Abseits der großen Landstraße – Leben im Odenwald

 In Alltagsleben, Erlebnisbericht, Gastbeitrag, Landleben, Unkategorisiert, Zeitgeschehen

Ein Gastartikel von Manfred Göbel

1907 fotografierte der Darmstädter Arzt und Odenwaldforscher Dr. Friedrich Maurer in Hammelbach die Familie des Rechenschnitzers Philipp Schmitt beim Mittagessen. Die Familie Schmitt gewährte damit dem Fotografen – und letztlich dem heutigen Betrachter – Einblick in ihren privaten Bereich, in ihre Wohnung und bei einem alltäglichen Geschehen. Es zeigt, wie nah die fotografierten Personen Maurer an ihr Leben heranließen. Das gilt auch für den Flickschuster Valentin Schäfer, den Maurer in der gleichen Zeit in Ober-Ostern fotografierte. Seine Werkstatt war zugleich sein Wohn- und Schlafraum.

Diese Fotos sind charakteristisch für die Forschungen von Friedrich Maurer. Als er im Oktober 1907 unter dem Titel „Von Land und Leuten im Odenwald“ eine Mappe mit 25 Photographien veröffentlichte, zeigte er im Vorwort seine Zielsetzung auf:

[Diese Aufnahmen] führen uns in den Odenwald abseits der großen Landstraße. Sie wollen uns in erster Linie mit dem Leben seiner Bewohner bekannt machen und [suchen] manches Volkstümliche, das die wandelvolle Zeit unbarmherzig hinwegfegt, wenigstens im Bilde zu erhalten…“

Dies zeigt Maurer als einen Vertreter der „Heimatbewegung“, die im ausgehenden 19. Jahrhundert als Reaktion auf den zunehmenden Prozess der Industrialisierung und Verstädterung entstanden war. Sie brachte eine Vielzahl von Initiativen hervor, die eine Entfremdung der Menschen von der Natur befürchteten und versuchten, aussterbende Lebensart und aussterbendes Brauchtum zu bewahren oder zumindest zu dokumentieren. Dazu zählte auch der Odenwaldklub, der 1882 als „Odenwälder Höhen-Club“ gegründet worden war. Er engagierte sich neben seinen Hauptaufgaben, dem Wandern und dem touristischen Erschließen des Odenwaldes, auch für die Volkskunde. Friedrich Maurer, der der „Section Darmstadt“ des Odenwaldklubs angehörte und in deren Vorstand mitarbeitete, fand hier wichtige Anstöße zu seinen Odenwaldforschungen.

Als sich Maurer der Erforschung des Odenwaldes zuwandte, war er bereits ein weitgereister Mann. Er hatte viele Länder Europas besucht, war im Nahen Osten, in Russland, in den USA und in Kanada. Von diesen Reisen, bei denen er stets seine Kamera mit sich führte, brachte er zahlreiches Bildmaterial mit, mit dem er Vorträge gestaltete. So berichtete das Darmstädter Tagblatt am 14. Februar 1912, dass “einer der beliebtesten Redner des Odenwaldklubs, Herr Sanitätsrat Friedrich Maurer, im Gartensaale des Städtischen Saalbaues [sprach] … unterstützt durch eine Fülle schöner und lehrreicher Lichtbilder”. Und noch im September 1932 meldete die “Dorflinde”, die Zeitschrift des Odenwaldklubs, dass Maurers “prächtige Lichtbildervorträge … heute noch stets gern besucht [sind].

Ab 1907 durchstreifte er Dörfer und Weiler und hielt Landschaft und Brauchtum, Handwerk und Hausgewerbe im Bild fest. Ausflüge mit dem Odenwaldklub boten ihm gute Anknüpfungsmöglichkeiten, um vor Ort mit Menschen in Kontakt zu kommen und deren Vertrauen zu gewinnen.

„Anfangs zurückhaltend, aber niemals abstoßend, freuen sie sich, sobald sie merken, daß man ihrem Tun und Treiben, ihrer Person ein ernstes Interesse entgegenbringt“,

schrieb Maurer 1914 in seinem Buch „Unser Odenwald. Ein Kulturbild aus alter und neuer Zeit“ über diese Kontakte.

Überregionale Bedeutung erhalten die Fotografien Maurers durch die Bilder, die Menschen bei der Arbeit zeigen. Dies gilt insbesondere für seine Dokumentation des Odenwälder Handwerks, darunter Tätigkeiten, die bereits zu seiner Zeit kaum oder nicht mehr ausgeübt wurden. Dazu gehörte die Arbeit des Pumpenmachers Friedrich Stühlinger in Reinheim, dessen Holzrohre durch eiserne Wasserleitungen und gusseiserne Pumpen weitgehend überflüssig wurden.

ebenso wie die des Grobschmieds Adam Kredel II. in Traisa, der auf dem Bild aus dem Jahr 1910 mit Hilfe von Georg Mager aus Ernsthofen am Amboss einen Bohrer fertigt. Vor dem Amboss liegen fertige Bohrer, eine Schaufel und ein Schabeisen – Arbeitsgeräte, die zunehmend industriell gefertigt wurden.

Ganz im Sinne der „Heimatbewegung“ schrieb Maurer dazu 1914 in dem von ihm veröffentlichten Bildband:

„Auch im Odenwald hat der Zug der ländlichen Arbeitskräfte nach der Stadt, nach den Fabriken, die überhandnehmende Nachahmung städtischer Einrichtungen und Gepflogenheiten, die billigere fabrikmäßige Herstellung der Gebrauchsgegenstände ein gut Teil altländlicher Betriebe in Landwirtschaft und Gewerbe allmählich abnehmen oder ganz verschwinden lassen und auch im Hauswesen das charakteristische Gepräge bäuerlich altväterlichen Wesens vielfach verwischt.“

Maurer legte großen Wert auf die genaue Darstellung der Tätigkeiten und der Werkstätten. Für die Aufnahme bei dem Klein-Zimmerner Schachtelmacher Sachs ist überliefert, dass die Werkstatt umgeräumt und das Bild somit so arrangiert wurde, dass es mehrere Arbeitsschritte zeigt.

Bei seinen zahlreichen Wanderungen galt Maurers Interesse nicht nur der fotografischen Dokumentation von Leben und Arbeit im Odenwald. Sein Bestreben war auch, Handwerkszeug und Gebrauchsgegenstände sowie Werkstatt- und Wohnungseinrichtungen zu erwerben und nach Darmstadt zu bringen.

Diese Sammlung stellte Maurer der Stadt Darmstadt für das Stadtmuseum zur Verfügung, das am 23. November1909 eröffnet wurde. Friedrich Maurer hat den Aufbau seiner Sammlung im Stadtmuseum selbst durchgeführt, die Ausstellungsstücke durch seine Photographien ergänzt und mit Erläuterungen versehen. Er verfasste auch einen Führer durch die Odenwald-Sammlung, der im Dezember 1909 erstmals erschien. 1935 zog das Stadtmuseum und mit ihm die Odenwald-Sammlung um. Das Museum wurde in dem aus dem 17. Jahrhundert stammenden Pädagog, das seit 1934 nicht mehr als Schulhaus diente, neu eingerichtet.

Friedrich Maurer verstarb am 28. Dezember 1939 im Alter von 87 Jahren. Fünf Jahre nach seinem Tod wurde Darmstadt in der Nacht vom 11. zum 12. September 1944 im Bombenhagel der Brandnacht zerstört und mit dem Pädagog auch Maurers Odenwald-Sammlung vernichtet. Alles, was er bei seinen Wanderungen und Forschungen im Odenwald erwerben und zusammenstellen konnte, und was er damit auch bewahren wollte, verbrannte in dieser Nacht.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten Maurers Fotografien weitgehend in Vergessenheit, bis 1981 ein Reprint seiner Veröffentlichung von 1914 erschien. Ebenfalls Anfang der 1980er Jahre entdeckte Otto Weber, Vorsitzender des Vereins für Heimatgeschichte in Ober-Ramstadt und Leiter des dortigen Museums, bei der Vorbereitung einer Ausstellung über den Odenwaldklub Ober-Ramstadt drei Fotoalben mit 724 Photographien Maurers im Archiv des Darmstädter Odenwaldklubs. Maurer hatte die ersten beiden Alben 1913 zusammengestellt und mit folgendem Vorwort versehen:

„Die vorliegenden Bilder sind das Ergebnis meiner Odenwaldwanderungen seit 1907, sie sollen der Heimatforschung unseres Odenwaldes dienen.“

Das dritte Album enthält Fotos aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg; Maurer hat die Arbeit daran offensichtlich nicht zu Ende geführt. Die drei Fotoalben schenkte er „Dem Odenwaldklub Section Darmstadt zu Weihnachten 1934“, und es ist der Verdienst des Odenwaldklubs Darmstadt, diese über die Zeit bewahrt zu haben.

Diese drei Fotoalben sind das Einzige, was von Maurers umfangreicher Odenwaldforschung erhalten geblieben ist. Wir wissen nicht, wie viele Fotos Maurer tatsächlich gemacht hat. Dass er für die Fotoalben eine Auswahl getroffen hat, zeigt bereits ein Vergleich mit den Bildern, die er 1914 veröffentlichte. Die bleibende Bedeutung seiner Forschungen formulierte der Hauptvorstand des Odenwaldklubs in einem Nachruf, der im Januar 1940 in der „Dorflinde“ veröffentlicht wurde:

„Für die Geschichte des Odenwälder Handwerks, vor allem der zahlreichen, mittlerweile meist ausgestorbenen Hausgewerbe, … sind Maurers Aufnahmen und Aufzeichnungen für immer eine Quelle reichster Belehrung, in vielen Fällen die einzige. – Alle, die ihn kannten und den Vorträgen des weitgereisten, fesselnden Redners lauschten oder mit ihm in froher Geselligkeit und Zwiesprache zusammen sein durften, waren immer erstaunt von seinem umfassenden Wissen in den Dingen der Heimat und ihrer Geschichte, immer aber auch gefangen von dem Zauber seiner freundlichen, lebensbejahenden Art.“

Die Fotos sind folgender Veröffentlichung entnommen:

Manfred Göbel, Leben und Arbeiten im hessischen Odenwald. Eine historische Bilderreise. Sutton-Verlag Erfurt 2019. 128 Seiten, ca. 160 Abbildungen, Hardcover (19,99 Euro)

 

 

 

 

Über den Autor:
Dr. Manfred Göbel, geboren 1954, Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und katholischen Theologie, Promotion in Kirchengeschichte, zuletzt Leiter der Edith-Stein-Schule in Darmstadt; Mitglied der Hessischen Historischen Kommission; mehrere regional- und kirchengeschichtliche Publikationen im Bereich Darmstadt und im Bistum Mainz.

Dieser Artikel ist in der Reihe „Das Landleben Anfang des 20. Jahrhunderts“ veröffentlicht wurden. Weiterhin erschienen ist dazu diese Einführung sowie der Beitrag „Vergessene Zeugen des Alpenraums„.

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  • Daphnis
    Antworten

    Vielen Dank für diesen spannenden Beitrag, den ich mich grossem Interesse gelesen habe. Liebe Grüsse aus der Schweiz.

    • Grete Otto
      Antworten

      Vielen Dank für das positive Feedback, was ich gerne an den Gastautor weiterleite! Herzlicher Gruß Grete

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