Die Andere – eine Winternovelle von Else Krafft

 In Frauenleben, Geschichten Winter

Wer mehr über die Autorin der Novelle, Else Krafft, wissen möchte, liest hier weiter.

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Die Andere – Eine Winternovelle von Else Krafft

„Gratuliere!“ Vor der lauten, lachenden Stimme hob der Amtsrichter fast erschreckt den Kopf. Er war in so tiefen Gedanken gewesen. Nur gut, dass sein Freund, der Rechtsanwalt, ihm diese Gedanken nicht vom Gesicht ablesen konnte, nur gut. —

Aufgeregt schüttelte Heinz die herzlich ausgestreckte Hand. „Ihr habt es alle riesig wichtig damit!“ — „Nun ja, warum denn auch nicht!“ lachte der Rechtsanwalt. „Du hast lange genug darauf warten müssen, armer Kerl. Nun müssen wir uns deshalb doppelt beeilen mit dem Glückwunsch. Aber ich freue mich, freue mich von Herzen mit dir, altes Haus. Nun kommt das Glück, Heinz. Waldeck soll ein famoses Städtchen sein, dazu nur drei Stunden Eisenbahnfahrt von Berlin — Menschenskind, was willst du mehr? Nun kannst du dir ein Heim gründen, nun kannst du heiraten!“

Heinz schritt mit gesenktem Kopf neben dem Freunde durch die Straßen.

„Ja — nun kann ich heiraten“, wiederholte er langsam.

Der Rechtsanwalt legte ganz begeistert den Arm auf den des Jüngeren.

„Hast natürlich sofort telegraphiert nach Buchenau, was? Annchen Hurra — Hochzeit ist nah!“

Heinz musste wider Willen lachen.

„Wie du dir das gleich alles zurechtlegst, ist bewundernswert. Ich bin aber kein solch Stürmer wie du. Das Warten habe ich gelernt, und die Ruhe kommt dabei von selber. Meine Braut weiß noch gar nichts. Ich — ich wollte vielleicht selbst hin — weil ich doch Weihnachten wegen meines verstauchten Fußes nicht fortkonnte.“

„Natürlich — natürlich, ist ja noch viel besser! Drei Tage Urlaub sind dir mindestens sicher. Na, da möchte ich dabei sein, wenn du ankommst. Aber was hast du denn? Was machst du denn für ein Gesicht? Schäm dich! Bist nun wohl doch enttäuscht? Hast wohl gedacht, du bekommst hier in Berlin eine Anstellung? Ich an deiner Stelle wäre froh, hier herauszukommen aus dem Trubel, selbst meine Frau war ganz begeistert darüber. Du glaubst gar nicht, was für ein Reiz in so einer Kleinstadt liegt, vor allen Dingen für junge Eheleute, die sich selber erst ungestört hineinfinden sollen in ihr neues Leben. Aber du musst so etwas ja kennen von deinen Kindertagen her, wenn’s auch noch ein viel kleineres Nest war, dein Buchenau. Und Waldeck soll herrlich sein! Im Frühling heiratest du, im Sommer besuchen wir euch, da gehen wir mit Kind und Kegel irgendwo da in der Nähe in die Sommerfrische. Ja — und nun kommst du mit für den heutigen Abend. Wir feiern den neuen ‚Amtsrichter‘ bei uns erst mal ordentlich.“

Heinz wurde rot.

„Eigentlich wollte ich heute arbeiten!“

„Ach was, heute wird gefeiert! Meine Frau weiß sowieso nicht, wer den vielen Wein austrinken soll, den ich bestellt habe. Also tu‘ uns den Gefallen und hilf die Flaschen leeren.“

„Ihr habt doch keine Gäste?“ widerstrebte Heinz.

„Gott bewahre! Höchstens die Trude wird da sein — na, und die rechnet doch als Schwester meiner Frau nicht zum Besuch.“

 

Da sagte Heinz nicht mehr viel. Er ging stumm mit. Unter dem dunklen Haar brannte sein Gesicht wie Feuer, und ein paarmal öffnete er die Lippen, um die kalte Winterlust einzuatmen.

An der nächsten Straßenecke war ein Konfitürengeschäft, in dem er auch heute, wie gewöhnlich, ein paar Tüten für des Rechtsanwalts Sprößlinge erstand.

„Der geborene Kinderonkel“, lachte dieser kopfschüttelnd. „Selbst heute denkt er ans Mitbringen. Steckte ich in deiner Haut, ich hätte an sonst was gedacht, als an fremde Gören!“

Sie betraten das Haus und hörten schon auf der Treppe das Heranstürmen der beiden Kinder gegen die Korridortür.

„Papa! — Onkel Heinz!“

Der fünfjährige Knabe nahm des Vaters Stock, die um ein Jahr jüngere Hilde bediente den Gast, der ihr zum Dank dafür das Schürzchen mit Süßigkeiten füllte.

„Da krieg‘ ich doch auch was ab?“ sagte eine lachende Stimme neben dem Kinde.

Tante Trude war wirklich da. Schick und elegant wie immer stand sie in der Tür des Wohnzimmers und beugte sich zu dem kleinen Mädchen nieder, nachdem sie die Herren begrüßt hatte.

Hilde schüttelte trotzig den Kopf. Die kleinen Finger schoben die im Scherz ausgestreckte Mädchenhand heftig zurück.

„Nein, du kriegst nix! Du bist ganz bös —“

„Siehst du“, lachte der Hausherr, „da hast du’s! Meine Schwägerin hat die kleine Bande gewiss wieder aus dem Zimmer geworfen, weil ihr der Spektakel auf die Nerven geht.“

Heinz lachte mit. Die Glut in seinem Antlitz hatte sich verstärkt, als er das Wohnzimmer betreten und die Hausfrau begrüßt hatte.

„Das ist aber nett, Herr Assessor“, meinte diese erfreut.

„Herr Amtsrichter“, verbesserte ihr Gatte. „Vom ersten April ab geht’s nach Waldeck ans Amtsgericht.“

Ein allgemeines Gratulieren und Händeschütteln begann.

Die jugendliche Tante Trude hatte dabei so seltsam zuckende Finger, dass Heinz die schlanke Hand unwillkürlich länger als nötig festhielt.

„Ich danke Ihnen, gnädiges Fräulein. Aber ich bin gar nicht so froh darüber, von hier fort zu müssen“, meinte er. „Glauben Sie mir das?“

Sie standen jetzt beide allein und unbeobachtet, da Frau Leonie in die Küche gegangen war und der Hausherr Weingläser aus dem Büfett nahm.

Das junge Mädchen schüttelte lächelnd den Kopf.

„Nein, das glaube ich Ihnen nicht. Sie haben doch solange auf diese Anstellung warten müssen. Was sagt Ihr Fräulein Braut denn dazu?“

Er ließ die Hand jäh los.

„Die weiß noch gar nichts. Das hat ja noch Zeit. Die ist gar nicht so ungeduldig.“

Ein leiser Triumph war plötzlich in dem Mädchenantlitz.

„Nun ja — das ist beinahe erklärlich. Wenn man sechs Jahre verlobt ist — sechs Jahre!“

Sie schüttelte sich in komischem Entsetzen.

„Ich glaube, das könnte ich gar nicht. Soviel Ausdauer hätte ich gar nicht!“

Sie lachte.

„Ist doch eigentlich viel von einem modernen Menschen verlangt, was?“

Er nickte ernst.

„Sehr viel.“

Jetzt wurde Fräulein Trude auch verlegen. Sie blickte auf den Verlobungsring an seiner Hand, der dünn und schmal war und doch so fest binden sollte, und seufzte.

„Ich denke mir das wunderschön, so in einer kleinen Stadt leben zu können und mit tonangebend zu sein. Waldeck ist ja auch Garnisonstadt, nicht wahr? Sie werden viel Zerstreuung, viel Geselligkeit haben. Liebt Ihre künftige Frau so etwas?“

Heinz blickte verwirrt in das Mädchenantlitz. Wie harmlos sie lächeln konnte! Dachte sie sich wirklich nichts, gar nichts bei ihren gefährlichen raschen Worten? Fühlte sie nicht den Sturm, den sie seit Wochen und Monaten in seiner Brust entfesselt hatte, der ihm den Frieden nahm und an seinem ganzen Sein rüttelte, dass er sich selber nicht mehr wiederfand?

„Ich glaube nicht“, meinte er langsam, indem er vor dem Stuhl, auf dem sie nun saß, stehen blieb. „Meine Braut ist seit ihrer Kindheit an ein sehr ruhiges, einförmiges Leben gewohnt, und Buchenau ist nur ein viertel so groß wie Waldeck. Ein Dorf gegen die Garnisonstadt. Da gibt’s wenig Verkehr und wenig Vergnügen.“

„Um so besser für Sie“, scherzte das Mädchen. „Sie werden gewiss eine prachtvolle Aussteuer bekommen. Was muss sich in sechs Jahren nicht alles nähen, häkeln, stricken und sticken lassen für den künftigen Haushalt! Sie werden gewiss vor Schlummerrollen und Schondeckchen kaum Platz auf Ihren Sofas in Waldeck finden. Das war bei einer Pensionsfreundin von mir auch so, die ich mal in der Provinz besucht habe. Man traut sich da kaum hinzusetzen.“

War das wirklich nur Scherz?

In dem Manne stieg es bitter heiß und drückend empor. Ihm war gar nicht zum Scherzen zumute. Er fühlte ganz genau, dass hier das moderne, verwöhnte Mädchen seine Braut verspottete; dass sie vielleicht unbewusst die Wahrheit herausfühlte und ahnte, dass jene blonde, anspruchslose Gespielin seiner Kindheit, um die er einst im jugendlichen Rausch der ersten Liebe geworben, vor dem stolzen Bild der anderen verlor, und dass seine Sehnsucht plötzlich ganz andere Wege ging wie früher.

In ungeheurer Erregung griff Heinz nach der Hand des lachenden Mädchens.

„Und wenn das nun alles nicht wäre, dieser Ring hier an meinem Finger, dieses Verlöbnis, das mich sechs Jahre wie ein Träumender im Bann hielt, wenn — wenn das nicht wäre. Fräulein Trude, und ich wär‘ frei, frei wie Sie, würden Sie dann wohl auch in so einer kleinen Stadt leben wollen, wie Waldeck, mit mir, neben mir, alle Zeit?“

Sie stand regungslos und blickte ihn überrascht an.

„Vielleicht“, sagte sie dann flüsternd und gerade so, als ob sie „ja“ gesagt hätte. Im nächsten Augenblick war sie im Nebenzimmer verschwunden, während ihr Schwager kopfschüttelnd neben den Freund trat.

„Heinz — Heinz, du wirst doch keine Dummheiten machen! Was hat denn das verdrehte Mädel?“

Der Gefragte lächelte gezwungen.

„Ich weiß es nicht. Deine Frau hatte gerufen.“

Alles war Aufruhr in ihm. Dieses geflüsterte, hingebende „Vielleicht“ des reichen Mädchens eröffnete ihm ein neues, glänzendes Zukunftsbild. Anstatt der einfachen, armen Jugendgespielin eine elegante, moderne Frau mit großer Mitgift, eine Frau, die ihm „ein Stück Berlin“ mit in die kleine Stadt bringen würde!

Heinz war wie im Fieber den Abend über. Obwohl beide kein Wort mehr allein zusammen sprechen konnten, fühlte jeder es doch, wie es um den anderen stand.

Erst spät in der Nacht auf dem Heimweg in der klaren, kalten Januarluft kam Heinz wieder zur Besinnung. Was würde er nun tun? Ob Annchen sehr unglücklich sein würde über seinen Treubruch? War es überhaupt ein Treubruch? Er hatte die Braut vier Monate nicht gesehen, die wöchentlichen Briefe blieben seit Jahren dieselben, es war in der langen, langen Zeit wie ein alltäglicher, nüchterner Druck über beide gekommen, der durch das seltene Wiedersehen nur wenig gemildert wurde. Das letzte Mal war es im Herbst gewesen. Das Mädchen war so scheu, so seltsam fremd gegen den Verlobten, und Heinz hatte sogar das Gefühl gehabt, dass die Jugendgespielin mit den Jahren eine andere geworden sei, als damals das verträumte, herzige Kind im blonden Flechtenkranz.

Sie sah viel älter aus, als sie mit ihren sechsundzwanzig Jahren eigentlich war. Dagegen die andere, die achtzehnjährige, lebensprühende Schwägerin seines Freundes! „Vielleicht —“ hatte ihr Mund gesprochen, dieweil ihr Blick doch ein Hundertfaches „Ja“ widerspiegelte. Wenn er nun hinfuhr zu der Braut, morgen oder übermorgen, wenn er ihr, dem kühlen, vernünftigen Mädchen sagen würde, wie es um ihn stand, vielleicht würde sie es selber richtig finden, dass er die andere nahm — ja, vielleicht würde sie sehr zufrieden sein, dass sie nun bei den Eltern bleiben konnte in der Heimat, dass sie nicht zu zittern brauchte vor einer Trennung. — ja, sie war ja immer eine so gute, liebende Tochter gewesen.

Und wie es um ihn selbst stand? —

Heinz kam von diesem Gedanken gar nicht los. Wusste er denn überhaupt, wie es um ihn stand? Liebte er die Schwägerin des Freundes? Liebte er sie mit jener Liebe, die unaufhaltsam ihn zu ihr hinriss, komme, was wolle, lehne sich dagegen auf, was wolle, alles, alles würde er jauchzend zwingen und überwinden?

Der Mann schüttelte den Kopf vor dieser Frage. So einer Liebe war er wohl überhaupt nicht fähig. Dazu war er wohl zu ernst und zu vernünftig gewesen sein Leben lang. So eine Liebe hatte er doch auch niemals für die Braut gehabt. In der ersten, üblichen Schwärmerei schien es wohl so, später war in den Briefen doch nur der gute, kameradschaftliche Ton, bei den seltenen Besuchen nur das stille Behagen des Ausspannens von der Arbeit gewesen. Dann die gedankenlosen Spaziergänge an Annchens Seite durch Wald und Feld, die stets sich gleichbleibenden kurzen Zärtlichkeiten, die sie jedes Mal nur zag und zitternd duldete.

Sie liebte ihn gewiss auch nicht so, wie es eigentlich sein sollte, dachte er plötzlich fast erleichtert, als er sich so das ganze seltsame Wesen seiner Braut ins Gedächtnis zurückrief. Und sie würde ihm gewiss das Ende dieser Verlobung nicht schwer machen, seine stille, bescheidene Freundin aus den Kindertagen. —

Heinz begann die letzte Strecke bis zu seiner Wohnung im Sturmschritt zu laufen. Irgendetwas trieb ihn Plötzlich zur Eile. Gleich morgen würde er um den Urlaub bitten, schreiben brauchte er gar nicht mehr, er konnte dann vielleicht schon übermorgen Mittag in Buchenau sein.

Er war plötzlich so sicher. Sie war wohl peinlich diese Reise, gewiss, aber das Schicksal selber hatte es eben anders mit ihm beschlossen, als es ihm so unerwartet das Herz der anderen schenkte. Und schließlich, darin hatten seine Kollegen recht, ein Jurist darf sich keine arme Frau nehmen, wenn er vorwärts kommen will.

Als Heinz nach bewilligtem Urlaub seine Reise antrat, begann es zu schneien. Die großen Flocken wirbelten gegen das Coupéfenster und zerflossen an dem warmen Glase.

Ihm war sehr unbehaglich zumute, je näher er seinem Ziel kam. Er hätte doch schreiben sollen, das wäre leichter und einfacher für ihn gewesen. Aber das wäre feige, dachte er gleich hinterher. Lieber eine offene Aussprache, als so ein versteckter Handel. Es stand zu viel für ihn auf dem Spiele, seit er wusste, dass er bloß frei zu sein brauchte, um sein Glück zu machen.

Der kleine Bahnhof von Buchenau war ganz und gar in Schnee eingehüllt, als der Zug einfuhr. Ringsumher die Wiesen, Felder, drüben der Wald, alles weiß und versteckt.

Wie oft war er hier als Knabe den Weg vom Hause des alten Onkels, des Pfarrers von Buchenau, zum Bahnhof geschritten; aus den Ferien wieder nach der Pension in die Stadt gefahren, wo er das Gymnasium besuchte. Im Ränzel Kuchen, den Christine, des Onkels brummige Magd, gebacken, und Äpfel aus dem Nachbarsgarten, in dem er mit dem blonden Annchen gespielt.

Der Onkel war lange tot, das kleine, alte Pfarrhaus abgebrochen, seit dem neuen, jungen Prediger ein modernes, schönes Pfarrhaus von der Gemeinde gebaut war, nur daneben das Nachbarhäuschen stand noch, und der große Obstgarten war auch noch da, des Schwiegervaters Stolz und Annchens ganze Welt.

Lautlos schritt der Mann über die weichen Wege. Er wusste jetzt selber kaum, was er sagen würde, wenn er da drüben in das Haus hineinging, das ihm bisher eine Art Heimat gewesen. Zuerst würde es natürlich sein wie immer, wenn er zu Besuch kam. Die alten Eltern würden ihm die Hände schütteln, umständlich und mit lauten Worten der Freude, und Annchen würde stumm dabeistehen, das stets sich gleichbleibende scheue Lächeln um den Mund —

So recht gefreut hat Annchen sich eigentlich nie, dachte er plötzlich. Ihm entgegengelaufen, jauchzend mit ausgebreiteten Armen, wie er es oft nach langer Trennung erwartet hatte, war sie nie. Heute würde es gut sein, wenn sie es nicht tat. Heute würde ihre stille Art ihm die Worte leichter machen, die er sprechen musste.

Heinz stand jetzt vor dem Hause und blickte in das Fenster der Wohnstube hinein. Er sah den weißen Kopf der Schwiegermutter hinter den Scheiben und öffnete in ungewohnter Hast die Haustür. Wie schrill, wie hässlich lange die Glocke dort oben schellte! Früher hatte er das gar nicht so unangenehm empfunden.

Riepel, der halbblinde Dackel, fuhr ihm kläffend gegen die Beine, und seitwärts öffnete sich eine Tür im Flur und der Schwiegervater, der alte pensionierte Lehrer Wöhlmann, trat heraus.

„I du mein Schlittchen!“ sagte er, erschrocken zurücktretend und mit beiden Händen seine lange Pfeife, aus der er rauchte, festhaltend.

Heinz lachte unfrei.

„Ja, das habt ihr wohl nicht erwartet?“ sagte er mit ausgestreckter Hand. „Wie geht’s, Vater?“

„Gut — gut!“

Der Alte blickte unsicher in das erregte Gesicht des Schwiegersohns.

„Wie siehst du denn aus — ist was passiert?“

„Nein“, antwortete Heinz. „Was soll passiert sein? Ist — ist Annchen nicht da?“

Vater Wöhlmann schüttelte den Kopf.

„Sie ist zu Mariechen nach Braunsfelde seit Sonntag.“

Mariechen war Annchens ältere, an einen Gutsinspektor verheiratete Schwester.

„Schade“, sagte Heinz laut. Innerlich atmete er auf. Das passte ihm gut, dass er die Braut jetzt nicht gleich zu sehen und sprechen brauchte, hier im Beisein der beiden harmlosen, guten Alten.

Die Schwiegermutter war völlig aus dem Häuschen, als sie den unvermuteten Gast sah. Wieder und wieder bedauerte sie der Tochter Fernsein.

Heinz konnte gar nicht anders, er klopfte der alten Frau liebevoll und beruhigend die Wange.

„Es sind ja nur zwei Stunden Wegs bis Braunsfelde, ich kann vor Abend noch drüben sein, Mutter.“

Mutter! — Das Wort wurde ihm heute schwer. Und es klang doch so süß, so vertraut, und er hätte jetzt in diesem Augenblick um die Welt nicht zu den Alten von der Ursache seines plötzlichen Besuchs sprechen können. Er saß mit ihnen bei Tisch, er erzählte von Dingen, die beide doch schon längst wussten, er konnte sogar essen, und es schmeckte ihm auch. Ja, er vergaß fast, warum er eigentlich hergekommen war in die entlegene, verschneite Heimat.

Nach dem Mahl blieb er mit dem Schwiegervater ein Weilchen allein. Der sprach nur von seiner reichen Obsternte, die er in diesem Jahre gehabt hätte, von seinem Garten und den wichtigen Begebenheiten im Orte den Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen.

Heinz hörte zerstreut zu und dachte dabei: Ihn wird’s wenig angehen, den lieben, alten Mann, ob ich sein Schwiegersohn bleibe oder nicht; die Mutter vielleicht auch.

Er sah sich ordentlich erschreckt um, als sich neben ihm eine Hand auf seinen Arm legte, zitternd, hager.

„Da — schau mal her, Jung‘ —“

Heinz blickte im ersten Moment verständnislos auf das große, weiße Wäschebündel, das da, mit blauen Bändern sauber umwunden, die alte Frau im Arme trug. Weiße, feste Nähte und Säume, hier und da ein Stück derbe Handstickerei oder eine Häkelspitze an den Linnenstücken und obenauf mühsam mit glänzendem Garn gestickt ein Monogramm C.W. — mit einem Kranz von Sternblumen umrankt.

Die beiden Alten schmunzelten.

„Hat’s Annchen alles selber genäht, gestickt und ausgeputzt, Jung‘. Wenn’s mal soweit is mit dir, kann’s Hochzeit geben —“

„Wenn’s mal soweit is —“

Heinz war so heftig von seinem Stuhle aufgestanden, dass dem schwachen Arm der alten Frau das große Bündel entfiel. Er hob es auf und legte es, als seine heißen Finger das kalte, glatte Linnen streiften, auf den Tisch. Etwas saß ihm im Halse, das ihn würgend am Sprechen hinderte, als er die strahlenden, alten Gesichter sah. Und dennoch! Darüber tauchte auch sofort ein anderes Bild auf. Ein lachender Mädchenmund, der spöttisch sagte: „Was müssen Sie da für eine prachtvolle Aussteuer bekommen, was muss sich in sechs Jahren so alles nähen und häkeln, sticken und stricken lassen —“

War er ein Mann? Er begann sich über seine wechselnden Stimmungen zu ärgern. Er wusste doch genau, was er wollte, was er tun musste.

Mit nervöser Hast verabschiedete sich Heinz, nahm Mantel, Stock und Hut und machte sich auf den Weg nach Braunsfelde.

Es schneite nicht mehr. Durch die graue Wolkenwand drüben am Walde begann es lichter und lichter zu schimmern, bis endlich, nach mühevoller Wanderung die beschneite Landstraße entlang, die Sonne kam.

Heinz hob überrascht den Kopf. War das schön! Wie in Silber und Diamanten gehüllt lag die schlafende Welt. Kein Laut ringsum, kein Mensch zu sehen, selbst sein Schritt so still und weich auf der Schneedecke.

Friede über und um ihn, und doch, er empfand ihn nicht. Eine dunkle Furcht lag über seiner Seele. Seine Schritte wurden schwerer, langsamer, und als er in der Nähe das Rasseln eines Zuges hörte, den Dampf der Lokomotive sah, bog er plötzlich von dem Wege ab, der nach dem Gute führte, um nach dem Braunsfelder Bahnhof zu kommen. Er konnte heute die Braut nicht mehr sprechen. Er würde ihr schreiben, es war wohl doch besser — leichter —

Als er endlich vor dem kleinen, in Tann und Busch versteckten Bahnhofsgebäude stand, klang plötzlich Schlittengeläut neben ihm. Ein leerer, seltsam geformter Stuhlschlitten stieß gegen ihn, den zwei rotbäckige Kinder direkt gegen seine Beine schoben.

Der ungefähr zehnjährige Knabe riss lachend die Pelzmütze vom Kopf, während die kleinere und jüngere Gefährtin sich erschrocken gegen den Bruder drängte.

..Onkel Heinz!“ sagte der Knabe sichtlich überrascht.

Jetzt verlor auch das Mädchen seine Scheu.

„Onkel Heinz!“ wiederholte sie, die in Fausthandschuhe gehüllten Finger nach ihm ausstreckend.

Der Amtsrichter blieb schwer atmend stehen. Er war wohl zu rasch die letzte Strecke gegangen. Das war ja wie eine Flucht gewesen. Und nun — nun standen sie im Schnee, wie hergeweht, die Schwesterkinder seiner Braut und streckten ihm treuherzig die Hände hin.

Die Kleine mit ihren flachsenen, krausen Haaren glich Annchen. Noch niemals hatte er das so bemerkt.

„Wo wollt ihr denn mit eurem Schlitten hin?“ fragte Heinz fast rau.

Der Junge lachte, die Kleine machte ein glückliches Gesicht.

„Tante Annchen abholen. Sie hat, weil Mutter krank ist, eingekauft in der Stadt und wollte um vier Uhr wiederkommen mit der Eisenbahn. Ist es schon vier Uhr, Onkel Heinz?“

Der Amtsrichter zog hastig die Uhr.

„Nein“, sagte er dann tief aufatmend, so sehr war er bei dieser Auskunft erschrocken. Er beugte sich mechanisch über den Holzschlitten, in dem allerlei seltsame Dinge lagen. Ein Strohbündel, zwei Hasenfelle und eine zerrissene Pferdedecke.

„Für wen habt ihr denn das mitgebracht?“

„Für Tante“, sagten beide Kinder wie aus einem Munde. Und das Mädel setzte stolz hinzu: „Haben wir alles alleine gesucht im Schuppen. Tante friert doch sonst —“

Der Junge nickte.

„Meinst du, dass solche Felle warm halten, Onkel? Die Decke ist man dünne, die braucht der Christian nicht mehr im Stall. Aber wenn wir die Felle um Tantes Füße wickeln, kann sie doch auch nicht krank werden, was?“

Dem Manne wurde ganz seltsam ums Herz. Diese Liebe in den Kinderaugen, diese große, rührende Liebe! Siedend heiß stieg ihm das Blut in die Stirn.

„Warum soll denn die Tante krank werden?“ fragte er stockend. „Fehlt ihr denn was?“

Die Kinder nickten sofort überzeugungsvoll.

„Ich hab ihr sogar meine große Weihnachtspuppe gegeben, und sie hat nicht gelacht, Onkel“, meinte das kleine Mädchen bekümmert.

Heinz stand regungslos und sah in das süße, vertraute Gesichtchen. Das war seine Braut, diese Tante, seine Braut, der diese große Liebe und Sorge galt. Und wie mit einem Zauberschlage sah er plötzlich ein anderes Bild. In Berlin, in der Wohnung des Freundes, ein stolzes, elegantes Mädchen, das auch Tante war von zwei so kleinen, wahrheitsliebenden natürlichen Wesen. Da fehlte aber diese Liebe. „Nein — du kriegst nix, du bist ganz bös —“

Da fühlte er es heiß über seine Stirn rieseln — siedend heiß vor Scham über die Erkenntnis, die ihm aus Kindermund offenbart wurde?

Da klang ein Pfiff durch die stille Luft.

Heinz beugte sich hastig zu den Kindern nieder.

„Sagt nichts, dass ich hier bin, hört ihr?

Ich schenke euch nachher, was ihr wollt, wenn ihr nichts sagt. Ich will Tante überraschen — ja? Wenn ihr sie nachher im Schlitten nach Hause fahrt, lasst ihr beide los — ja, ganz leise, und ich schiebe weiter. Das merkt sie gar nicht — aber sie freut sich dann. Wollt ihr das tun? Ich verstecke mich solange da drüben hinter den Bäumen, mein Junge —“

Die Kinder nickten vergnügt. Das wird einen Spaß geben!

Heinz stand mit vorgebeugtem Oberkörper heimlich spähend in seinem Versteck. So aufgeregt, wie in dieser halben Stunde, glaubte er noch niemals gewesen zu sein. Mit den beiden Kindern war Plötzlich die Jugend wieder vor ihm aufgewacht. Er sah die blonde Gespielin vor sich, genau so wie eben die Kleine da, ein süßes, vertrauendes Dingelchen. Damals hatte Annchen noch nicht gefroren. Durch Schnee und Eis war sie Hand in Hand mit ihm gelaufen: „Mach‘ mich warm, Heinz —“

Und heute? Sie fror und hatte doch allzeit ein Herz voll Liebe und Treue für ihn gehabt, hatte in zitternder, mädchenhafter Scheu den Kinderruf verlernt: „Mach‘ mich warm, Heinz —“ Wie ein Blinder war er die ganzen Jahre neben ihr hergegangen.

Da — der Zug war eingefahren, hielt eine Minute und dampfte weiter.

Heinz blickte mit starren Augen hinüber, wo der Schlitten stand. Er sah die Braut. Wie schlank sie geworden war, seit er sie nicht gesehen. Das blasse Gesicht unter dem Hellen Flechtenkranz war noch durchsichtiger, unter den Augen so tiefe, tiefe Schatten. Sie lächelte, als sie die Kinder sah; fest — fest drückten sich die roten Wangen der Kleinen gegen das blasse Gesicht.

„Wieder aufblühen sollst du“, dachte Heinz erschüttert, als er die Braut so sah. „Wieder jung und froh werden an meinem Herzen. Denn bei Gott, ich habe dich lieb“, stammelte er mit einer jäh erwachten Sehnsucht nach dem stillen Mädchen da drüben.

Die Kinder kicherten, als die Fahrt begann. Sie machten die unglaublichsten Bewegungen und Kopfverrenkungen nach dem Versteck des Mannes.

Die Tante sah das nicht. Sie lehnte müde in dem Schlitten, verträumt in die Schneelandschaft blickend.

Dort drüben ging die Sonne unter. Ob er, nach dem sie sich rein zu Tode sehnte, wohl jetzt an sie dachte? Ob er nicht fühlte, wie ihre Seele nach ihm schrie — Tage, Wochen, Monate und Jahre, und wie sie jedesmal, wenn er bei ihr war, vor innerer Seligkeit alle diese Sehnsucht und Liebe versteckte, die sie so elend machte? Warum ließ er sie so lange warten, bis er sie holte als sein Weib in die große, schöne Welt? Wusste er nicht, dass sie ihm sein Haus halten wollte wie ein Paradies, dass sie sich schmücken wollte wie eine Königin für ihn, wenn sie erst draußen war im lachenden Leben?

Der Schlitten fuhr plötzlich langsamer, stockte einen Augenblick ganz und fuhr dann mit solcher Schnelligkeit weiter über die glatten Wege, dass Annchen erschrak.

„Lottchen, Kurt — aber so hört doch, ihr könnt hinfallen, Kinder!“

Im selben Moment, als sie den Kopf wandte, schrie sie auf.

„Heinz!“

Der Schlitten stand auch schon. Zwei Arme hielten sie, und ein Mund küsste den ihren, dass es wie flammende Lohe in das weiße Antlitz stieg.

„Heinz!“ wiederholte sie noch einmal schluchzend in fassungsloser Freude.

Da küsste er sie noch einmal. Er blickte in das ihm zugewandte Gesicht, als sei sie verzaubert. Die Rosen waren darin wieder aufgeblüht und das alte Kinderglück.

„Du bist ja noch tausendmal schöner wie — die andere“, dachte Heinz, insgeheim erschauernd vor diesen frommen Augen.

Und dann schreckten sie alle beide auseinander.

Mit Hallo und Hurra waren die beiden Kinder herangekommen. Sie wollten sich totlachen über den gelungenen Streich.

„Was hast du denn gemacht, Onkel“, fragte Lottchen neugierig, „als Tante so aufschrie?“

„Mein Glück!“ sagte der Mann tief aufatmend. Und er hob mit beiden Armen das Mädel und den Buben zu der Braut in den Schlitten und fuhr das Kleeblatt durch den Schnee, als ging’s in den Frühling hinein.

— Ende. —

Wer eine weitere Wintergeschichte lesen möchte, hier der Link zu „Eine extravagante Frau“ von Sophie Mättig-Willkomm

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