Reuß älterer Linie – der kleinste Bundesstaat
Wir befinden uns im Jahre 1900 nach Christi. Ganz Deutschland wird von den Preußen dominiert. Ganz Deutschland? Nein! Ein unbeugsamer Fürst eines von Thüringern bevölkerten Fürstentums hört nicht auf, dem Kaiser Wilhelm II. Widerstand zu leisten.
Nun ja, nicht ganz. Der regierende Fürst Heinrich XXII. hatte sich bei der Gründung des Deutschen Reichs mit seinem Fürstentum zwar notgedrungen untergeordnet, blieb aber bis zu seinem Tod 1902 ein Gegner des so geeinigten Reiches und Widersacher des preußischen Kaisers Wilhelm II.
Ironie der Geschichte – seine Tochter Hermine wurde die zweite Frau des Kaisers, er heiratete sie 1922, nachdem seine erste Frau Kaiserin Auguste Victoria 1921 gestorben war.
Im kleinen Fürstentum Reuß älterer Linie lief halt schon immer alles ein bisschen anders ab. Dort wurden Landtagssitzungen in Gasthöfen abgehalten, eine Verfassung beschlossen, die dann nie in Kraft trat und es gab schon Anfang des 20. Jahrhunderts Inklusion: Der aufgrund eines Unfalls geistig behinderte Fürst (er wurde durch den Fürstenregenten der nahen Verwandtschaft Reuß jüngerer Linie vertreten) trat im öffentlichen Leben auf und war beim Volk beliebt und geachtet. Und es war der einzige Bundesstaat, der im Kaiserreich schuldenfrei war (zumindest bis 1914).
Das kleinste Fürstentum befand sich auf dem heutigen Gebiet des Bundeslandes Thüringen, eingegrenzt von den damaligen Bundesstaaten Preußen, Bayern, Schwarzburg-Rudolstadt und Sachsen.
Das Land hatte ingesamt 72 600 Einwohner. Davon wohnten ca. 23. 000 in der Residenzstadt Greiz (Zahlen von 1910) und 10.400 in Zeulenroda (Zahlen von 1910), der zweiten Stadt.
So überschaubar die Größe von Greiz, der Hauptstadt, war und ist, gab es einst noch ein „Untergreiz“ und „Obergreiz“, die teilweise sogar von verschiedenen Herrschern regiert wurden. Davon zeugen noch die zwei gut erhaltenen Schlösser, ein „Unteres“ und ein „Oberes“, die heute als Museen fungieren.
Aber von Anfang an – schon der Name schlägt vor, dass es noch mindestens eine andere Linie der Herrschaft Reuß geben muss. Gehen wir also kurz zurück in die Geschichte:
Als ältester urkundlich erwähnter Urvater der Familie der Heinrichinger, aus der die „Reuß“-Linie hervorging, gilt Erkenbert, seines Zeichens Vogt von Weida, dessen Linie von Kaiser Heinrich VI weitreichende Privilegien erhielt. Man sagt, dass aus diesem Grund alle männlichen Nachfahren den Vornamen „Heinrich“ führen. Durch alle Jahrhunderte wurde das so gehandhabt – bis heute! Was die Entstehung des Namens „Reuß“ angeht, wird vermutet, dass er sich von altdeutschen Bezeichnung für „der Russe“ (Reusse=Russe) herleitet, aber welche russische Verbindung genau zu diesem Namen führte, ist nicht überliefert.
Ein Vogt war zunächst eine Art Verwalter, der vom Kaiser für ein bestimmtes Gebiet eingesetzt wurde. Die Vögte von Weida, Plauen und Greiz stiegen in der kaiserlichen Gunst rasch auf auf und bekamen Anfang des 14. Jahrhunderts vom Kaiser ihre Privilegien mit der „Goldenen Bulle des Vogtlandes“ großzügig bestätigt. Durch das Land der Vögte kam übrigens der Landstrich „Vogtland“ zu seinem Namen. 1564 teilten die Reußen ihren Stamm in drei Gebiete auf, die auch unterschiedlich benannt wurden: Obergreiz bekam die mittlere Linie Reuss, Untergreiz die ältere Linie und Gera die jüngere Linie Reuss.
Auf alle regierenden „Heinrichs“ in den verschiedenen Jahrhunderten einzugehen, würde den Rahmen sprengen. Deshalb greifen wir die Herrscher und Zeiten heraus, die für die Entwicklung des kleinen Fürstenstaates wichtig waren.
Fürst Heinrich XI. (1722-1800): Schöngeist & Visionär
Die Linien „Obergreiz“ und „Untergreiz“ mit ihren verschiedenen Herrschern existierten bis 1768. Dann erlosch die Untergreizer Linie und der Obergreizer Fürst Heinrich XI. übernahm diese Linie mit dem dazugehörigen Unteren Schloss. Als junger Mann hatte er am pietistisch geprägten Köstritzer Hof seines Vormundes, Graf Heinrich XXIV. zu Reuß-Köstritz, eine hervorragende Bildung genossen und wurde auch mit den Idealen der Aufklärung vertraut gemacht. Seine Kavaliersreise führte ihn durch Frankreich, Schweiz, Italien und auch weitere deutsche Staaten.
Doch was genau war eine „Kavaliersreise“? So wurden Bildungsreisen zum Abschluss der Ausbildung genannt, die für Adelige und später auch für das gehobene Bürgertum obligatorisch waren. Meist führten sie ins Ausland, sehr oft nach Italien.
Am Köstritzer Hof lernte Heinrich XI. wohl auch seine spätere Frau Conradine kennen, die Tochter seines Vormundes, die er 1743 heiratete und mit der er später 11 Kinder bekommen sollte. Im gleichen Jahr trat er die Herrschaft in Obergreiz an. Dort baute er das Schloss zu einem prunkvollen Herrschaftssitz um und eine Hofbibliothek auf, die dem Gedankengut der Aufklärung folgte.
Nach der Übernahme der Untergreizer Linie gelang es Heinrich XI. nach mehreren Versuchen 1778 schließlich, vom römisch-deutschen Kaiser Joseph II. in Wien in den erblichen Reichsfürstenstand erhoben zu werden. Dieser Stand bedeutete eine rechtliche Sicherheit für die regierenden Fürsten. Dies sollte später für die Souveränität des kleinen Staates noch wichtig werden.
Der fortschrittlich eingestellte Fürst förderte eine höhere Schule in seinem Fürstentum und auch die Gründung eines Priester- und Schullehrerseminars. 1793 wurde seine 50-jährige Herrschaft noch festlich begangen, 1800 verstarb Heinrich XI. und wurde unter großer Anteilnahme vom Volk und Adel begraben.
Fürst Heinrich XIII. (1747-1817): Stratege in Militär und Politik
In den ersten Jahren seiner Regentschaft erschütterten zwei Feuerkatastrophen die Stadt: 1802 wurde ein Großteil der Stadt Greiz, die Kirche und das untere Schloss durch einen verheerenden Brand zerstört, 1804 wurden bei einem zweiten Brand weitere Häuser des Städtchens zerstört. Heinrich XIII. reagierte pragmatisch in zweierlei Hinsicht. Er erließ 1804 eine „provisorische Feuerordnung“, die zukünftige Feuer verhindern sollte. Das klappte nicht ganz, auch später gab es noch verheerende Brände in Greiz. Zum Wiederaufbau der Kirche ließ Heinrich XIII., der gleichzeitig auch Landesbischof der evangelischen Kirche war, die Zinksärge seiner Ahnen einschmelzen und davon die Ziegel für die neue Kirche kaufen – natürlich in der fürstlichen Ziegelei. Nach dem 2. Brand sprang seine Frau Wilhelmine Louise ein und spendete den Opfern – immerhin verloren über 30 Familien ihr Heim – 100 Taler aus ihrer Privatschatulle.
Auch das untere Schloss wurde in einem spätklassizistischen Stil wieder aufgebaut, ab 1809 wurde es zum Wohnsitz der fürstlichen Familie und das obere Schloss war der offizielle Dienstsitz der Landesregierung.
Heinrich war bei den kriegerischen Auseinandersetzungen, in der die deutschen Staaten und andere Länder in dieser Zeit verwickelt waren, ein geschickter Taktierer. Dabei ging es vor allem um die Sicherung und Souveränität des eigenen Territoriums. Vor allem deshalb trat er 1806 dem Rheinbund bei und kämpfte an der Seite von Frankreich. Als der Krieg nach der Völkerschlacht in Leipzig (hier geht es zum Bericht über das Völkerschlachtdenkmal) verloren war, geriet das Land 1813 kurz unter sächsische Vormundschaft. Diese wurde allerdings schon 1814 wieder gelöst und er war wieder Regent seines Landes. Die guten Verbindungen zum kaiserlichen Hof in Wien wurden von ihm zu allen Zeiten intensiv gepflegt. Heinrich XIII. war schon 1766 in die kaiserlich-österreichische Armee eingetreten und während der Einsätze zu seiner Dienstzeit sehr erfolgreich aufgestiegen – vor seinem ersten Ausscheiden war er immerhin zum Generalfeldmarschall-Leutnant befördert wurden!
Am Wiener Kongress 1814/15 nahm er als Beobachter teil. Wahrscheinlich auch durch die guten Beziehungen zu Österreich und den Habsburgern profitierte sein Fürstenstaat bei der Neuaufteilung Europas – von Sachsen gewann er 3 Dörfer, ein Gehöft und ein Waldgebiet hinzu!
1815 trat Reuß älterer Linie dem Deutschen Bund bei. Es sollte die letzte weitreichende politische Entscheidung des Fürsten sein, der 1817 starb.
Dazwischen: Ein Blick ins Land
Bevor wir uns dem letzten regierenden Fürsten widmen, werfen wir einen Blick in das Land – wie sah es im 19. Jahrhundert dort aus? Geld wurde vor allem mit Wolle verdient – 1850 gab es immerhin 84 gewerbliche Unternehmen, Tendenz steigend. Dass die Wirtschaft prosperierte, zeigen auch die Einwohnerzahlen des Landes: sie wuchsen von 1837 bis 1868 von ca. 31.500 auf knapp 44.000 – ein Anstieg um 40 Prozent! Gründe waren nicht nur der allgemeine Bevölkerungszuwachs durch Kinder, sondern auch die Binnenwanderung von den umliegenden Ländern wie Königreich Sachsen und Großherzogtum Weimar-Eisenach. In der zweiten Hälfte setzte dann verstärkt die Industrialisierung ein: Die Handwebereien wurden dabei immer mehr durch Textilfabriken nach englischem Vorbild ersetzt. 1862 wurde der erste mechanische Webstuhl eingeführt, 1868 waren es schon 200 dieser Art, an denen gearbeitet wurde. Mit dem Eisenbahnanschluß Greiz – Brunn 1865 sowie der Eisenbahnlinie Gera – Greiz, die es ab 1875 gab, wurde auch die entsprechende Infrastruktur geschaffen. Das Ländchen entwickelte sich zum prosperierenden Industriestaat.
Die Märzrevolution 1848 hinterließ ihre Spuren in allen deutschen Staaten – sogar in Reuß ä.L. Schon immer war das Land eher konservativ – so gab es bis dato keine Verfassung, Bauern zahlten immer noch Fronabgaben, es herrschte Zensur und Patrimonialgerichtbarkeit (die später noch erklärt wird). Das Volk des kleinen Landes war zwar nicht für seine Aufmüpfigkeit bekannt, aber auch dort fanden nach der Revolution Volksversammlungen statt und Petitionen mit Forderungen wurden überreicht. Um die Lage zu deeskalieren, musste der Fürst (zu dieser Zeit regierte Heinrich XX.) etwas tun!
Es wurde beschlossen, eine Verfassung zu verabschieden und einen Landtag zu gründen. Der erste Entwurf für die Zusammensetzung des Landtags sah jedoch so aus, dass Adelige und Rittergutbesitzer in der Mehrheit waren und die wenigsten der vorgesehenen 12 Mitglieder frei gewählt werden konnten, sondern meist vom Fürst, Kirche oder weiteren Obrigkeiten bestimmt wurden. Das kam beim Volk nicht gut an. Weil man einen Aufstand vermeiden wollte, kam es zum Vorschlag und schließlich der Bildung eines „Beratungslandtags“. Dieser sollte zwar auch aus 12 Abgeordneten bestehen, jedoch wurden neun davon frei gewählt. Die Wahlbeteiligung für den neuen Landtag war niedrig und es verging noch einige Zeit, bis es im Juni 1849 zur ersten Sitzung des Landtags kam – und zwar im Gasthof „Zum Erbprinzen“. Nach weiteren Sitzungen (ob sie auch im Gasthof stattfanden ist nicht überliefert) kam es 1851 zur Verabschiedung eines Verfassungsentwurfs. Er enthielt den Grundrechte-Katalog der Paulskirchen Verfassung und einen frei gewählten Landtag. Heinrich XX. mußte diesen Entwurf nur noch genehmigen – was er aber nie tat. Und so blieb das Land weitere 16 Jahre bis 1867 ohne Verfassung. Erst dann wurde durch Fürst Heinrich XXII. eine Verfassung erlassen (sie blieb bis 1918 in Kraft) und der Greizer Landtag erschaffen. Übrigens tatsächlich mit 12 Abgeordneten, von denen 3 vom Fürsten ernannt wurden, 2 von Rittergutbesitzern sowie den größten Bauern bestimmt und der Rest in drei städtischen (Greiz, Zeulenroda, Burgk) und vier ländlichen Wahlkreisen indirekt gewählt wurden.
Damit war Reuß ä.L. das letzte Land Thüringens, in dem eine konstitutionelle Monarchie geschaffen wurde – diese Regierungsform sollte auch das spätere Kaiserreich haben.
Der letzte der Linie: Fürst Heinrich XXII. „Der Unartige“ – Kampf zwischen Tradition und Modern
Die Eltern des Fürsten waren Fürst Heinrich XX. (welcher die 1. Verfassung nie genehmigt hatte) und Caroline von Hessen-Homburg. Beide hatten 1839 geheiratet und Heinrich XXII. war zweitältester Sohn, geboren 1846 (für alle, die mitgezählt haben, der älteste Sohn Heinrich XXI. verstarb 1844 bei der Geburt). Er war noch nicht mündig, als 1859 sein Vater starb. So übernahm seine Mutter Caroline die Regentschaft als sein Vormund. Wie auch frühere regierende Fürsten fühlte sich auch Caroline mehr zu Österreich als zu Preußen hingezogen. Das kleine Fürstentum war Mitglied im Deutschen Bund, dessen Territorium alle deutschen Staaten von der Ostsee bis zur Adria umfasste. Der ständige Bundestag des Deutschen Bundes tagte in Frankfurt/Main. Und so kam es, dass beim Krieg des Deutschen Bundes gegen Preußen (auch Deutscher Krieg genannt) 1866 Reuß älterer Linie an der Seite von Österreich, den Süddeutschen Staaten, Sachsen und den anderen Bundesgenossen des Deutschen Bundes gegen Preußen kämpfte. Mit der Niederlage der Österreicher und Sachsen in der Schlacht bei Königgrätz etablierte sich Preußen als europäische Großmacht.
Auf der Verliererseite stand auch Reuß ä.L. Preußen besetzte den kleinen Fürstenstaat mit 400 Mann und 50 Geschützen, um ihn zu annektieren. Nur durch viel diplomatisches Geschick und die Interventionen der jüngeren Reuß-Linie sowie des Großherzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach, die auf der Siegerseite gekämpft hatten, konnte Reuß älterer Linie als eigenständiger Fürstenstaat erhalten bleiben, ansonsten wäre er in Preußen aufgegangen. Zu den Bedingungen gehörte, dass Caroline abdankte und ihr Sohn Heinrich XXII. übernahm. Außerdem gab es eine Strafe von 100.000 Talern – 50.000 Taler davon zahlte die Fürstenfamilie aus der Privatschatulle. Nur folgerichtig war einer seiner ersten Aktivitäten, 1867 dem norddeutschen Bund beizutreten.
Neben der Änderung der Staatsform zur konstitutionellen Monarchie führte der junge Fürst auch weitere Neuerungen ein: Die von Fabrikanten geforderte Gewerbefreiheit löste das bis dato herrschende Zunftwesen ab, die Patrimonialgerichtbarkeit wurde abgeschafft – d.h. es gab die vom Mittelalter überlieferte Gerichtbarkeit von Adeligen unabhängig vom Staat nicht mehr, sondern es wurde eine unabhängige Justiz geschaffen, die für alle galt und die auch von der Verwaltung des Landes getrennt wurde. Auch mit dieser Entscheidung war man nicht gerade früh dran, in den meisten anderen Staaten war die Patrimonialgerichtbarkeit schon Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschafft worden.
Als es dann 1871 zur Gründung des Deutschen Reiches kam, war Reuß ä.L. als kleinster Bundesstaat mit dabei – wenn auch nur unter Vorbehalt! In einem Brief an seinen Vertrauten König Johann von Sachsen bringt Heinrich XXII. sein Unbehagen gegen die Vormachtstellung der Preußen und ihre Dominanz zum Ausdruck – er persönlich bevorzugt die Konstellation des (lockereren) Deutschen Bundes mit föderalen Strukturen. Natürlich ging es dabei auch immer um die eigene Macht, die durch die neuen Strukturen des Kaiserreichs eher geringer wurde. Letztlich stimmte er aber der Gründung des deutschen Reichs zu, wie wir wissen.
In der Folge bewies er jedoch mit seiner Stimmabgabe im Bundesrat immer wieder, dass auch kleine Staaten ein Wörtchen mitzureden haben und damit die Großen durchaus ärgern können. So stimmte er gegen die als „Kulturkampf“ bekanntgewordenen Gesetze, mit der Preußen 1874 die Macht der katholischen Kirche eindämmen wollte. 1875 stimmte der sehr christlich gesinnte Heinrich XXII, der in Personalunion auch Landesbischof war, gegen die Zivilehe, also die obligatorische Eheschließung im Standesamt, die dann in Deutschland eingeführt wurde. Wie seine Stellung als Fürst war für ihn auch die Ehe „als göttliche Institution“ ausschließlich von Gott bestimmt. Natürlich ging es bei solchen Fragen auch immer um die eigene „gottgebene“ Stellung und Macht, die genauso wenig wie die Eheschließung durch die Kirche in Frage gestellt werden sollte.
Ein „Coup“ war 1877 seine entscheidende Gegenstimme bei der Bestimmung des Standorts des Reichsgerichts, so dass die Entscheidung für Leipzig in Sachsen, welches ihm als Staat mit seinen gleichfalls konservativen Ansichten näher lag, und nicht für das von Preußen gewünschte Berlin fiel. Weiterhin stimmte der Fürst 1878 als Einziger (!) gegen die Sozialistengesetze, welche die sozialdemokratische Partei an ihrem Aufstieg hindern sollten. Das Fürstentum war (etwas überraschend) eine Hochburg der Sozialdemokratie. Der Fürst fand diese Entwicklung zwar auch „gefährlich“, glaubte jedoch nicht, dass sie sich durch repressive Gesetze verbieten ließe. Daraufhin brach Preußen die diplomatischen Beziehungen zu Reuß ä. L. ab.
In der Zwischenzeit, genauer 1872, hatte der Fürst Ida zu Schaumburg-Lippe geheiratet – das erste Kind, Heinrich XXIV. und somit Nachfolger wurde 1878 geboren, es folgten fünf Schwestern. Nach der Geburt der jüngsten Tochter verstarb seine Ehefrau Fürstin Ida unerwartet. Es war wohl eine Liebesheirat gewesen und die Ehe glücklich. Ein Schicksalsschlag (wahrscheinlich vor dem Tod seiner Frau) war die geistige Behinderung des ältesten und einzigen Sohnes, die wohl durch eine mißlungene medizinische Behandlung zustande kam. Die Frauenzeitschrift „Dies Blatt gehört der Hausfrau“ (übrigens Vorläufer der Brigitte) erzählte im Nachruf auf Heinrich XXII. von 1902 die folgende Version, wie es zu der Behinderung kam:
„Bis in die ersten Unterrichtsjahre ein normaler Knabe, sollte er durch die Anwendung von Elektrizität vom Schielen geheilt werden. Der Arzt setzte aber einen zu starken Strom an, der Knabe stieß einen gellenden Schrei aus, und von der Stunde an waren Sprache und geistige Fähigkeiten geschwunden.“
Bis zu seinem auch recht frühen Tod 1902 mit 56 Jahren hörte Fürst Heinrich XXII. nicht auf mit seiner Opposition gegen Preußen und Kaiser Wilhelm II. So stimmte er gleichfalls gegen Beschlüsse zur Außen- und Rüstungspolitik und wurde deshalb von der preußischen Presse spöttisch als „Heinrich der Unartige“ betitelt.
Da sein Sohn nicht regierungsfähig war, wurde dieser danach zwar formal zum Fürst, die Regentschaft übernahm jedoch bis 1908 Fürst Heinrich XXIV. von Reuß jüngerer Linie und danach bis 1918 sein Sohn Heinrich XXVII. Im Zuge der Novemberrevolution erklärte er seinen Thronverzicht und Reuß ä. L. wurde zum Freistaat, der sich dann 1919 mit dem Freistaat „Reuß jüngerer Linie“ zum Volksstaat Reuß vereinigte, bevor dieser 1920 im Land Thüringen aufging.
Bei den Museen der Stadt Greiz, insbesondere Herrn Koch, dem Museumsleiter, möchte ich mich ganz herzlich für die Unterstützung bei diesem Artikel bedanken.
Einen Überblick aller Bundesstaaten und Territorien erhaltet Ihr in diesem Artikel.
Bereits erschienen sind weitere Beiträge zur Geschichte der folgenden Bundesstaaten: Großherzogtum Baden, Königreich Sachsen, Herzogtum Braunschweig und die Rheinprovinz (Teil Preußen).