuchte, sich ganz auf ihre Stickerei zu konzentrieren. Bald würden die Mutter und Sofia aus Nizza zurückkehren, in zwei Monaten ungefähr – bis dahin wollte sie die letzte bunte Blume auf der Schürze für die große Schwester zum Blühen gebracht haben.

»Was lesen wir denn hier Schönes vor, Fräulein?« Iwanow schlug das Buch zu und betrachtete den Umschlag. »Erzählungen von Krylow, soso.«

»Wir haben heute erst damit begonnen, Herr Inspektor Hornberg.« Tupcia log, ohne rot zu werden; nicht einmal ihre Stimme zitterte.

»Eine lohnende Lektüre, ja, ja.« Iwanow gab ihr das Buch zurück und schritt langsam und dicht an der ersten Reihe der Schülerinnen entlang, wobei sein Blick zufrieden über ihre Stickereien und Näharbeiten wanderte. »Sehr brav«, sagte er, »sehr schöne Handarbeiten, weiß Gott.«

»Wir unterrichten zweimal die Woche Handarbeit an unserem Pensionat, Herr Inspektor.« Auch Madame Sikorska bewahrte die Miene eines Unschuldsengels. »Eine gute Gelegenheit, unseren Mädchen russische Literatur zu Gehör zu bringen.«

»Das will ich meinen.« Iwanow blieb vor Hela und Kazia stehen, beugte sich zu Hela hinunter und nahm ihr den Rahmen mit dem Taschentuch aus den Händen, das sie der Mutter bei ihrer Rückkehr aus Nizza schenken wollte. »Ah – Vergissmeinnicht auf weißer Seide! Schön, schön.«

Er gab der erschrockenen Hela ihre Handarbeit zurück und ließ seinen Blick, der nun etwas Bohrendes, ja Lauern- des hatte, wieder von Mädchengesicht zu Mädchengesicht wandern. »Doch ihr lernt sicher noch weitaus mehr in dieser Schule, als nur brav zu sticken und zu häkeln, nicht wahr?« Einige Mädchen nickten. »Und wer mag es mir beweisen?« Iwanow drehte sich nach Tupcia um und zog fragend die Brauen hoch.

Nun war es Tupcia, die ihren Blick von Mädchen zu Mädchen wandern ließ. Mania senkte den Kopf noch tiefer. Bitte gib, dass sie nicht mich aufruft, betete sie innerlich, bitte nicht wieder mich, lieber Herr Jesus Christus.

»Maria Skłodowska!« Wie ein Schlag ins Gesicht traf sie Tupcias Stimme, die nun tatsächlich ihren Namen rief. Sie hatte es geahnt – immer, wenn eine russische Inspektion die Schule ereilte, musste sie herhalten, um russlandtreuen Unterricht zu beweisen. Das hatte man davon, wenn man in allem die Beste war!

Mania ließ den Stickrahmen mit Sofias Schürze sinken und stand auf. Wie sie das hasste, wenn aller Blicke sich auf sie richteten. Ein Kloß im Hals machte ihr das Atmen schwer.

Iwanows Blick musterte sie von oben bis unten. »Sag mir das Gebet auf«, verlangte er. Mania wich seinem Blick aus, presste die Lippen zusammen und schluckte die Tränen hinunter.

Das Gebet – er meinte natürlich das Vaterunser. Und dieser gemeine Mensch wollte sie das Vaterunser auf Russisch beten hören! Polnische Kinder lernten von klein auf auf Polnisch zu beten. Auf Polnisch beten lernen heißt polnisch glauben, hoffen und fühlen lernen, hatte die große Schwester Sofia ihr erklärt. Und die Mutter pflegte zu sagen: »Sie zwingen polnische Kinder, auf Russisch zu beten, um ihnen die polnische Seele auszutreiben.«

Mania bekreuzigte sich, schloss die Augen und legte die Hände zusammen. Alles in ihr sträubte sich, doch sie begann dennoch das Vaterunser auf Russisch zu beten.

»Lauter!«, verlangte Iwanow. Sie betete lauter, schämte sich für den Verrat und spürte zugleich den brennenden Hass auf Iwanow, während sie das Vaterunser in der Sprache der Unterdrücker betete. Der Hass machte ihre Stimme fester, und nicht nur ihre Stimme – auch ihr Wille, den Demütigungen der zaristischen Herrschaft zu widerstehen, bis ihr Vaterland sie eines Tages abgeworfen haben würde, auch dieser Wille wurde mit jedem Satz fester, den sie das Vaterunser auf Russisch betete.

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Gretes Fazit

(für alle, die…mögen) :

+ Roman-Biographien bedeutender Frauen

+ gelungene Beschreibung des Berufs- und Privatleben

+ persönliche Einblicke in den Alltag in Polen Ende des 19. Jahrhunderts

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Über die Autorin

Susanna Leonard wuchs in Karlsruhe und in Paris auf und liebt bis heute das französische Savoir-vivre. Ihre Bewunderung für mutige Frauen und ihre Liebe zu Paris brachten sie auf die Idee, einen Roman über eine der bekanntesten Persönlichkeiten, die in Paris gewirkt haben, zu schreiben: Marie Curie. Mit der Veröffentlichung von Madame Curie und die Kraft zu träumen ging für die Autorin ein Herzenswunsch in Erfüllung.

Der Roman ist im Ullstein Verlag erschienen.

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