Was geschah im Januar 1909?
Für alle Neulinge, welche die Rubrik noch nicht kennen, gibt es hier eine Einführung dazu.
Die schwerste Jahrhundertkatastrophe des 20. Jahrhunderts: Erdbeben und Tsunami in Messina
Heutzutage ist man immer schnell mit dem Jahrhundert-Superlativ, in diesem Fall stimmt er:
Das Erdbeben um Messina, gefolgt von einem Tsunami, war nach der Opferzahl tatsächlich die schwerste Naturkatastrophe im 20. Jahrhundert. Die Zahlen variieren, aber in jedem Fall verloren bei dem Beben zwischen 72 000 und 110 000 Einwohner ihr Leben. Hier der Bericht, wie es dazu kam, wie die Verwüstung aussah und wie geholfen wurde:
Vor dem Beben: Seltsames Tierverhalten als Vorboten des Unglücks – ein Bericht der Familie de Angelis:
„Es war ein Sonntag zwischen den beiden Festen Weihnachten und Neujahr und ein heiterer Frühlingstag lag über den grünen Gefilden…Herrn de Angelis Villa lag in einem der schönsten Teile der Stadtumgebung (von Messina)…Nichts lag in der Luft, was ein Unheil verkünden konnte. Aber seltsam, in der Familie de Angelis, die schon das kalabrische Beben von 1905 erlebt hatte, wurde in der Woche vorher wiederholt von der Gefahr eines vielleicht bevorstehenden Erdbebens gesprochen und das aus einem seltsamen Anlasse.
Man hatte gerade mit den Kindern in einem Naturgeschichtsbuche gelesen, daß die Ratten eine drohende Gefahr oft vorher zu empfinden vermögen und den bedrohten Ort verlassen. Ein am Meere gelegenes Haus ist nun niemals ganz frei von diesen häßlichen Gästen. Man hörte sie oft unter der Rohrdecke, die man hier häufig unter der eigentlichen Balkenlage frei zu spannen pflegt, rascheln. Nur glaubte man in der letzten Woche zu bemerken, daß das Geräusch immer seltener zu werden begann. „Aber zwei“ so sagte man scherzend, „sind doch noch immer noch da“. Doch am Tage vor der Katastrophe war alles „mäuschenstill“ geworden. Hätte man nur diese Wahrnehmung als eine ernste Vorbedeutung genommen!
Und auch ganz kurz vor der Katastrophe gibt es noch eine „tierische“ Warnung , wie im Text erzählt wird:
Die Familie hatte sich nach einem traulich verbrachten Sonntagabend ruhig schlafen gelegt, als, etwas nach fünf Uhr in der Nacht, während alles im tiefsten Schlafe lag, die in der Kammer des Dienstmädchens befindliche Katze ein jämmerliches Geheul begann, so daß das Mädchen davon erwachte. Sie hörte, wie die Katze in höchster Angst große Sprünge machte und hinaus wollte. Das Mädchen machte Licht, um zu sehen, was wohl die Ursache dieses eigentümlichen Gebarens des Tieres sei, als plötzlich mit ungeheurer Gewalt der Boden unter den Füßen senkrecht gehoben wurde, um sogleich wieder mit derselben Plötzlichkeit und einem fürchterlichen Ruck herabzustürzen.
Und danach:
Alle wurden aus dem Schlafe gerissen. Aber wesentliche Schäden schien das Haus noch nicht gelitten zu haben. Die Kinder hatten ihr Schlafgemach neben dem der Eltern. Die Mutter wollte zu den Kindern eilen, aber die Zwischentür gab nicht nach. Wären die Kinder nicht gewesen, zu deren Rettung man verzweifelte Anstrengung machte, so wären wohl alle draußen unter den Trümmern der eigenen und Nebenhäuser erschlagen wurden. Nach jenem ersten senkrechten Stoße mochten wohl nach Empfindung des Herrn Angelis 45 bis 50 Sekunden verflossen sein, als unter gräßlichem, unterirdischem Geheul und Getöse die Erde in entsetzliche Wirbelbewegung geriet. Das Haus wurde nach allen Seiten gerüttelt und gehoben. Die ganze, nach dem Meere zu gelegene Front des Hauses, das nur zwei Stock hoch war, stürzte ein, während die anderen Wände stehen blieben. Es geschah das Wunder, daß die Decken der beiden Schlafzimmer, wo die Familie in diesem furchtbaren Augenblicken sich befand, nur je auf einer Seite einstürzten, während sie an der Zwischenwand oben hängen blieben, wodurch ein schützendes Zeltdach über den zu Tode erschreckten, aber nun wunderbar Geretteten bildeten. Weniger noch als zuvor konnten die Eltern zu ihren Kindern, aber diese riefen ihnen zu, daß sie lebten. Das eingestürzte Haus wurde von Herrn de Angelis am andern Tage aufgenommen, der seinen Apparat unter den Trümmern unversehrt, mit acht frischen Platten gefüllt, vorfand.
Also, Herr de Agnelis hatte auf jeden Fall die Nerven, am kommenden Tag Fotos zu machen!
Wer noch weitere Augenzeugenberichte über das Beben, den Tsunami und die Tage danach lesen möchte: Der Text und die meisten der gezeigten Fotos sind aus dem Buch „Im zerstörten Messina“ von einem gewissen Herrn Dr. M. Wilhelm Meyer und dem berühmten russischen Schriftsteller Maxim Gorki, der damals wie Meyer auf Capri lebte und mit ihm zusammen kurz nach der Katastrophe nach per Schiff nach Messina fuhr – um zu helfen und auch zu dokumentieren.
Ort des Bebens: Die Karte zeigt die Lage von Messina: Die Stadt liegt an der nordöstlichen Spitze Siziliens an der Straße von Messina, einer Meerenge zwischen Kalabrien und Sizilien. Die Entfernung zum italienischen Festland beträgt an der schmalsten Stelle nur 3 Kilometer. Etwa 90 Kilometer südlich liegt Catania und etwa 230 Kilometer westlich die Hauptstadt Siziliens, Palermo. Der Ätna, der mit über 3300 m höchste Vulkan Europas, liegt etwa 70 Kilometer südwestlich der Stadt.
Da durch die Straße von Messina eine tektonische Störungszone, die Messina-Verwerfung, verläuft, kommt es immer wieder zu Erdbeben, ein schweres gab es schon im Jahre 1783. Auch in jüngster Zeit bebt die Erde in dieser Gegend, allerdings weil der nahegelegene Vulkan Ätna wieder aktiv ist. Das war er Ende des Jahres 1908 nicht und damit auch nicht die Ursache des Bebens.
Das Beben selbst: Am 28. Dezember um 5.21 Uhr am Morgen werden die Regionen Messina und Reggio Calabria durch ein Seebeben mit einer Stärke von 7,2 Magnitude erschüttert. Das Beben dauert 37 Sekunden. Es wird gefolgt von einem Tsunami, dessen 6-12 Meter hohen Wellen weitere schwere Schäden anrichten.
Danach sind beide Hafenstädte fast komplett zerstört. Das Schadensgebiet umfaßt 4300 km2 (zum Vergleich: das ist ca. die Fläche vom Saarland, Berlin und Hamburg zusammen) mit zwanzig weiteren Städten und Dörfern, die nach dem Beben dem Erdboden gleich sind.
Danach: Nun lassen wir mal die Berichte der damaligen Wochenzeitschriften sprechen:
Genauer genommen passierte das Beben ja noch 1908, am 28. Dezember, also kurz vor Jahresende. Aber erst im Januar 1909 wurde in den Wochenzeitschriften darüber berichtet. In jeder Zeitung waren Bilder der Zerstörung und Berichte über das Ausmaß der Katastrophe. Man kann sagen, sie dominierten die Berichterstattung.
Im Erdbebengebiete (Zu den nebenstehenden Abbildungen.) Noch zittert die Menschheit unter den Eindrücken eines Unglücks, dessen Größe jede menschliche Einbildungskraft übersteigt. Denn was waren all die schweren Katastrophen der letzten Jahre, was war selbst die Zerstörung der blühenden Stadt San Francisco (geschah 1906, ca. 3000 Tote) gegen das Erdbeben, das am Ausgang des vergangenen Jahres , in immer erneuten Stößen ganze Länder verheerte und die lachenden Küsten Siziliens und Kalabriens in einen einzigen Trümmerhaufen verwandelte, in ein hunderttausendfältiges Grab Lebender und Toter!
so schildert z.B. die Gartenlaube in ihrer 3. Ausgabe 1909 das Geschehen. Über einen interessanten Aspekt, wie das Beben zuerst in anderen Ländern bemerkt wurde, berichtet die Sonntagszeitung:
„Die Stärke des Erdbebens in Sizilien machte sich auch in den einzelnen seismographischen Stationen fühlbar, in denen die aufgestellten Instrumente durch die Riesengewalt der Erschütterung zum Teil schwere Schädigungen erlitten. So wurde im Observatorium in Leipzig durch das Erdbeben von Messina der Schreibstift des Seismographen aus seiner Lage geschleudert…“
Wie auch im Text berichtet wird, gab es zu dieser Zeit weltweit 37 Beobachtungsstationen mit Seismographen, also Instrumenten, welche Erschütterungen der Erdoberflächen messen können – eine davon stand in Leipzig.
Der erste Artikel der Zeitschrift „Daheim“ zur Katastrophe in der Ausgabe vom 9. Januar zeigt zunächst (wahrscheinlich mangels aktuellem Bildmaterial der Zerstörung) mehrere Bilder des unzerstörten Messina:
„Das furchtbare Unglück, das über Siziliens Hauptstadt Messina und die gegenüberliegende Küste Kalabriens hereingebrochen ist, hat die gesamte Welt in Entsetzen und Mitleid erbeben gemacht. Was dort unten geschah, ist so unerhört, liegt so außerhalb aller Vorstellungsmöglichkeit, daß man sich zusammenraffen muß, um es zu glauben…“
Im Artikel wird gleichfalls das Entsetzen über das Ausmaß des Bebens ausgedrückt und vor allem davon erzählt, dass diese Region in ihrer Geschichte schon öfter von Erdbeben getroffen wurde- angefangen mit einer Schilderung Ovids in seinen Metarmorphosen. Wem es nicht mehr ganz geläufig war (wie mir): Ovid, der römische Dichter lebte rund um die Zeit von Christus (geb. 43 v. Christi, gest. 17 n. Christi).
Hilfs- und Rettungsmaßnahmen:
In allen Wochenzeitschriften und auch den Schilderungen von Gorki und Meyer im schon erwähnten Buch „Im zerstörten Messina“ wird die internationale Solidarität gelobt:
„Wenn es ein Lichtblick gibt in dem furchtbaren Grauen, das über die Ereignisse dieser Jahreswende lagert, so ist es die Entfaltung der großartigen Hilfstätigkeit, die mit der ersten Nachricht des Unglücks überall einsetzte. Die Schranken, die sonst Völker und Rassen trennen, sie brachen zusammen, und warme, erbarmende Menschenliebe reichte sich zum Rettungswerke die Hand. Ein erhebendes Beispiel großer und schlichter Menschlichkeit gab nicht nur das italienische Königspaar, das mit beinahe 1 ½ Millionen Lire dem Unglück beisteuerte und sich tagelang an den Samariterarbeiten betätigte, sondern gleiche Beispiele gaben die Matrosen der deutschen, englischen, russischen und französischen Schiffe, die todesmutig ihre Pflicht an den armen Betroffenen taten…
Tatsächlich wird auch anderswo positiv über das Königspaar berichtet, welches an den Ort der Katastrophe fuhr und augenscheinlich selbst mit anpackte. Damals wie heute können Oberhäupter mit einem guten Krisenmanagement Punkte beim Volk sammeln. Insbesondere Königin Elena wurde durch ihr Engagement bei der Hilfe für die Opfer bei der italienischen Bevölkerung sehr beliebt. In Deutschland sammelte ein „Deutsches Hilfscomite für Süd-Italien“ Spenden und Güter, die per Schiff ins Katastrophengebiet transportiert wurden.
Von den Überlebenden flüchteten viele in andere Gebiete Italiens bzw. wurden in andere Gegenden umgesiedelt. Insbesondere Gorki berichtet in seinen Schilderungen gleichfalls von der großen Solidarität, Spenden- und Hilfsbereitschaft der italienischen Bevölkerung, so wurden auch viele Waisenkinder, deren Eltern und Angehörige Opfer des Bebens geworden waren, aufgenommen:
An vielen Stellen fragten Arbeiter, die ihr Scherflein gespendet hatten, wie man es anzufangen hatte, um eins der verwaisten Kinder in Pflege zu bekommen.
„Geben Sie nur Ihren Wunsch bekannt,“ antwortet man ihnen „und nennen Sie Ihren Vor- und Zunamen.“ Sie taten es. Auf der Piazza Rusticucci stellt ein junger Arbeiter die gleiche Frage und man gibt ihm Bescheid. „Gut, dann nehm ich eins,“ versetzt der Arbeiter.
„Wie alt soll das Kind sein?“ „Ganz gleich – nur von der Brust entwöhnt muß es sein, denn da wüßt ich mir keinen Rat.“
In der Folgezeit wird Messina wieder aufgebaut. Am Ende des 2. Weltkriegs durch Bombenangriffe nochmals zerstört, ist die Stadt, auch „Tor Siziliens“ genannt, heute mit knapp 240.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt und als solche eines der wirtschaftlichen und kulturellen Zentren Siziliens.
Der Postscheck kommt (in Österreich und der Schweiz ist er schon da)
und zwar ab 1. Januar 1909. Und somit startet in Deutschland der bargeldlose Zahlungsverkehr, wie es so schön in sperrigem Amtsdeutsch heißt. Das heißt, man konnte, mittels eines Postscheck-Kontos, Bareinzahlungen auf andere Postscheck-Konten überweisen oder überwiesen bekommen, im Unterschied zu Postanweisungen, bei denen nur eine Ein- und Auszahlung in bar möglich war.
Denn die gab es zu dieser Zeit schon längst, oben die Abbildung eines Formulars des Königreich Bayerns von 188… Hier zahlte der Geld-Absender Betrag X (sagen wir 100 Mark) ein und der Empfänger bekam den Betrag entweder von einem Geldpostträger zugestellt oder holte ihn (bei höheren Beträgen) bei der Post ab, immer in bar.
Die Reichspost startet mit neun Postscheckämtern, Bayern und Württemberg, die noch eigene Postdienste haben, mit insgesamt vier Ämtern– insgesamt gibt es also am Anfang dreizehn Postscheckämter, die sich um die Abwicklung des neuen Verfahrens kümmerten.
Die Sonntagszeitung schreibt zur Einführung des Postschecks:
An den Bequemlichkeiten dieser Neuerung kann jeder teilnehmen, der als Stammeinlage 100 Mark bei der deutschen Reichspost deponiert. Für das laufende Konto werden keine Zinsen gezahlt, vielmehr müssen bei den Ein- und Auszahlungen keine Gebühren entrichtet werden. Die Bearbeitung des Geldverkehrs wird durch besondere Postscheckämter besorgt, während die Einzahlungen bei jedem Postamt erfolgen können. Zu diesem Zwecke hat die Reichspostverwaltung besondere Zahlkarten herstellen lassen (siehe Abbildung). Zu Überweisungen und Rückzahlungen hat die Post Scheckhefte, Überweisungsformulare in Heften und in Form von Postkarten herausgegeben. In jedem Hefte befinden sich ausführliche Erläuterungen. An Gebühren werden erhoben: für jede Summe bis 500 Mark je 5 Pfennig bei Einzahlungen und für jeden auszuzahlenden Betrag in beliebiger Höhe gleichfalls 5 Pfennig und 1/8 vom Tausend, also bei einer Auszahlung von beispielsweise 8000 Mark 1 Mark Gebühr. Für Überweisungen von einem Teilnehmer auf das Konto eines andern je 3 Pfennig. Bei mehr als 600 Buchungen im Jahr werden für jede Buchung 7 Pfennige Zuschlag erhoben…
Interessant sind die genannten Kosten, die recht gering erscheinen – verglichen zu heute.
Ein Grund, warum es für diese Konten keine Zinsen gab, war die Befürchtung, das könnte dem deutschen Sparkassenwesen als Konkurrenz schaden.
Bei dieser Einrichtung waren übrigens zwei Nachbarländer die Vorreiter – Österreich und die Schweiz. In Österreich wurde der Postscheckverkehr schon 1884 eingeführt, in der Schweiz 1906. Im Artikel heißt es dazu abschließend:
Die Einrichtung des Postscheckverkehrs hat sich in Österreich vorzüglich bewährt. In den letzten Jahren waren 73.000 Personen mit einem Betrage von rund 384 Millionen Kronen (damalige Währung Österreich-Ungarns) daran beteiligt. Der Gesamtumsatz der Geschäfte belief sich in den letzten Jahren nicht weniger als 19 Milliarden Kronen.
Schlau war die Einrichtung in jedem Fall, denn gerade in den vielen ländlichen Gebieten wurde die Infrastruktur der vorhandenen Postämter für weitere Dienstleistungen, die Handel- und Geschäftsverkehr erleichterten, genutzt.
Der Kaiser wird 50 und bekommt gemischte Glückwünsche
Natürlich wurde der runde Kaisergeburtstag (er war am 27. Januar) auch in den Zeitungen gebührlich gefeiert – mit großformatigen Porträts und Artikeln. Jedoch bröckelte sein Ansehen und das liest sich auch in den Artikeln – nicht nur zwischen den Zeilen, sondern recht direkt formuliert. Ein erster und ewig vorgehaltener Kritikpunkt (sei er nun berechtigt oder nicht) war seine Rolle bei der Abdankung des „genialen“ Kanzler Bismarcks 1890, die Sonntagszeitung schreibt dazu:
…Ein reiches Erbe war auf die jugendlichen Schultern Kaiser Wilhelm II. gelegt, doch das deutsche Volk wußte sich sicher unter dem Schutze seines genialen Kanzlers, des Fürsten Bismarck. Ein lähmendes Entsetzen ergriff die ganze deutsche Nation, als am 18. März 1890 Bismarck auf wiederholtes Verlangen des jugendlichen Kaisers sein Entlassungsgesuch einreichen mußte…
Weiter heißt es:
Kaiser Wilhelm hat seinen hohen Beruf mit sittlichem Ernst erfaßt. Sein Leben ist der Pflicht gewidmet. Doch zur bald trat im Leben des Kaisers jenes persönliche Moment hervor, das bis in die jüngste Zeit hinein Nation und Thron oftmals in eine gegensätzliche Auffassung der beiderseitigen Rechte und Pflichten brachte. Regis voluntas suprema lex (des Königs Wille ist das höchste Gesetz), das ist die Lebensauffassung Kaiser Wilhelm II., der er verschiedentlich öffentlich Ausdruck gegeben hat. Doch in einem Verfassungsstaat ist eine solche Auffassung unhaltbar, denn das Kulturleben eines modernen Staatswesens ist so unendlich verzweigt, daß, wie Bismarck sich ausgedrückt hat, ein einzelner Menschengeist nicht ausreicht, um alle Fäden zu umspannen. Die Ereignisse der letzten Monate, in denen die ganze Nation durch ihre Abgeordneten gegen das persönliche System Stellung genommen hat, bedeuteten einen Wendepunkt im Leben des Kaisers, und mit hoffnungsfreudiger Zuversicht beglückwünscht heute die deutsche Nation Kaiser Wilhelm II. zu seinem 50. Lebensjahre; denn sich selbst zu besiegen ist der schönste Sieg.
„Die Ereignisse der letzten Monate“ bezieht sich insbesondere auf die „Daily Telegraph Affäre“ mit einem diplomatisch sehr ungeschickten (fiktiven) Interview des Kaisers, was durch eine Verkettung von Umständen (die neueste Forschung sagt: mit Absicht) ungeprüft zur Veröffentlichung in der englischen Zeitung „Daily Telegraph“ gelangte – mehr dazu erfahrt Ihr hier, wir hatten das Thema in der letzten November-Ausgabe in einem Artikel geschildert. Eins ist aber sicher, diese Laudatio schrieb ein großer Bismarck-Fan!
Und die anderen Zeitschriften? „Daheim“ brachte ein großes Bild ohne jeglichen Kommentar, „Die Gartenlaube“ auch ein großes Bild, aber mit Rahmen und eine kleine eher unkritische Würdigung des „Ersten Diener des Volkes“ – so hatte er sich selbst einmal bezeichnet. Weiter heißt es:
Aber nicht nur Herrschereigenschaften, zu denen in allererster Reihe der Drang zählt, das Beste zum Wohle des Volkes zu wollen, auch rein menschliche Tugenden, unter ihnen als höchste die Treue, fügen sich dem Charakterbild des Kaisers ein.
Der „Drang“, das Beste zu „wollen“ könnte man heute übersetzen mit „hat sich stets bemüht“ – ein Satz, dem man nicht unbedingt im eigenen Arbeitszeugnis lesen möchte. Auch die Treue, die ihm als menschliche Tugend zugesprochen wird, ist eher eine Eigenschaft, die man aufzählt, wenn einem keine anderen „Tugenden“ einfallen.
Eine treue Seele war er also, der Kaiser und eigentlich wollte er auch nur Gutes…Immerhin wird er danach noch als Friedensengel (unvergessen werden auch die hohen Friedenswerke bleiben, die er geschaffen) und Förderer des technischen Fortschritts und der Wissenschaft gewürdigt. Aus heutiger Sicht wissen wir, dass er definitiv nicht als Friedensengel in Erinnerung geblieben ist, als Förderer des technischen Fortschritts schon eher, wobei das oft auch mit militärischen Interessen verknüpft war.
Summa summarum – schon 1909 war das Verhältnis zum Kaiser gespalten und schon ein paar Jahre vor allen weiteren Entwicklungen wie dem 1. Weltkrieg und der anschließenden Revolution wurde der Ruf nach einem modernen Staatswesen laut, in dem der Kaiser keine entscheidende Rolle spielte. Der runde Geburtstag schien ein guter Anlass zu sein, das mal auszusprechen.
Aus dem Frauenleben: Ein 75-jähriges Dienstjubiläum
Normalerweise berichten wir in dieser Rubrik über fortschrittliche Entwicklungen im Frauenleben. Dieses Mal eher über eine Spezies, die langsam ausstarb, aber noch zum Alltag gehörte: Frauen, welche ihr ganzes Leben im Haushalt einer Familie wirkten. Hanne Gilhaus, die 89-jährig starb, wie „Daheim“ berichtete, war so eine. Hier der Text dazu:
Eine seltene Erscheinung in unserer Zeit der Dienstbotenklage war die Haushälterin Hanne Gilhaus, die, 89 Jahre alt, in Osnabrück gestorben ist und die von den neun Dezennien ihres arbeitsreichen Lebens mehr als 75 Jahre im Dienste einer und derselben Familie, des Kaufmannes Karl Meyer in Osnabrück gestanden hat. Im Jahre 1873 wurde Hanne Gilhaus für vierzigjährige treue Dienste von der Kaiserin Augusta mit dem „Goldenen Kreuz“ beglückt, eine Ehrung auf die sie stolz war; zwanzig Jahre später verlieh ihr, aus Anlaß des 60-jährigen Dienstjubiläums, der Magistrat der Stadt Osnabrück Bürgerbrief und Bürgerrecht.
50 Menschen vor dem Ertrinken gerettet – ein Kapitän geht in den verdienten Ruhestand
Wie Hanne Gilhaus ist auch der Kapitän Georg Gildemeister aus Rostock ein damaliger Held des täglichen Lebens, heute vergessen. Wir setzen ihnen ein kleines Denkmal mit den Artikeln 🙂
Immerhin habe ich ihn im Rostocker Adressbuch von 1910 gefunden – er wohnte, nunmehr als „Privatier“ in der Strandstrasse 51. Das Daheim schreibt zu unserem Helden:
Fünfzig Menschen vom Tode des Ertrinken gerettet hat der jetzt in den Ruhestand getretene Kapitän Georg Gildemeister in Rostock. Schon als Steuermannsschüler erhielt er eine öffentliche Belobigung und eine klingende Belohnung von fünf Talern für die Rettung von zwei im Eise Eingebrochenen.
Die meisten Rettungen aber führte er später aus, als er im Dienst der Rostocker Kaufmannschaft täglich am Hafen zu tun hatte. Meistens handelte es sich um Kinder, die beim Spielen in den Rostocker Hafen gestürzt waren, weiter um Arbeiter und Seeleute, die dort ihre Arbeit hatten. Er geriet hierbei selbst öfter in die größte Lebensgefahr und zog sich in einem andern Fall eine sehr langwierige, schwere Krankheit zu. Trotzdem war er mit seiner Hilfe immer wieder bereit.-
Immer wieder bereit bin ich für spannende Geschichten und Ereignisse, die 1909 passierten und in den monatlichen Ausgaben von „Was geschah vor 110 Jahren“jeweils am Anfang des Monats erscheinen werden. Ich hoffe, Ihr auch!
Bei Recherchen zum Postscheck-Thema stieß ich auf diese Karte, die zu gut passt! Ich wünsche Euch:
…und auch im neuen Jahr: sittlichen Ernst bewahren, das Leben nicht nur (wie der Kaiser es mußte) der Pflicht widmen und mit vielen persönlichen schönen Momenten anreichern!
Herzlichst
Eure Grete