Eine Schneiderin

 In Originaltexte Preisausschreiben Gartenlaube

Eine Schneiderin

Eine Geschichte aus dem Preisausschreiben „Vor den wirtschaftlichen Kampf gestellt“

Wer mehr Informationen zum Preisausschreiben von 1905 lesen möchte, kann hier weiterlesen.

Meine siebzehnjährige Schwester hatte, als unser Vater gestorben war, gemeinsam mit unserer Mutter die ernste Pflicht, uns vier jüngere Geschwister und die Großmutter, welche immer im Hause unserer Eltern gelebt hatte, zu ernähren, als etwas Selbstverständliches übernommen. Mutters Einnahme bestand in den Erziehungsgeldern der Kinder; diese deckten gerade die Miete. Sie sowie ihre Mutter, als Witwen städtischer Beamten, bezogen keine Pension, auch sonst keinerlei Zuschuss. Die drei ältesten Brüder waren bereits beim Militär, von ihnen war nichts zu erwarten. Bei Lebzeiten des Vaters hatte die Schwester die Schneiderei erlernt und nach dessen Tode durch Fleiß und Geschicklichkeit sich einen Kundenkreis erworben. Soweit es sich mit den Hausfrauenpflichten vereinte, half meine Mutter bei der Schneiderei. Auch hatte die Schwester 3 bis 4 Lehrmädchen, die ihr 3 Mark monatlich und nette Hilfsleistungen einbrachten. In diesen Jahren ging es zwar sehr knapp bei uns her, aber von eigentlicher Not merkten wir Kinder nichts.

Eines Abends, meine Schwester war inzwischen 23 Jahre, ich 16 alt geworden, saßen wir beide gemütlich plaudernd in der kleinen Wohnstube auf dem Sofa. Ohne Veranlassung neigte sie den Kopf hintenüber, stieß einen seltsamen Laut aus und sah mich mit starren Augen an. Sie war vom Schlag gerührt, und zwar so unglücklich, dass sie der Sprache und der Bewegung beider Arme und Beine beraubt war.

Nach ihrer Konfirmation hatte sie ein halbes Jahr an Rheumatismus zu Bett gelegen und einen Herzfehler zurückbehalten, dieser war die Veranlassung des Schlaganfalls. Sie, die sich in rührender Selbstlosigkeit für uns geopfert, sie lag jetzt unsäglich leidend und, wie der Arzt gleich feststellte, ohne Hoffnung auf Genesung darnieder. Das war zu viel für unsere liebevolle, sonst immer seelenstarke, fromme Mutter. Sie brach vollständig zusammen und weinte, weinte, weinte! . .

Unsere 80jährige Großmutter lag schon lange an einem bösen Fußleiden fest zu Bett. Der vierte noch zu versorgende Bruder war kürzlich zu einem Kaufmann in die Lehre getreten, Mutter aber hatte die Verpflichtung, ihn vier Jahre hindurch zu bekleiden. Meine zweitälteste Schwester nähte seit anderthalb Jahren zu Hause auf der Maschine, die jüngste Schwester war acht Jahre alt, für sie allein bekam Mutter nur noch Erziehungsgeld.

Ich hatte ein Jahr die Anfertigung von Paletots, Umhängen und dergleichen Bekleidungsstücken erlernt oder, richtig gesagt, erlernen sollen, denn mein beständig nach Freiheit, Luft und Sonnenschein dürstender Sinn blieb dieser Kunst gegenüber verständnislos. So waren die Verhältnisse in unserm Hause, als meine zweitälteste Schwester und ich an jenem Unglücksabend berieten, was jetzt geschehen solle. Diese Schwester erklärte, die Anfertigung von Kleidern auf keinen Fall übernehmen zu können, die Lehrmädchen müssten entlassen werden. Dem musste ich beistimmen. Aber Geld musste verdient werden!!

Mein heißer Wunsch, uns zu helfen, ließ mich zu der Überzeugung kommen, dass ich mit Hilfe eines guten Schnittmusters Kleider arbeiten könnte. Und den erprobten Schnitt hatten wir ja! Meine 16 Jahre entschuldigen diese Kühnheit. Die Hauptsache schien mir, die Kunden zu bewegen, die noch in unserm Hause befindlichen Stoffe mir zur Verarbeitung zu überlassen. Doch es kam besser, als ich fürchtete. Einige überließen sie mir aus Mitleid, andere, weil ich versprach, „recht billig“ zu sein, und alte, treue Freundinnen meiner Mutter brachten mir sogar Stoffe zum „Probieren“ und gaben mir die Versicherung, nicht böse zu sein und auch die Arbeit bezahlen zu wollen, wenn sie nicht gut ausfiele. Diese Kleider schnitt ich zuerst zu. Bevor ich mich aber daran wagte, las ich im letzten Jahrgang einer Modezeitschrift jede darin enthaltene Anleitung zur Schneiderei mehrere Male aufmerksam durch. Ich verkleinerte und vergrößerte Rock- und Taillenschnitt, zeichnete und schnitt ans Papier ganze Kleider, fügte sie zusammen und probierte sie meiner Schwester stundenlang an, bis diese verzweifelt ausrief: „Nun kann ich nicht mehr stehen!“

Auf diese Weise beschäftigte ich mich eine ganze Woche, dann erst wagte ich mich an den Stoff. Wusste ich nicht Bescheid, ging ich an das Bett der geliebten Kranken. Ich stellte die Fragen so, dass sie mit einer kaum merklichen Wendung oder Neigung des Kopfes, denn anders konnte sie ihn nicht bewegen, bejahend oder verneinend zu antworten hatte. Ihr Geist war klar. Aber niemals konnte ich, wie ich so gern wollte, mehrere Fragen hintereinander stellen; denn wenn ich in ihre großen, schönen, von Schmerz und Angst erfüllten Augen blickte, füllten sich die meinen mit Tränen, und die durften von der Kranken nicht gesehen werden.

Ach, es war eine grenzenlos traurige Zeit! Die grübelnden Gedanken ließen mich tags nicht genügend schaffen, nachts nicht schlafen. Ich gab mir die größte Mühe und war doch nie mit meiner Arbeit zufrieden. Zum Entsetzen meiner mit mir arbeitenden Schwester trennte ich oft alles, was wir beide stundenlang geschafft hatten, wieder auf. Wenn sie die Arbeit sehr gut fand, behauptete ich das Gegenteil. Diese Meinungsverschiedenheit blieb auch später unter uns. Da aber gewöhnlich „der Klügste immer nachgibt“, ging das fortwährende Trennen nach meinem Kopfe! War endlich ein Kleid mit Mühe und Not fertig geschafft, bat ich die Damen nochmals zur Anprobe. Zwei bis drei Stunden vorher konnte ich vor Aufregung kaum sprechen, erst wenn sich die Kundin zufrieden geäußert, wurde ich ruhig. Nachdem dann nochmals alle kleinen Mängel sorgfältig beseitigt waren, wurde das Kleid abgeschickt. Dass die in dieser traurigen Lehrzeit, mit Angst und Unsicherheit gearbeiteten Kleider gefielen und wir immer Beschäftigung hatten, habe ich wohl der anspruchslosen Kundschaft und meinen sehr bescheidenen Preisen zuzuschreiben. Aber diese Einnahme und ein unverhoffter Zuschuss, von dem ich gleich sprechen werde, halfen uns über das erste, schmerzvolle Jahr hinweg.

Nach diesem konnte ich schon zwei Lehrmädchen, später vier und nach einigen Jahren 12-15 Arbeiterinnen beschäftigen. Eines Morgens trat eine uns still beobachtende Flurnachbarin in mein Zimmer. „Kleines Fräulein“ sagte sie sehr freundlich, „so jemand ein Geschäft anfängt, gebraucht er Geld. Ich habe hier einer alten Sparkasse 300 Mark entnommen, und,“ setzte sie mit liebem Lächeln hinzu, „dem Gelde ist es lieb, mal in die Welt geschickt zu werden; nehmen Sie es, und nach zehn Jahren legen Sie es wieder in die alte Sparkasse zurück.“ Ich war in der glücklichen Lage, es schon nach fünf Jahren den milden, lieben Händen zurückgeben zu können.

Unsere mit den Jahren sich steigernden Einnahmen waren dringend notwendig geworden — gab es doch in allen Ecken zu ergänzen und neu zu beschaffen. Unserer geliebten kranken Schwester hatten wir die Kasse übergeben, die sie jetzt wie in ihren gesunden Tagen zu unserem Besten führte. Seit dem Tode unseres Vaters hatte Mutter die Kasse abgegeben — es war ihr zu schmerzlich, das sauer verdiente Geld ihrer Kinder anzunehmen. Im Laufe der Zeit hatte sich die Schwester so weit erholt, dass sie, auf uns gestützt, den rechten Fuß nachschleifend, kleine Strecken gehen konnte, aber die Sprache war unverständlich und die rechte Hand unbrauchbar geblieben. Aus ihren edlen Gesichtszügen sprach beständig ihr großer Seelenschmerz. Oft, wenn ich ihre langen, schweren Zöpfe flocht, sah ich Tränen auf ihre Hände fallen; weil sie sich diesen kleinen Liebesdienst von mir am liebsten erweisen ließ, leistete ich ihn ihr täglich bis zu ihrem Tode.

Sechs Jahre führte sie dieses beklagenswerte Dasein, dann geleiteten wir sie zur letzten Ruhestätte.

In diesem Jahre wurde unsere jüngste Schwester konfirmiert, von dieser Schwester will ich nur sagen, dass sie zart, rein und lieb war und von uns wie ein kleines Blümlein behandelt wurde, von dem Jammer, den ihre Krankheit ihr und uns bereitet, spreche ich nicht. Sie starb als stille, große Dulderin im 29- Lebensjahr an Nervenschwäche. Als ich meinen 30. Geburtstag verlebt hatte, war das Ende unserer 93-jährigen Großmutter gekommen. Ihre sehr berechtigten Schmerzensschreie (sie litt an Altersbrand) hatten sich so tief in meine Seele gebohrt, dass ich sie monatelang nach ihrem Tode wachend und träumend hörte.

Wenn ich während dieser vierzehnjährigen, rastlosen Tätigkeit für gesunde Geschwister und eine rüstige, alte Großmutter hätte schaffen können, hätte ich meine Aufgabe vielleicht ohne gesundheitlichen Nachteil erfüllen können. Aber schwer leidende, hinsterbende Jugend und lebensmüdes Alter stündlich vor Augen zu haben und dabei eine große Schneiderei zu führen, das überstieg meine Kraft. Die oft wiederholten bekümmerten Worte meiner Mutter: „Mein Kind, du wirst mir auch krank werden, gönne dir doch eine Erholungszeit“ hatte ich aus Furcht vor dem Verlust der Einnahme unbeachtet gelassen. Jetzt aber fühlte ich, dass ich Ruhe gebrauchte, meine Nerven waren aufs äußerste erschöpft. Ich schloss zum Ersten Mal auf vier Wochen die Arbeitsstube und ging in die Sommerfrische.

Hier in tiefer Waldeinsamkeit gelangte ein stillgehegter Wunsch zum festen Entschluss. Wohl hatte ich einen festen Kundenkreis, aber dieser bestand zumeist aus Damen, die über äußerst geringe Toilettengelder verfügten. Die Worte: „Ach bitte, recht billig“ hörte ich täglich mehrere Male. Aus diesem Grunde wurde mir nie Gelegenheit gegeben, elegante Kleider zu schaffen, und dazu hatte ich den größten Trieb. Außerdem schien es mir notwendig, für etwaige Unglücksfälle ein kleines Kapital zurückzulegen. Das war bisher bei den niedrigen Fassonpreisen und verhältnismäßig hohen Arbeitslöhnen nicht möglich gewesen. Ich beschloss also, mich in einer größeren Stadt niederzulassen. Wieder zu Hause angelangt, unterbreitete ich diesen Plan meiner Mutter.

Sie schüttelte zwar sorgenvoll den Kopf, billigte ihn aber schließlich doch. Durch eine mir befreundete Korrespondentin wurde ich auf eine Mittelstadt mit reicher Umgegend, aus der gerade eine sehr gesuchte Modistin fortgezogen war, aufmerksam gemacht. Die Freundin verschaffte mir die Adressen aller vornehmen Damen der Stadt und Umgegend. Diese erhielten nun vier Wochen vor meinem Umzug Ankündigungen. Als ich einige Tage später unsere neue Wohnung betrat, sagte mir der Hauswirt, dass bereits mehrere Damen nach mir gefragt hätten. Noch in der nämlichen Stunde kamen die Damen wieder, nach ihnen andere, und so ging es fast täglich. Eine Anzahl Arbeiterinnen meldete sich, und noch bevor unsere Wohnung genügend eingerichtet war, befand ich mich inmitten eines neuen Wirkungskreises. Aber ach! Meine Nerven machten mir in den folgenden Jahren viel zu schaffen! Oft konnte ich nur mit Aufbietung aller Willenskraft mich aufrecht erhalten. Erst ganz allmählich wurden Gemüt und Nerven ruhiger. Meine Mutter hatte noch lange Zeit die Freude, mich fast gesund zu sehen. Sie starb gleich ihrer Mutter im 93. Lebensjahr. Zu meinem tiefen Schmerz erblindete sie vier Jahre vor ihrem Tode. Doch kein Sehender kann im innersten Herzen glücklicher und zufriedener sein, als unsere teure Blinde es war. Täglich pries sie die Güte Gottes, die ihr gute Kinder und einen sorglosen Lebensabend gegeben habe. Ihr schöner Glaube half ihr schließlich immer über jede Notlage ihres Lebens hinweg.

Als ich vier Jahre in meinem neuen Wirkungskreis tätig gewesen war, trat ich mit ersten Firmen in Verbindung und lieferte nur noch fertige Kleider. Meine Kunden ließen sich’s sehr gern gefallen und gönnten mir den kleinen Nebenverdienst. Auch hier hatten mir meine drei bewährten Grundsätze die Treue und das Vertrauen der Damen gesichert. Erstens: Jedes junge, bei mir arbeitende Mädchen wurde aufs strengste angewiesen, nicht schnell, sondern fest und sauber zu arbeiten. Die schnelle Arbeit fand sich gewöhnlich von selbst. Zweitens: Niemals wurde eine Dame mit Versprechungen hingehalten. Anfangs befremdete mich oft die Frage: „Halten Sie Wort?“ Ja, selbstverständlich hielt ich Wort! Mich beglückte das vertrauen meiner Kunden, aus welchem Grunde sollte ich dies Glücksgefühl preisgeben?? Ich konnte sehr wohl berechnen, wie viel Kleider in drei bis vier Wochen geschafft werden: Zwei bis drei Tage reservierte ich für unvorhergesehene Fälle, etwaige Krankheit der Arbeiterinnen, Trauerfälle etc. Falls nichts dergleichen vorfiel, wurden diese Tage immer noch ausgefüllt.

Daher gab es bei mir nur: „Ja“ oder: „Ich bedaure“. Die Damen nehmen viel lieber das „Ich bedaure“ hin als ein Versprechen, das nicht gehalten wird. Und mein dritter Grundsatz war: Ein jedes Kleid mit angeheftetem Stehkragen und eingehefteten Ärmeln, im übrigen fix und fertig, der betreffenden Dame anzuprobieren. Dadurch wurden die kleinen Mängel, die sich zu gern fast bei jedem Kleide einschleichen, zuerst von mir entdeckt. Ich vermied hierdurch den Tadel der Kundin, das unangenehme Hin- und Hersenden und das zeitraubende Trennen. Für auswärtige Kundinnen, die nicht anprobieren konnten, ließ ich mir unter Einsendung einer genau passenden Taille in Berlin Büsten aus überzogenem Holz anfertigen. Auf diesen arbeitete ich die elegantesten Toiletten. Eine sehr vornehme Dame, für welche ich ohne persönliche Anprobe gleich nacheinander eine große Anzahl kostbarer Hof- und Gesellschaftstoiletten lieferte, schrieb mir: „Sie sind eine Künstlerin! Kein Stich ist abzuändern!“

Ich bin nie eine Künstlerin gewesen, ich war nur akkurat.

Unzählige junge Mädchen erlernten bei mir die Schneiderei und haben sich damit ihren Lebensunterhalt erworben. Ich bin fest überzeugt, dass eine gebildete, mittellose Dame auf keinem Gebiet sich aus eigener Kraft so viel Geld, Anerkennung, vertrauen, Dank und Anhänglichkeit erwerben kann, als auf dem der Schneiderei. Und diese köstlichen Gaben überwiegen vollständig die Schattenseiten dieses Berufes. Unsere Zimmer waren zu jeder Tageszeit mit frischen Blumenspenden meiner Kunden geschmückt, besonders im Frühling reichten oft unsere vielen Vasen nicht aus für die nur zugesandten herrlichen Frühlingsgrüße. Ein gutes Buch lesen, dann und wann einen Blick auf diese Blumen richten, ihren Duft einatmen, das waren meine schönsten Sonn- und Festtagsgenüsse!!!

Jetzt bin ich 48 Jahre alt. Die Liebe zu meinen Geschwistern bewog mich, unlängst den mir teuer gewordenen Wohnort wieder zu verlassen und nach unserer Hauptstadt zu ziehen. Im Kreise meiner Brüder, die wohlgeachtete Stellungen einnehmen, und deren Familien lebe ich glücklich und sorglos. Ein kleines erspartes Kapital wird mich bis an mein Lebensende vor Nahrungssorgen schützen. Meine kleine, aus drei Zimmern bestehende Wohnung reicht aus zur gelegentlichen Aufnahme des ganzen Verwandtenkreises, der 20 Köpfe zählt. Treue alte Kunden, liebe Freundinnen und Verwandte sorgen dafür, dass ich nicht die Hände in den Schoß zu legen habe. Und das ist mir sehr lieb, denn ich arbeite noch sehr gern

Meine Schwester ist glücklich verheiratet. Sie ist heute noch überzeugt, dass ich sie mit dem unnötigen Trennen unverantwortlich gequält habe. Trotzdem ist sie innig erfreut, mich jetzt in ihrer Häuslichkeit gastlich bewirten zu können und nickt zustimmend, wenn ich sage: ,,Im Kochen bist du mir über, aber in der Schneiderei bin ich dir über.“

Wenn Euch die Geschichte gefallen hat, hier sind weitere schon veröffentlichte Geschichten aus dem Preisausschreiben bzw. Buch  „Vor den wirtschaftlichen Kampf gestellt“:

„Die Lithographin“ , „Vom Sprachunterricht zum Kunstgewerbe“  , „Ein Besorgungsinstitut“ , „Die Lehrerin“ , „Am Telefon“  und „Mit dem Kochlöffel“.

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